Was bedeutet das: bürgerlich?
Ein Wort droht seinen Sinn zu verlieren - das Wort "bürgerlich". Zumindest im Westen Deutschlands ist es schon eine Zeit her, dass der Begriff negativ besetzt worden ist. Inzwischen aber werden Stimmen laut, die beispielsweise das Gymnasium als eine Trutzburg "bürgerlicher Kreise" kritisieren. Und wo eine Einstellung gelobt werden soll, die früher "bürgerlich" genannt worden wäre, da spricht man heute lieber geschwollen von "zivilgesellschaftlichem Engagement".
Die Schwierigkeit mit diesen Reserven gegenüber dem Wort "bürgerlich" liegt auf der Hand: man weiß nicht so recht, wovon die bürgerliche Mehrheit, die es angeblich nicht mehr gibt, denn unterschieden wird. Von einer proletarischen Mehrheit, einer unbürgerlichen? Aber woran würde man sie erkennen, die Unbürgerlichen?
Was Andrea Ypsilanti meinte, war offenkundig: Es gibt in Hessen keine Mehrheit für Christ- und Freidemokraten. Auch die Protagonisten dieser Parteien sprechen gern von sich selbst als den bürgerlichen Kräften oder der bürgerlichen Mitte und viele bezeichnen Schwarz-Gelb inzwischen als das "bürgerliche Lager" - obwohl "Bürger" und "Lager" ja zwei Worte sind, die irgendwie schlecht zueinander passen.
Bürgerlich - das sind, so verstanden, die Leute rechts von der Sozialdemokratie. Zwar würde wohl auch Andrea Ypsilanti wie jeder Politiker zögern, die "Mitte" der Gesellschaft den anderen Parteien zu überlassen. Aber in der Mitte und in der Mehrheit leben für sie eben nicht die "Bürgerlichen". Genauer gesagt: Es leben dort selbstverständlich Bürger, Staatsbürger nämlich, aber sie leben, so die Vorstellung, nicht "bürgerlich", haben keine bürgerlichen Einstellungen und wählen folgerichtig auch keine bürgerlichen Parteien. Also wäre die SPD, wie sie sich Leute vorstellen, die so reden, auch keine bürgerliche Partei?
Historisch betrachtet wäre das angesichts von Figuren wie Carlo Schmidt, Horst Ehmke, Helmut Schmidt oder Johannes Rau eine ziemlich unsinnige Behauptung. Und von der Wahlforschung aus betrachtet, ist sie nicht minder verwegen. Waren es doch nicht in erster Linie die Hartz IV-Empfänger und die Arbeiter, die der SPD in Hessen ihre Stimmen zugetragen haben, sondern vor allem "Angestellte und Selbständige". Darunter dürften eine ganze Menge Lehrerinnen, Ingenieure oder Finanzbeamte sein.
Früher hätte man sie dem "Mittelstand" zugerechnet und vermutet, dass sie bürgerlichen Werten folgen, zum Beispiel Ehen und Eigenheime und Bücher, auch Sparbücher nicht verachten. Das Thema, von dem viele sagen, es habe den Ausschlag gegen die CDU und zugunsten der SPD gegeben, die Schulpolitik der hessischen Regierung nämlich und vor allem ihre Streichung der neunten Gymnasialklasse, wäre früher ebenfalls als bürgerliches, nämlich als bildungsbürgerliches Thema bezeichnet worden. Insofern scheint es nicht weit her mit der Diagnose, in Hessen oder andernorts gebe es keine bürgerliche Mehrheit.
Was übrigens genau so gilt, wenn man sich die Grünen, und noch mehr, wenn man sich ihre Wähler anschaut: Nach allem, was wir wissen, handelt es sich geradezu um Leute mit vorbildlich bürgerlicher Lebensführung - mit Abitur und Naturbewusstsein, mit Karriere und Familienorientierung und mit Zukunftssorgen.
Woher also kommt, was das Bürgerliche angeht, die Begriffsverwirrung in allen politischen Lagern?
Vermutlich kommt sie daher, dass die Politik in Wahlkämpfen gerne auch ein bisschen Klassenkampf spielt. Mangels anderer Einfälle wird darum so getan, als zerfalle die Gesellschaft in feste Interessengruppen. Und darum muss man darüber hinwegreden, dass die allermeisten Arbeitslosen und Arbeiter denselben bürgerlichen, nämlich auf Komfort und Gefahrlosigkeit zielenden Lebensstil anstreben wie die allermeisten Manager oder Zahnärzte.
Zwar gibt es jede Menge Prolls, aber einen echten Proletarier aller Länder findet man auch im Umfeld der SPD oder der betagten Linken kaum. Außerdem muß man verschweigen, dass es gar keine "bürgerliche" oder "unbürgerliche" Energieversorgung gibt, keinen "unbürgerlichen" Mathematikunterricht und auch keine "bürgerliche" Kriminalitätsbekämpfung.
Umgekehrt wird man diejenigen, die sich selbst "bürgerlich" nennen, daran erinnern dürfen, dass, gemessen an alten bürgerlichen Idealen, schon der öffentliche Verzehr von Bratwurst, der Auftritt von Politikern in Talkshows oder das Johlen auf Wahlveranstaltungen einen unbürgerlichen Eindruck machen.
