Was bitte heißt thüringisch?

Unterwegs durch die Vielfalt Thüringens

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Sicht auf Holzhausen © Michael Frantzen
Von Michael Frantzen |
Thüringen, das ist mehr als Bratwurst und Schiller-Goethe-Superstar. Wer durch das Land reist, kann Mönchen, Bauhaus-Liebhabern, Aussteigern, Volksmusikern und Rappern begegnen - und einiges über die weltoffenen "Mittis" erfahren.
Thüringen hat einiges zu bieten. "Kunst, Kultur, Kitsch, Kult und Nonsens." Und: Nicht zu vergessen: "Schiller-Goethe-Superstar."
Die zwei Dichterfürsten sind nicht die einzigen, die Spuren hinterlassen haben – in der Mitte Deutschlands.
"Wir sind hier Mittis. Nicht Ossis, nicht Wessis. Sondern so was wie Mittis", sagt ein Thüringer. Der prototypische Mitti hat: Eindeutig Humor, laut Statistik leichtes Übergewicht, höchstwahrscheinlich wegen der ganzen Bratwürste, die er in sich hineinschaufelt, und etwas Theatralisches.
Das Leben eines Musikers: Es kann ganz schön stressig sein. Donnerstagmittag, Weimar: Christian Weirich, besser bekannt als Doppel-U, trommelt nervös auf dem Steuer seines Autos. Zähfließender Verkehr: Das hat jetzt gerade noch gefehlt.

