"Warum sollten sich nur Rechtsextreme mit dem Text befassen?"
Der Schweizer Regisseur Milo Rau hat mit Unverständnis auf die Entscheidung des Nationaltheaters Weimar reagiert, seine Inszenierung "Breiviks Rede" doch nicht auf die Bühne zu bringen. In dem Stück liest eine Deutsch-Türkin vor, was der Norweger Anders Breivik zur Rechtfertigung seiner 77 Morde im Gerichtssaal erklärt hat.
Frank Meyer: Soll man dem rechtsextremen Mörder Anders Breivik eine Bühne geben, soll man seine Ansichten öffentlich machen? Der Schweizer Theatermacher Milo Rau meint ja. Heute Abend sollte Milo Raus Inszenierung von Breiviks Erklärung vor Gericht Premiere haben. Das Deutsche Nationaltheater Weimar hat sich aber nun gestern von diesem Projekt distanziert mit der Begründung, das Theater wolle den Argumenten von Anders Breivik nicht ein solches Podium geben. Die Inszenierung wird nun heute Abend in einem privaten Kinosaal gezeigt. Milo Rau ist ein angesehener Regisseur – in diesem Jahr war er mit seinem Projekt "Hate Radio" zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn zuerst gefragt: Was sagen Sie denn zu dieser Entscheidung des Theaters?
Milo Rau: Ja, sie kam sehr überraschend, da wir viele Monate zusammengearbeitet haben, und jetzt rufe ich hier aus dem Pressebüro des Theaters an. Also es ist überraschend, es scheint irgendwie intern etwas zu sein, was ich nicht durchschaue, mit dem Stück an sich und vor allem mit der Inszenierung.
Ich denke, man kann von Inszenierung gar nicht reden, da es die Verlesung ist einer Erklärung, die Breivik vor Gericht gehalten hat. Ich glaube nicht, dass es damit etwas zu tun haben kann, denn sogar die Sprecher der Opferverbände haben gefordert, dass man sich jetzt, wo der Prozess vorbei ist, wirklich mal mit dieser Ideologie auseinandersetzt, die dazu geführt hat. In dieser Stunde, sage ich mal, präsentiert Anders Breivik seine Ideologie komplett, also es ist ein extrem gutes Schaubeispiel.
Meyer: Aber Sie sagen, Sie sind überrascht von dieser Entscheidung des Theaters. Wie erklären Sie sich denn, dass man nach monatelanger Übereinstimmung, man will ein solches Projekt machen, dann am Tag vor der Aufführung sagt, nein, jetzt doch nicht mehr?
Rau: Wie gesagt, es sind interne Vorgänge, ich weiß es einfach nicht. Also, mit allen Leuten, mit denen ich gesprochen habe, bis auf eigentlich einen, der es dann entschieden hat, das ist der Geschäftsführer, haben mir gesagt, dass sie das seltsam finden, komisch, und nicht dafür sind, dass das nicht gemacht wird. Also wie gesagt, ich weiß es nicht – es gibt weder einen inhaltlichen Grund, noch einen inszenatorischen Grund, es ist mir unverständlich.
Meyer: Dann schauen wir auf den Theaterabend selbst: Anders Breivik hat ja am 17. April, am zweiten Prozesstag, eine etwa 70-minütige Erklärung vor Gericht abgegeben. Damals hatte ein Gericht entschieden, dass diese Aussage nicht gesendet werden darf. Hört man in Ihrer Inszenierung jetzt diese komplette Erklärung von Anders Breivik?
Rau: Genau, man hört die komplette Rede, also sie wird verlesen. Es sind öffentliche Dreharbeiten quasi zu dieser Rede, die werden einfach verlesen von der Schauspielerin Sascha Soydan. Ich habe versucht, nichts dazu zu inszenieren, sondern ganz im Gegenteil, komplett zu entdramatisieren. Also wirklich mal diese Bilder von Breivik zur Seite zu schieben, die Skandalisierung wegzuschieben und wirklich nur drauf zu gucken, was ist das eigentlich für ein Text. Was sagt dieser Mensch, wenn er eine Stunde Zeit hat, seine Ideologie zusammenzufassen, was ist das dann eigentlich?
