Warum wir in die Ferne schweifen - Eine Kulturgeschichte des Reisens

Der weltweite Reiseboom hat ein Rekordniveau erreicht: Fast 900 Millionen Menschen reisten im vergangenen Jahr rund um den Erdball – so eine Erhebung der Welttourismus-Organisation – Tendenz steigend.
Der globale Tourismus ist mittlerweile der drittgrößte Wirtschaftszweig, der Mittelmeerraum das wichtigste Reiseziel der Welt: Schätzungen zufolge wird die Zahl der Touristen in diesem Gebiet bis 2020 auf circa 350 Millionen ansteigen. Die Folgen dieses Booms sind längst sichtbar: Abfallberge, Wassermangel, Betonierung von Naturflächen, Bedrohung des biologischen Gleichgewichts auf dem Land und im Meer. Reiseweltmeister sind nach wie vor die Deutschen. 65 Prozent machten – nach Angaben der BAT Stiftung für Zukunftsfragen – 2007 für mindestens fünf Tage Urlaub, trotz Klima-Debatte und Anstieg der Spritpreise. Deutschlands "17. Bundesland", die Balearen-Insel Mallorca, muss jährlich an die 10 Millionen Touristen verkraften, 3,5 Millionen sind Deutsche. Die Sorge der Einheimischen wächst: Im vergangenen Jahr zogen 50.000 Mallorquiner durch die Altstadt von Palma, um gegen den Massenansturm zu protestieren.

"Urlaubsreisen sind ein Konsumprodukt wie Elektrogeräte, Fahrräder und Brötchen", sagt der Psychologe Jürgen Kagelmann. Der Dozent für Tourismuswissenschaft- und Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München analysiert nicht nur die Auswirkungen auf die Reiseregionen, ihn interessiert auch, was der Reiseboom für die Menschen bedeutet:

"Der Boom der 50er und 60er Jahre hat negative und positive Seiten. Die negative ist, dass Reisen standardisiert wurden, dass damit die Möglichkeit genommen wurde, etwas individuell zu machen. Das Positive dabei – wie bei allen Dingen, die vom Fließband kommen und in Massen produziert werden – sie werden billiger. Und damit konnten es sich auch niedrigere Schichten leisten, zu verreisen. Das muss man auch sehen: Dreiviertel der Leute können jetzt reisen, auch, weil reisen so billig ist."

Doch was haben wir von isolierten Bettenburgen an überfüllten Stränden, von All-inclusive-Angeboten auf Billigniveau, von austauschbaren und künstlichen "Ferienparadiesen", die mit dem Urlaubsland überhaupt nichts gemein haben?

Jürgen Kagelmann: "Das ist auch die eigentliche Krise der Tourismusindustrie, über die sie auch nicht gern redet. Der Wert der Reisen hat seit den 70er, 80er Jahren extrem abgenommen, reisen ist kaum mehr etwas wert, die Dinge sind austauschbar ..."

Eine ganze Armada an Menschen sei nur damit beschäftigt, neue Hotelanlagen, Erlebnisparks und Freizeitangebote zu entwerfen und dafür auch das entsprechende Bedürfnis zu wecken, nach Wohlbefinden und vor allem nach Glück.

Jürgen Kagelmann: "Man konkurriert mit den anderen Touristen um ein Stückchen Glück."
Was suchen wir in der Ferne? Welchen Stellenwert haben Reisen und die Mobilität für uns?

Diesen Fragen widmet sich die Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel in ihrem neuen Buch "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert"(wjs Verlag). Darin unternimmt sie einen informativen und unterhaltsamen Ausflug in die Geschichte des Reisens von der Antike bis in die Gegenwart und erzählt von Seefahrern, Entdeckern, Kutschreisenden, Eisenbahn- und Flugpionieren bis hin zu den heutigen Vielfliegern und Weltreisenden.

Ihre Analyse: Reisen und Mobilität seien mittlerweile ein Statussymbol.
" Wenn man sagt, ich bin im Urlaub zu Hause und im Garten geblieben, ist man ein Nobody." Reisen seien aber auch zu einem Wegwerfartikel geworden. "Man kommt zum Teil nicht mehr zu sich, diese vielen Eindrücke kann man nicht mehr übersetzen – und ich frage mich, wie viel Mobilität ist noch gut?"

In Reisen würden zudem viele Erwartungen projiziert: "Man will ja auch dem Stress des hoch komplexen Alltags entfliehen, man will ´all inclusive` und nicht sich fragen müssen, habe ich an alles gedacht? Dann darf man sich aber auch nicht wundern, wenn alles gleich aussieht. In der Antike war die Idee, dass die Fremde etwas Lebensbedrohliches ist, etwas, wo wir eigentlich nichts zu suchen haben. Und es ist ja auch heute noch zum Teil so. Wenn man zum ersten Mal in einer Stadt kommt und muss sich orientieren, ist das anstrengend. Da hat man es lieber organisiert und ist dem Stress enthoben."

"Warum wir in die Ferne schweifen – Eine Kulturgeschichte des Reisens"
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit der Autorin Sieglinde Geisel und dem Tourismusforscher Jürgen Kagelmann. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 – 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet
Über Sieglinde Geisel: www.sieglindegeisel.ch
Über Jürgen Kagelmann: www.tourismuswissenschaft.de/index.html

Literaturhinweis:
Sieglinde Geisel: Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert
wjs Verlag, Berlin 2008-09-05