Warum unsere Musik so gestrig klingt
Neo-Garagenrock, Neo-Disco, Neo-Folk: Die gesamte Popmusik scheint in einem endlosen Zyklus aus Revivals und Retro-Moden gefangen zu sein. Der britische Autor und Popkritiker Simon Reynolds hält diesen ästhetischen Stillstand für ein Zeichen von Dekadenz.
Zehn Millionen Stück hat die britische Sängerin Adele inzwischen von ihrem letzten Album "21" verkauft. Damit ist sie die erfolgreichste Popmusikerin der Gegenwart – mit einer Musik, die freilich direkt aus der Vergangenheit zu kommen scheint; mit einem leidenschaftlich vorgetragenen, aber wenig originellen Retro-Soul, der sich kaum von den Hitparadenerfolgen der 60er-Jahre unterscheidet. Und Adele ist nicht die einzige Künstlerin, die mit alter Musik neue Erfolge erzielt: Schon Amy Winehouse ritt erfolgreich auf der Retro-Soul-Welle; Lady Gaga borgt ihre Beats direkt aus den 80er-Jahren; die erfolgreichste Rockband 2012 - Mumford and Sons - könnte mit der Zeitmaschine aus den Siebzigern angereist sein. Ob Mainstream oder Underground: Die gesamte Popmusik scheint in einem endlosen Zyklus aus Revivals und Retro-Moden gefangen zu sein - Neo-Garagenrock, Neo-Disco, Neo-Folk, Neo-dies, Neo-jenes ...
"Retromania" heißt das Buch, in dem der britische Autor und Popkritiker Simon Reynolds diesen eigentümlich nostalgischen, ja: geradezu posthistorisch wirkenden Zustand der aktuellen Musik beschreibt. Nach den intensiven, innovativen Epochen von den Sechzigern bis in die frühen 90er-Jahre, nach den grundstürzenden Revolutionen von Beat und Rock, Punk und New Wave, Rave und Techno hat es keine popmusikalische Bewegung mehr gegeben, die sich selbst als innovativ, originell und futuristisch betrachtet hätte.
Wenn es Innovationen gab, so waren diese technischer Natur. Doch hat gerade der Siegeszug der Digitalisierung wesentlich zum Erschlaffen des ästhetischen Fortschritts, der künstlerischen Erfindungsgabe beigetragen. Das liegt, so Reynolds, an der Ausbreitung und am Sieg der Archive: Im Internet ist jede Musik aus jedweder Epoche für jeden verfügbar geworden. Was vergangen schien, ist zum Bestandteil einer universellen Gegenwart geworden; so hat sich der gesamte Pop aus dem Kontinuum der historischen Entwicklung gelöst.
Dabei unterschlägt Reynolds nicht, dass die Retro-Moden schon immer zum Pop gehört haben: Was waren der junge Bob Dylan und die frühen Rolling Stones, wenn nicht Folk- und Blues-Revivalisten? Und in den Neunzigern bildete sich gegen den Futurismus des Techno die Retro-Mode des Grunge Rock heraus.
Dennoch hat sich etwas Grundlegendes geändert. Früher wurden die Retro-Moden von einer bewussten Ablehnung der Gegenwart angetrieben. Heute fehlt jeder Wille zur Distinktion. Zitiert wird vielmehr aus der Haltung eines unterschiedslos genießenden Connaisseurtums heraus, und oft auch schon die jüngste Vergangenheit. Die Retro-Spiralen drehen sich immer schneller, bis sich alles in einer, so Reynolds, "Hyper-Stasis" auflöst.
Klarsichtig wie kaum ein anderer Autor beschreibt er den Selbstwiderspruch unserer gegenwärtigen Kultur. Während der Alltag immer hektischer und nervöser wird, scheint die Entwicklung der Kunst zum Stillstand gekommen zu sein. "Man kann", so Simon Reynolds, "auch Dekadenz dazu sagen."
Besprochen von Jens Balzer
Simon Reynolds: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann
Aus dem Englischen von Chris Wilpert
Ventil Verlag, Mainz 2012
424 Seiten, 29,90 Euro
"Retromania" heißt das Buch, in dem der britische Autor und Popkritiker Simon Reynolds diesen eigentümlich nostalgischen, ja: geradezu posthistorisch wirkenden Zustand der aktuellen Musik beschreibt. Nach den intensiven, innovativen Epochen von den Sechzigern bis in die frühen 90er-Jahre, nach den grundstürzenden Revolutionen von Beat und Rock, Punk und New Wave, Rave und Techno hat es keine popmusikalische Bewegung mehr gegeben, die sich selbst als innovativ, originell und futuristisch betrachtet hätte.
Wenn es Innovationen gab, so waren diese technischer Natur. Doch hat gerade der Siegeszug der Digitalisierung wesentlich zum Erschlaffen des ästhetischen Fortschritts, der künstlerischen Erfindungsgabe beigetragen. Das liegt, so Reynolds, an der Ausbreitung und am Sieg der Archive: Im Internet ist jede Musik aus jedweder Epoche für jeden verfügbar geworden. Was vergangen schien, ist zum Bestandteil einer universellen Gegenwart geworden; so hat sich der gesamte Pop aus dem Kontinuum der historischen Entwicklung gelöst.
Dabei unterschlägt Reynolds nicht, dass die Retro-Moden schon immer zum Pop gehört haben: Was waren der junge Bob Dylan und die frühen Rolling Stones, wenn nicht Folk- und Blues-Revivalisten? Und in den Neunzigern bildete sich gegen den Futurismus des Techno die Retro-Mode des Grunge Rock heraus.
Dennoch hat sich etwas Grundlegendes geändert. Früher wurden die Retro-Moden von einer bewussten Ablehnung der Gegenwart angetrieben. Heute fehlt jeder Wille zur Distinktion. Zitiert wird vielmehr aus der Haltung eines unterschiedslos genießenden Connaisseurtums heraus, und oft auch schon die jüngste Vergangenheit. Die Retro-Spiralen drehen sich immer schneller, bis sich alles in einer, so Reynolds, "Hyper-Stasis" auflöst.
Klarsichtig wie kaum ein anderer Autor beschreibt er den Selbstwiderspruch unserer gegenwärtigen Kultur. Während der Alltag immer hektischer und nervöser wird, scheint die Entwicklung der Kunst zum Stillstand gekommen zu sein. "Man kann", so Simon Reynolds, "auch Dekadenz dazu sagen."
Besprochen von Jens Balzer
Simon Reynolds: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann
Aus dem Englischen von Chris Wilpert
Ventil Verlag, Mainz 2012
424 Seiten, 29,90 Euro