Meyer: Und Sie lassen diesen Text lesen von einer deutsch-türkischen Schauspielerin, einer Frau, einer Deutsch-Türkin, auch um da noch einmal eine Distanzierung hineinzubringen?
Rau: Genau, um eine Distanzierung hineinzubringen, aber auch das, was ich auch will: Ich will von Breivik weg, mich interessiert dieser Mensch in diesem Moment nicht. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass es noch zu früh ist, sich mit ihm als Mensch und mit seiner Tat zu befassen – das dauert wohl immer länger, es ist aber drängend, sich mit seiner Ideologie zu befassen.
Und da geht es natürlich in dieser Besetzung um eine Distanzierung, aber auch um eine Normalisierung, weil für mich ist eine deutsch-türkische Schauspielerin, also Frau, ist jemand, der einfach aus der Mitte unserer multikulturellen Gesellschaft kommt. Ich wollte das jetzt nicht mit einem weißen Mann, der irgendwie wie Breivik aussieht, besetzen und da irgendeine Authentizität und eine Nähe zum Monster schaffen und so weiter, sondern eine möglichst kühle Bestandsaufnahme ermöglichen.
Meyer: Und es gibt diesen Text und sonst nichts, es gibt keine Zusätze, keine Einordnungen, keine anderen Texte? Man könnte sich ja vieles dazu vorstellen – es gibt nur den nackten Text?
Rau: Ja, also ich muss sagen, bevor es verschoben wurde jetzt ins Lichthauskino, gab es noch vorher und nachher Texteinspielungen, also als Lauftext, und es war noch vom Sounddesign vielleicht ein bisschen aufwendiger, aber im Grunde, im Kern, ist das tatsächlich nur die Verlesung eines Textes. Mehr nicht.
Meyer: Es gab schon am Montag eine Anders-Breivik-Premiere in einem anderen Theater in Kopenhagen. Der Regisseur Christian Lollike hat dort Auszüge aus dem Manifest, diesem über 1000-seitigen Text von Anders Breivik auf die Bühne gebracht. Und warum er, dieser dänische Regisseur, diese Texte ins Theater bringen wollte, das hat er hier bei uns im Programm so begründet.
Christian Lollike: Auf der Bühne steht ein Körper und alles wird extrem konkret. Natürlich wurde unendlich viel über Breivik geschrieben, natürlich wurde er bis in den letzten Winkel analysiert, doch indem ein Schauspieler es auf sich nimmt, Breiviks Psyche zu erforschen, kommt man dieser Tragödie sehr viel näher, als es jede Lektüre je ermöglicht.
Meyer: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Milo Rau, wollen Sie genau das nicht – Anders Breivik verkörpern, irgendwie dem Monster näher kommen, sondern Sie wollen nur auf seine Ideologie, nur auf seine Ideen schauen.
Rau: Genau, ich mache in gewisser Hinsicht das Gegenteil von Lollike, also im Gegensatz zu ihm ist es ja auch keine Dramatisierung eines Textes, sondern es ist tatsächlich die Verlesung eines Textes. Das hat damit zu tun, dass ich vielleicht auf was anderes hinaus will, also nicht die Psychologisierung, sondern tatsächlich auf Analyse. Ich finde das andere aber natürlich genau so interessant, es ist nur ein ganz anderer Zugriff.
Meyer: Als Anders Breivik seine Erklärung im April vor Gericht abgegeben hatte, da haben Angehörige der Opfer immer wieder darum gebeten, dass der Mörder da nicht eine solch große Bühne bekommt für seine Erklärung, für seine Ideologie. Wenn Sie jetzt ihm, seinen Ideen diese große Bühne wieder geben im Theater – Sie müssen das begründen, warum tun Sie das?
Rau: Also die Rede – Fakt ist, dass die Rede schon während des Gerichtsprozesses getwittert wurde. Man konnte es in deutschen Zeitschriften und überall lesen, in Auszügen, in skandalisierenden Auszügen. Das ist millionenfach verbreitet, diese Rede, ich will sie komplett auf die Bühne bringen, und zwar aus genau einem Grund: Im Grunde eignet sich nichts besser, ihn zu dekonstruieren, als komplett das abzubilden, was er gesagt hat.
