Warum wir an höhere Mächte glauben

Von Barbara Dobrick |
Glaube an die unterschiedlichsten Mächte ist eine starke Treibkraft des Menschen. Aber woher kommt eigentlich der Glaube? Einer, der solche Fragen stellt, ist der US-amerikanische Evolutionspsychologe Jesse Bering. In seinem Buch "Die Erfindung Gottes" versucht er, Antworten auf diese Frage zu geben.
Von Voltaire stammt der berühmte Satz: "Wenn es Gott nicht gäbe, so müsste man ihn erfinden". Das war vor 250 Jahren "solide Logik", schreibt Jesse Bering. Und der junge Evolutionspsychologe versucht zu zeigen, dass es den Menschen entwicklungsgeschichtlich handfeste Vorteile bescherte, an Gott zu glauben, und warum das so ist.

Bering dabei zu folgen, ist ein anregendes Unterfangen. Er macht uns mit allerlei Forschungsergebnissen bekannt und er schreibt in bester angelsächsischer Tradition leicht verständlich und kurzweilig.

Wie es sich für einen Evolutionspsychologen gehört, fängt Bering nicht bei Adam und Eva an, sondern damit, was uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Einzigartig machen uns Sprache und Mentalisierung, also die Fähigkeit, nicht nur bei uns selbst, sondern auch bei anderen Menschen Gefühle und Haltungen zu erkennen und über deren Bedingtheit nachzudenken.

Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisinteresse kennzeichnen uns Menschen, das sehen wir vor allem an Kindern. Unermüdlich wollen sie wissen, warum etwas ist, wie es ist. Ohne Antwort auf die Frage, warum die Sonne scheint oder warum ein anderer Mensch ärgerlich ist, sind wir frustriert oder fürchten uns. Antworten hingegen beruhigen, und das Gefühl, ein Rätsel gelöst zu haben, kann uns regelrecht glücklich machen.

Solange es auf viele Phänomene keine Antworten gab, half es unserer Spezies, sich eine Instanz vorzustellen, die selbst als großer Weltenerschaffer und -lenker die Antwort ist. Darüber hinaus hatte eine moralisierende göttliche Instanz den Vorteil, Gesellschaften sozial verträglicher zu machen, denn mit Gottesgeboten ließen sich archaische Triebe hemmen. Zitat:

"Je höher die Zahl der Bevölkerung, desto größer die Chance, dass die Kultur den Begriff eines übernatürlichen, mit menschlicher Moral befassten Beobachters enthält. Bemerkenswert ist auch: Solange Gruppenmitglieder wirklich glauben, dass das Unglück eines anderen durch die Sünden des Betreffenden ausgelöst wurde, ist die falsche kausale Zuordnung furchterregend genug, die übrigen Gruppenmitglieder nicht aus der Reihe tanzen zu lassen."

Eine göttliche Instanz, die mit der Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod gekoppelt ist, bietet außerdem Beruhigung angesichts der seit Menschengedenken unumstößlichen Tatsachenbeobachtung, dass auch zu Selbstreflexion und Selbstbewusstsein fähige Wesen irgendwann sterben.

An Götter oder an einen Gott zu glauben, flößt also Angst ein, aber es lindert auch Angst. Beides geschieht im Interesse des Zusammenlebens der Menschen und damit im Interesse der Arterhaltung. All das ist faszinierend, aber nicht ganz neu. Neu hingegen sind Berings Ausführungen zu der These, dass unsere Glaubensfähigkeit sogar genetisch verankert sein könnte und lediglich deren Ausformung, sprich Religion, kulturell bedingt ist. Dazu zitiert er aus der aufschlussreichen Arbeit einer seiner Doktorandinnen, die Atheisten und Gläubige nach einschneidenden Lebensereignissen gefragt hatte. Zitat:

"Hinsichtlich der Neigung, plötzlich auftretende, das Leben verändernde Ereignisse irgendeinem Grund oder Zweck zuzuschreiben, war der Unterschied zwischen den beiden Gruppen (…) erstaunlicherweise statistisch zu vernachlässigen."

Es ist und bleibt also menschlich, auch dort Sinnzusammenhänge zu konstruieren, wo es keine gibt. Das gilt natürlich auch für Wissenschaftler und damit auch für Bering. Allerdings ist unser Wissen über uns selbst, beispielsweise durch die Hirnforschung, so angewachsen, dass Berings Resümee lautet. Zitat:

"In der Geschichte unserer Spezies sind wir die erste Generation, die direkt mit dem vollen wissenschaftlichen Gewicht eines Arguments konfrontiert ist, das einen personalen Gott sowohl unnötig wie höchst unwahrscheinlich macht."

Unsere Gefühle wird das aber nicht so bald verändern, vermutet Bering. Selbst als Atheisten werden wir – zumindest heimlich – dies und jenes glauben, denn unseren Drang, kausale Zusammenhänge herzustellen, hält Jesse Bering für ebenso unwiderstehlich wie unseren Forschungsdrang.

Berings vielschichtiges und trotz etwas holpriger Übersetzung lesenswertes Buch beweist allerdings, dass es sehr vergnüglich sein kann, auch darüber nachzudenken, warum wir uns sowohl als Gläubige als auch als Wissensdurstige gut fühlen können und was das für unser Zusammenleben bedeuten könnte. Die Lust, Antworten auf ein "Warum" zu finden, kann eben so stark sein – das zeigt die Geschichte –, dass selbst die Drohung ewiger Verdammnis manche Menschen nicht davon abhält, sie zu suchen.

Jesse Bering: Die Erfindung Gottes - Wie die Evolution den Glauben schuf
Aus dem Englischen von Helmut Reuter
Piper Verlag, München 2011
314 Seiten, 19,99 Euro