Je verbrauchter der Begriff des Bürgerlichen also ist, desto mehr wird er aufgeblasen, um in Wahlkämpfen so zu tun, als würden gerade letzte Schlachten um letzte Grundorientierungen und Werte und Gesellschaftsordnungen geschlagen. Dabei geht es doch nur ums Regieren.
Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.
Was Andrea Ypsilanti meinte, war offenkundig: Es gibt in Hessen keine Mehrheit für Christ- und Freidemokraten. Auch die Protagonisten dieser Parteien sprechen gern von sich selbst als den bürgerlichen Kräften oder der bürgerlichen Mitte und viele bezeichnen Schwarz-Gelb inzwischen als das "bürgerliche Lager" - obwohl "Bürger" und "Lager" ja zwei Worte sind, die irgendwie schlecht zueinander passen.
Bürgerlich - das sind, so verstanden, die Leute rechts von der Sozialdemokratie. Zwar würde wohl auch Andrea Ypsilanti wie jeder Politiker zögern, die "Mitte" der Gesellschaft den anderen Parteien zu überlassen. Aber in der Mitte und in der Mehrheit leben für sie eben nicht die "Bürgerlichen". Genauer gesagt: Es leben dort selbstverständlich Bürger, Staatsbürger nämlich, aber sie leben, so die Vorstellung, nicht "bürgerlich", haben keine bürgerlichen Einstellungen und wählen folgerichtig auch keine bürgerlichen Parteien. Also wäre die SPD, wie sie sich Leute vorstellen, die so reden, auch keine bürgerliche Partei?
Historisch betrachtet wäre das angesichts von Figuren wie Carlo Schmidt, Horst Ehmke, Helmut Schmidt oder Johannes Rau eine ziemlich unsinnige Behauptung. Und von der Wahlforschung aus betrachtet, ist sie nicht minder verwegen. Waren es doch nicht in erster Linie die Hartz IV-Empfänger und die Arbeiter, die der SPD in Hessen ihre Stimmen zugetragen haben, sondern vor allem "Angestellte und Selbständige". Darunter dürften eine ganze Menge Lehrerinnen, Ingenieure oder Finanzbeamte sein.
Früher hätte man sie dem "Mittelstand" zugerechnet und vermutet, dass sie bürgerlichen Werten folgen, zum Beispiel Ehen und Eigenheime und Bücher, auch Sparbücher nicht verachten. Das Thema, von dem viele sagen, es habe den Ausschlag gegen die CDU und zugunsten der SPD gegeben, die Schulpolitik der hessischen Regierung nämlich und vor allem ihre Streichung der neunten Gymnasialklasse, wäre früher ebenfalls als bürgerliches, nämlich als bildungsbürgerliches Thema bezeichnet worden. Insofern scheint es nicht weit her mit der Diagnose, in Hessen oder andernorts gebe es keine bürgerliche Mehrheit.
Was übrigens genau so gilt, wenn man sich die Grünen, und noch mehr, wenn man sich ihre Wähler anschaut: Nach allem, was wir wissen, handelt es sich geradezu um Leute mit vorbildlich bürgerlicher Lebensführung - mit Abitur und Naturbewusstsein, mit Karriere und Familienorientierung und mit Zukunftssorgen.
Woher also kommt, was das Bürgerliche angeht, die Begriffsverwirrung in allen politischen Lagern?
Vermutlich kommt sie daher, dass die Politik in Wahlkämpfen gerne auch ein bisschen Klassenkampf spielt. Mangels anderer Einfälle wird darum so getan, als zerfalle die Gesellschaft in feste Interessengruppen. Und darum muss man darüber hinwegreden, dass die allermeisten Arbeitslosen und Arbeiter denselben bürgerlichen, nämlich auf Komfort und Gefahrlosigkeit zielenden Lebensstil anstreben wie die allermeisten Manager oder Zahnärzte.
Zwar gibt es jede Menge Prolls, aber einen echten Proletarier aller Länder findet man auch im Umfeld der SPD oder der betagten Linken kaum. Außerdem muß man verschweigen, dass es gar keine "bürgerliche" oder "unbürgerliche" Energieversorgung gibt, keinen "unbürgerlichen" Mathematikunterricht und auch keine "bürgerliche" Kriminalitätsbekämpfung.
Umgekehrt wird man diejenigen, die sich selbst "bürgerlich" nennen, daran erinnern dürfen, dass, gemessen an alten bürgerlichen Idealen, schon der öffentliche Verzehr von Bratwurst, der Auftritt von Politikern in Talkshows oder das Johlen auf Wahlveranstaltungen einen unbürgerlichen Eindruck machen.
Je verbrauchter der Begriff des Bürgerlichen also ist, desto mehr wird er aufgeblasen, um in Wahlkämpfen so zu tun, als würden gerade letzte Schlachten um letzte Grundorientierungen und Werte und Gesellschaftsordnungen geschlagen. Dabei geht es doch nur ums Regieren.
Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.