Das ist eigentlich mein Zugriff, und das ist eigentlich auch die Begründung, und das ist ja auch das, was wie gesagt die Opferverbände jetzt sagen: Man sollte sofort, möglichst schnell anfangen, sich mit ideologischen Wurzeln dieser Tat zu befassen, nachdem man sich dann Jahre darüber unterhalten hat, ob er wahnsinnig ist oder nicht. Denn ob er wahnsinnig ist oder nicht, das ändert nichts daran, dass das, was er getan hat, einen direkten Zusammenhang mit seinen Ideen hat.
Meyer: Aber andererseits steht man doch immer wieder vor der Frage, wir haben einen Rechtsextremen, der Morde begangen hat, um seinen Aussagen, seiner Weltanschauung, der Gehör zu verschaffen. Und wenn Sie jetzt wiederum dieser Weltanschauung Gehör verschaffen über Ihre Theaterarbeit, dann erfüllen Sie doch praktisch den Auftrag dieses Mannes, der dafür gemordet hat.
Rau: Ich denke, gerade nicht, weil wie gesagt, diese Sache, die Rede, die finden Sie jetzt in Kopien aus dem Netz, tausendfach auf rechtsextremen Seiten, warum sollten sich nur Rechtsextreme und Rechtsnationale mit dieser Rede befassen, warum sollten nicht auch wir wissen – ich sage jetzt mal, die gesellschaftliche Mitte –, was das eigentlich für Ideen sind? Warum sollten wir uns nicht damit befassen? Ich meine, die Alternative ist, dass wir darauf warten, dass irgendwie was geschieht, aber ich denke, es ist klüger, man überlässt das nicht komplett der rechtsradikalen Szene.
Meyer: Und was machen Sie eigentlich, wenn jetzt Rechtsextreme in Ihre Vorstellung stürmen und da begeistert Beifall klatschen?
Rau: Keine Ahnung. Also wenn Sie sich dem aussetzen, dieser kompletten Rede, dann wird jedenfalls der Mythos, den sie sich vielleicht um Breivik gebaut haben, ziemlich erschüttert werden, also wenn sie wirklich hören, was er sagt. Dann wird das schwierig sein, nachher noch dazu stehen zu können. Also ich wäre interessiert daran, ich kann es mir aber irgendwie kaum vorstellen, weil – vielleicht in gewisser Hinsicht bedauerlicherweise – diese Kreise natürlich total getrennt. Da wären wir eigentlich am Anfang unseres Gespräches wieder, dass zum Beispiel das Deutsche Nationaltheater sagt, das ist uns letztlich zu politisch, uns damit zu befassen, wir zeigen lieber den "Figaro" noch mal.
Meyer: Sie haben in einem anderen Interview auch schon gesagt, Sie wollen diese Rede öffentlich machen, weil sie im Prinzip der Meinung sind, dass die Mehrheit der Deutschen und der Schweizer eigentlich so denkt im Kern, wie Breivik das in seiner Rede geäußert hat. Stehen Sie nach wie vor zu dieser These?
Rau: Ja, also das Interessante ist, das Theater hier hat diese Rede ja dann gelesen, und dann hat mir einer gesagt, von denen, die sie gelesen haben, das Beunruhigendste an dieser Rede sei, dass sie tatsächlich ein bisschen verführerisch ist, und dass es viele Punkte gibt, mit denen man übereinstimmt, sogar wenn man sich selber einredet, dass man nicht zu dieser Mehrheit gehört. Natürlich gibt es Dinge in dieser Rede, die sind zu radikal, die sind zu paranoid, die kann man nicht zugestehen. Es gibt aber sehr viele Dinge – und das betrifft auch mich als Schweizer –, sehr viele Aussagen und ein komplettes Konstrukt aus Gedanken, mit denen bei uns alle paar Monate eine Abstimmung gewonnen wird, mit guten Mehrheiten.
Meyer: Welche Aussagen sind das zum Beispiel?
Rau: Ja, jetzt beispielsweise die Aussage, dass man hier linksliberale Eliten hat, Meinungseliten, die es unmöglich machen jedem national denkenden Menschen, sich nur zu äußern, wenn man es doch tut, dann ist man böse und wird gebrandmarkt. Das betrifft viele andere Dinge, also die Vorurteile gegen die Immigration und gegen die Zuwanderung, die Angst, die eigene Kultur zu verlieren und all diese Dinge, die dann statistisch auch begründet werden von Breivik, und die statistisch auch begründet werden von diesen Mehrheiten, und die deshalb auch Abstimmungen gewinnen können, also das ist ein ganzer Komplex aus Gedanken.
Interessanterweise eben auch Gedanken, die man jetzt tendenziell eher links einordnen würde, also die Idee von: Warum dürfen eigentlich die Indigenen in Bolivien, warum haben die Sonderrechte, und warum haben die Indigenen in Norwegen, warum haben die einheimischen Deutschen und Norweger, warum haben die eigentlich keine Sonderrechte von der UNO, ist das nicht rassistisch, ist das nicht unfair?
Also der packt ein an vielen Ecken, wo man sich eigentlich safe gefühlt hat. Und das, denke ich, ist auch die Angst natürlich, das öffentlich noch mal zur Diskussion zu stellen, weil man sich dem wirklich aussetzen muss. Und dem muss man wirklich offensiv etwas entgegnen können.
Meyer: Ich frage mich gerade, ob Sie sich nicht selbst widersprechen, weil vorhin haben Sie gesagt, Sie wollen die Rede öffentlich vorführen, weil da der Mörder und Täter dekonstruiert wird und eigentlich gezeigt wird, wie wirr und unzusammenhängend das ist. Andererseits sagen Sie, es ist verführerisch und es packt uns auch.
Rau: Es ist nicht wirr und unzusammenhängend – also das auch, an gewissen Stellen natürlich, das ist ja von Notizen abgelesen worden. Aber was es vorrangig ist, es ist menschenverachtend. Und natürlich ist es eine Entscheidung, wo man sagt, wir wollen eine Welt, in der wir alle leben, oder wir wollen das nicht. Und wenn man wie Breivik sagt, man will das nicht, dann will ich mal sagen, dass das ganze Konstrukt, das er baut, eben verführerisch und in sich auch konsistent ist.
Aber die politische Grundannahme, oder - ich sage mal - die humane Grundannahme, wenn man die nicht teilt, und wenn man merkt, dass man die nicht teilt, durch die Verlesung, dass man die eigentlich auch nicht teilen darf, wenn man in einer menschlichen Welt leben will, oder sinnvollerweise nicht teilen darf, dann findet diese Dekonstruktion statt.
Meyer: "Breiviks Erklärung", diese Theaterarbeit von Milo Rau wird heute in Weimar gezeigt, eine zweite Vorstellung wird es dann am 27. Oktober in Berlin geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Milo Rau: Ja, sie kam sehr überraschend, da wir viele Monate zusammengearbeitet haben, und jetzt rufe ich hier aus dem Pressebüro des Theaters an. Also es ist überraschend, es scheint irgendwie intern etwas zu sein, was ich nicht durchschaue, mit dem Stück an sich und vor allem mit der Inszenierung.
Ich denke, man kann von Inszenierung gar nicht reden, da es die Verlesung ist einer Erklärung, die Breivik vor Gericht gehalten hat. Ich glaube nicht, dass es damit etwas zu tun haben kann, denn sogar die Sprecher der Opferverbände haben gefordert, dass man sich jetzt, wo der Prozess vorbei ist, wirklich mal mit dieser Ideologie auseinandersetzt, die dazu geführt hat. In dieser Stunde, sage ich mal, präsentiert Anders Breivik seine Ideologie komplett, also es ist ein extrem gutes Schaubeispiel.
Meyer: Aber Sie sagen, Sie sind überrascht von dieser Entscheidung des Theaters. Wie erklären Sie sich denn, dass man nach monatelanger Übereinstimmung, man will ein solches Projekt machen, dann am Tag vor der Aufführung sagt, nein, jetzt doch nicht mehr?
Rau: Wie gesagt, es sind interne Vorgänge, ich weiß es einfach nicht. Also, mit allen Leuten, mit denen ich gesprochen habe, bis auf eigentlich einen, der es dann entschieden hat, das ist der Geschäftsführer, haben mir gesagt, dass sie das seltsam finden, komisch, und nicht dafür sind, dass das nicht gemacht wird. Also wie gesagt, ich weiß es nicht – es gibt weder einen inhaltlichen Grund, noch einen inszenatorischen Grund, es ist mir unverständlich.
Meyer: Dann schauen wir auf den Theaterabend selbst: Anders Breivik hat ja am 17. April, am zweiten Prozesstag, eine etwa 70-minütige Erklärung vor Gericht abgegeben. Damals hatte ein Gericht entschieden, dass diese Aussage nicht gesendet werden darf. Hört man in Ihrer Inszenierung jetzt diese komplette Erklärung von Anders Breivik?
Rau: Genau, man hört die komplette Rede, also sie wird verlesen. Es sind öffentliche Dreharbeiten quasi zu dieser Rede, die werden einfach verlesen von der Schauspielerin Sascha Soydan. Ich habe versucht, nichts dazu zu inszenieren, sondern ganz im Gegenteil, komplett zu entdramatisieren. Also wirklich mal diese Bilder von Breivik zur Seite zu schieben, die Skandalisierung wegzuschieben und wirklich nur drauf zu gucken, was ist das eigentlich für ein Text. Was sagt dieser Mensch, wenn er eine Stunde Zeit hat, seine Ideologie zusammenzufassen, was ist das dann eigentlich?
Meyer: Und Sie lassen diesen Text lesen von einer deutsch-türkischen Schauspielerin, einer Frau, einer Deutsch-Türkin, auch um da noch einmal eine Distanzierung hineinzubringen?
Rau: Genau, um eine Distanzierung hineinzubringen, aber auch das, was ich auch will: Ich will von Breivik weg, mich interessiert dieser Mensch in diesem Moment nicht. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass es noch zu früh ist, sich mit ihm als Mensch und mit seiner Tat zu befassen – das dauert wohl immer länger, es ist aber drängend, sich mit seiner Ideologie zu befassen.
Und da geht es natürlich in dieser Besetzung um eine Distanzierung, aber auch um eine Normalisierung, weil für mich ist eine deutsch-türkische Schauspielerin, also Frau, ist jemand, der einfach aus der Mitte unserer multikulturellen Gesellschaft kommt. Ich wollte das jetzt nicht mit einem weißen Mann, der irgendwie wie Breivik aussieht, besetzen und da irgendeine Authentizität und eine Nähe zum Monster schaffen und so weiter, sondern eine möglichst kühle Bestandsaufnahme ermöglichen.
Meyer: Und es gibt diesen Text und sonst nichts, es gibt keine Zusätze, keine Einordnungen, keine anderen Texte? Man könnte sich ja vieles dazu vorstellen – es gibt nur den nackten Text?
Rau: Ja, also ich muss sagen, bevor es verschoben wurde jetzt ins Lichthauskino, gab es noch vorher und nachher Texteinspielungen, also als Lauftext, und es war noch vom Sounddesign vielleicht ein bisschen aufwendiger, aber im Grunde, im Kern, ist das tatsächlich nur die Verlesung eines Textes. Mehr nicht.
Meyer: Es gab schon am Montag eine Anders-Breivik-Premiere in einem anderen Theater in Kopenhagen. Der Regisseur Christian Lollike hat dort Auszüge aus dem Manifest, diesem über 1000-seitigen Text von Anders Breivik auf die Bühne gebracht. Und warum er, dieser dänische Regisseur, diese Texte ins Theater bringen wollte, das hat er hier bei uns im Programm so begründet.
Christian Lollike: Auf der Bühne steht ein Körper und alles wird extrem konkret. Natürlich wurde unendlich viel über Breivik geschrieben, natürlich wurde er bis in den letzten Winkel analysiert, doch indem ein Schauspieler es auf sich nimmt, Breiviks Psyche zu erforschen, kommt man dieser Tragödie sehr viel näher, als es jede Lektüre je ermöglicht.
Meyer: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Milo Rau, wollen Sie genau das nicht – Anders Breivik verkörpern, irgendwie dem Monster näher kommen, sondern Sie wollen nur auf seine Ideologie, nur auf seine Ideen schauen.
Rau: Genau, ich mache in gewisser Hinsicht das Gegenteil von Lollike, also im Gegensatz zu ihm ist es ja auch keine Dramatisierung eines Textes, sondern es ist tatsächlich die Verlesung eines Textes. Das hat damit zu tun, dass ich vielleicht auf was anderes hinaus will, also nicht die Psychologisierung, sondern tatsächlich auf Analyse. Ich finde das andere aber natürlich genau so interessant, es ist nur ein ganz anderer Zugriff.
Meyer: Als Anders Breivik seine Erklärung im April vor Gericht abgegeben hatte, da haben Angehörige der Opfer immer wieder darum gebeten, dass der Mörder da nicht eine solch große Bühne bekommt für seine Erklärung, für seine Ideologie. Wenn Sie jetzt ihm, seinen Ideen diese große Bühne wieder geben im Theater – Sie müssen das begründen, warum tun Sie das?
Rau: Also die Rede – Fakt ist, dass die Rede schon während des Gerichtsprozesses getwittert wurde. Man konnte es in deutschen Zeitschriften und überall lesen, in Auszügen, in skandalisierenden Auszügen. Das ist millionenfach verbreitet, diese Rede, ich will sie komplett auf die Bühne bringen, und zwar aus genau einem Grund: Im Grunde eignet sich nichts besser, ihn zu dekonstruieren, als komplett das abzubilden, was er gesagt hat.
Das ist eigentlich mein Zugriff, und das ist eigentlich auch die Begründung, und das ist ja auch das, was wie gesagt die Opferverbände jetzt sagen: Man sollte sofort, möglichst schnell anfangen, sich mit ideologischen Wurzeln dieser Tat zu befassen, nachdem man sich dann Jahre darüber unterhalten hat, ob er wahnsinnig ist oder nicht. Denn ob er wahnsinnig ist oder nicht, das ändert nichts daran, dass das, was er getan hat, einen direkten Zusammenhang mit seinen Ideen hat.
Meyer: Aber andererseits steht man doch immer wieder vor der Frage, wir haben einen Rechtsextremen, der Morde begangen hat, um seinen Aussagen, seiner Weltanschauung, der Gehör zu verschaffen. Und wenn Sie jetzt wiederum dieser Weltanschauung Gehör verschaffen über Ihre Theaterarbeit, dann erfüllen Sie doch praktisch den Auftrag dieses Mannes, der dafür gemordet hat.
Rau: Ich denke, gerade nicht, weil wie gesagt, diese Sache, die Rede, die finden Sie jetzt in Kopien aus dem Netz, tausendfach auf rechtsextremen Seiten, warum sollten sich nur Rechtsextreme und Rechtsnationale mit dieser Rede befassen, warum sollten nicht auch wir wissen – ich sage jetzt mal, die gesellschaftliche Mitte –, was das eigentlich für Ideen sind? Warum sollten wir uns nicht damit befassen? Ich meine, die Alternative ist, dass wir darauf warten, dass irgendwie was geschieht, aber ich denke, es ist klüger, man überlässt das nicht komplett der rechtsradikalen Szene.
Meyer: Und was machen Sie eigentlich, wenn jetzt Rechtsextreme in Ihre Vorstellung stürmen und da begeistert Beifall klatschen?
Rau: Keine Ahnung. Also wenn Sie sich dem aussetzen, dieser kompletten Rede, dann wird jedenfalls der Mythos, den sie sich vielleicht um Breivik gebaut haben, ziemlich erschüttert werden, also wenn sie wirklich hören, was er sagt. Dann wird das schwierig sein, nachher noch dazu stehen zu können. Also ich wäre interessiert daran, ich kann es mir aber irgendwie kaum vorstellen, weil – vielleicht in gewisser Hinsicht bedauerlicherweise – diese Kreise natürlich total getrennt. Da wären wir eigentlich am Anfang unseres Gespräches wieder, dass zum Beispiel das Deutsche Nationaltheater sagt, das ist uns letztlich zu politisch, uns damit zu befassen, wir zeigen lieber den "Figaro" noch mal.
Meyer: Sie haben in einem anderen Interview auch schon gesagt, Sie wollen diese Rede öffentlich machen, weil sie im Prinzip der Meinung sind, dass die Mehrheit der Deutschen und der Schweizer eigentlich so denkt im Kern, wie Breivik das in seiner Rede geäußert hat. Stehen Sie nach wie vor zu dieser These?
Rau: Ja, also das Interessante ist, das Theater hier hat diese Rede ja dann gelesen, und dann hat mir einer gesagt, von denen, die sie gelesen haben, das Beunruhigendste an dieser Rede sei, dass sie tatsächlich ein bisschen verführerisch ist, und dass es viele Punkte gibt, mit denen man übereinstimmt, sogar wenn man sich selber einredet, dass man nicht zu dieser Mehrheit gehört. Natürlich gibt es Dinge in dieser Rede, die sind zu radikal, die sind zu paranoid, die kann man nicht zugestehen. Es gibt aber sehr viele Dinge – und das betrifft auch mich als Schweizer –, sehr viele Aussagen und ein komplettes Konstrukt aus Gedanken, mit denen bei uns alle paar Monate eine Abstimmung gewonnen wird, mit guten Mehrheiten.
Meyer: Welche Aussagen sind das zum Beispiel?
Rau: Ja, jetzt beispielsweise die Aussage, dass man hier linksliberale Eliten hat, Meinungseliten, die es unmöglich machen jedem national denkenden Menschen, sich nur zu äußern, wenn man es doch tut, dann ist man böse und wird gebrandmarkt. Das betrifft viele andere Dinge, also die Vorurteile gegen die Immigration und gegen die Zuwanderung, die Angst, die eigene Kultur zu verlieren und all diese Dinge, die dann statistisch auch begründet werden von Breivik, und die statistisch auch begründet werden von diesen Mehrheiten, und die deshalb auch Abstimmungen gewinnen können, also das ist ein ganzer Komplex aus Gedanken.
Interessanterweise eben auch Gedanken, die man jetzt tendenziell eher links einordnen würde, also die Idee von: Warum dürfen eigentlich die Indigenen in Bolivien, warum haben die Sonderrechte, und warum haben die Indigenen in Norwegen, warum haben die einheimischen Deutschen und Norweger, warum haben die eigentlich keine Sonderrechte von der UNO, ist das nicht rassistisch, ist das nicht unfair?
Also der packt ein an vielen Ecken, wo man sich eigentlich safe gefühlt hat. Und das, denke ich, ist auch die Angst natürlich, das öffentlich noch mal zur Diskussion zu stellen, weil man sich dem wirklich aussetzen muss. Und dem muss man wirklich offensiv etwas entgegnen können.
Meyer: Ich frage mich gerade, ob Sie sich nicht selbst widersprechen, weil vorhin haben Sie gesagt, Sie wollen die Rede öffentlich vorführen, weil da der Mörder und Täter dekonstruiert wird und eigentlich gezeigt wird, wie wirr und unzusammenhängend das ist. Andererseits sagen Sie, es ist verführerisch und es packt uns auch.
Rau: Es ist nicht wirr und unzusammenhängend – also das auch, an gewissen Stellen natürlich, das ist ja von Notizen abgelesen worden. Aber was es vorrangig ist, es ist menschenverachtend. Und natürlich ist es eine Entscheidung, wo man sagt, wir wollen eine Welt, in der wir alle leben, oder wir wollen das nicht. Und wenn man wie Breivik sagt, man will das nicht, dann will ich mal sagen, dass das ganze Konstrukt, das er baut, eben verführerisch und in sich auch konsistent ist.
Aber die politische Grundannahme, oder - ich sage mal - die humane Grundannahme, wenn man die nicht teilt, und wenn man merkt, dass man die nicht teilt, durch die Verlesung, dass man die eigentlich auch nicht teilen darf, wenn man in einer menschlichen Welt leben will, oder sinnvollerweise nicht teilen darf, dann findet diese Dekonstruktion statt.
Meyer: "Breiviks Erklärung", diese Theaterarbeit von Milo Rau wird heute in Weimar gezeigt, eine zweite Vorstellung wird es dann am 27. Oktober in Berlin geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.