"Wir sind jetzt in Weimar-Nord quasi. So direkt am Bahnhof. Wir sind unterwegs ins Stadtzentrum, zum Goethe- und Schiller-Denkmal. Die halt am Theaterplatz stehen – auf dem Sockel."
Der Musiker mag Schiller. Goethe irgendwie auch. "Rap macht Schule" heißt sein Projekt. Zusammen mit Schülern rappt er klassische Texte auf Hiphopbeats. Vorzugsweise welche von Schiller.
Der Rapper Doppel-U vor einer der zahlreichen Goethe-Statuen in Weimar.
Durch Weimar auf den Spuren der großen Dichter... Der Rapper Doppel-U vertont Werke von Goethe und Schiller. © Michael Frantzen
Schiller – für Doppel-U ist das Old School vom Feinsten. "Er hat immer so einen Drang in sich gehabt, das zu tun, was er liebt. Er wollte frei sein. Das war bei mir ähnlich. Dann: Auch nicht diese Anerkennung finden. Bei mir mit Rap. Rap, Hip-Hop ist halt so ein raues Gefilde irgendwie. Die Jungs haben nur gesehen: Der nimmt alte Texte. Das klingt Scheiße. Oder: Es hat nicht die Mega-coolen-Doppelreime, die Straßenattitüde. Deswegen haben sie es dumm gemacht."
Weimar ist schön. Schön voll. Deutsche Klassik, Goethe, Schiller: Die Touristen lieben das. Jahr für Jahr werden es mehr, die Straßen voller. Doppel-U reißt das Lenkrad herum. Da: Eine Parklücke hinterm Nationaltheater: Bingo.
Da sind sie also: Goethe und Schiller. Auf das Podest gehoben, überlebensgroß. "Wenn die Statue real wäre, würde sie wahrscheinlich ganz anders da stehen. Dann wäre Goethe ein bisschen dicker. Schiller ein bisschen eingefallener und angegriffener", meint Doppel-U.
Normalerweise macht er um die Statue einen weiten Bogen – im wahrsten Sinne des Wortes. Er fährt häufiger mit dem Rad vorbei, auf dem Weg zum Proberaum. Der Getränkemarkt da: Direkt darüber proben sie. Der Markt ist bis 22 Uhr offen, ergo: für Nachschub gesorgt. Der Rapper grinst. Hätte Schiller-Goethe-Superstar bestimmt gefallen.
"Goethe ist halt verwöhnt. Goethe war reich. Goethe war dick. Goethe wurde geliebt. Goethe ist so ein aalglatter Typ gewesen. Klar hat der es faustdick hinter den Ohren gehabt. Keine Frage. Wär jetzt auch so Superstar – charaktermäßig. Ich hab Frauen, ich nehme Drogen und so den ganzen Scheiß. Aber Schiller war für mich schon greifbarer, einfach weil er auch nicht so in Bildern gesprochen hat. Sondern er war messerscharf in seinen Emotionen und Texten. Und das begeistert mich mehr."
"Man muss alleine nur die Ode an die Freude nehmen." Eines der bekanntesten Gedichte Schillers. "Die Kernbotschaft ist: Es spielt keine Rolle, welche Hautfarbe wir haben; welcher Religion wir angehören; wie viel Geld auf unserem Konto ist. Sondern: Wir sind alle gleich. Es ist der Penner. Der König. Egal, ob er aus Uganda kommt oder Hintertupfingen. Wir sind alle gleich."
Doppel-U stapft los – vorbei an Rentnern, die es sich auf Parkbänken bequem gemacht haben; die Fußgängerzone entlang. "Wir sind jetzt auf dem Frauenplan." Auch hier wieder: klassisches Weimar. "Goethe-Nationalmuseum und irgendwo gab es da noch ein Wohnhaus." Goethe und Schiller: Sie müssen ein ungleiches Paar abgegeben haben. Schiller war rebellisch. Goethe: Meister der Diplomatie. Und trotzdem ein Gespann.
"Wenn man sich halt heute umguckt: Egal, ob es um Flüchtlinge, um Politik geht oder sonst irgendetwas: Sobald man unterschiedlich ist, geht es nur um Reibungspunkte; um Diskussion und konträr miteinander zu gehen und seinen Willen durchzusetzen. Auch diese Gesellschaft; wie Kinder erzogen werden: Du musst dich durchsetzen! Du musst der Beste sein! Was für ein Scheiß. Wenn du da drin nicht der Beste bist, such dir einen Kumpel, der das kann. Lern von dem. Und das find ich an den beiden halt so faszinierend. Dass eben aufgrund von Unterschieden was ganz, ganz Großes, Essenzielles entstehen kann."
Wo Goethe ist, kann Schiller nicht weit sein. "Das hier ist es. Herzlichen Glückwunsch. Schillers Wohnhaus." Schiller war Wahl-Weimarer. Noch eine Gemeinsamkeit mit Doppel-U. Geboren und aufgewachsen ist der Rapper in Jena. Jena und Weimar: Auch ein Thema für sich. Jena ist für Thüringer Verhältnisse Großstadt: Der JenTower mit seinen 144 Metern das höchste Bürohochhaus der neuen Bundesländer. Weimar dagegen: Fast schon kleinstädtisch. Über zwei Ecken kennt hier jeder jeden. Genau das mag Doppel-U.
Doppel-U bleibt vor seinem Auto stehen. Kurzer Blick auf die Windschutzscheibe: Kein Knöllchen. Glück gehabt. In den Niederlanden war er schon mit seinen Rap-Workshops; für das Goethe-Institut in den USA. Ganz weg wollte er nie. Auf der Rückseite seiner Autogrammkarte steht sein Lebensmotto: "Der Weg ist das Ziel." Er lacht. Hat natürlich etwas mit seinem Seelenverwandten zu tun. Es ist die Moral aus Schillers Gedicht "Der Pilgrim."
"Ah! Noch in meines Lebens-Lenze war ich und wandert aus.
Jugendfrohe Tänze ließ ich in des Vaters Haus.
All mein Erbteil, all mein Habe warf ich fröhlich hin.
Am leichten Pilgerstabe zog ich fort.
Mich trieb ein mächtig Hoffen und ein dunkles Glaubenswort.
Wanderer rief: Der Weg ist offen. Immer nach dem Aufgang fort.
Bis zu einer goldenen Pforte, wo gelangst, da gehst du ein.
Das Irdische wird dort tun, himmlisch, unvergänglich sein.
Abend ward’s und wurde morgen.
Nimmer stand ich still.
Aber immer blieb’s verborgen,
was ich suche, was ich will."

Das Bauhaus-Denkmal in Thüringen

Thüringen – das ist nicht nur Schiller-Goethe-Superstar, sondern auch Bauhaus. Womit wir bei ihm hier wären: "Mein Name ist Dieter Nagel. Ich bin gebürtiger Probstzeller. Wir sind hier im Haus des Volkes. Das ist das größte Bauhaus-Denkmal Thüringens. Ein ganzes Bauhaus-Ensemble."
Probstzella am Fuße des Thüringer Waldes statt Weimar, wo das Bauhaus gegründet wurde: Dieter Nagel, seines Zeichens Unternehmer und stolzer Besitzer des "Hauses des Volkes", strahlt. Fallen immer alle aus allen Wolken, "dass der Ort Probstzella der Ort mit der größten Bauhaus-Dichte Europas ist", ist sich Nagel sicher.
Architektur-Historiker nicht ganz so. Es ist kurz nach drei. Auf dem Parkplatz vor Nagels Bauhaus-Hotel sucht ein Fuchs das Weite. Nicht viel los hier. Aber wird schon! In einer Stunde soll ein Bus mit Rentnern kommen. Zu Kaffee und Kuchen - im blauen Salon.
"Die ganzen Möbel. Die Stühle. Die Tische. Die Betten. Die Nachttische. Alles ist extra für dieses Haus entworfen worden." - Das "Haus des Volkes" steckt voller Geschichte. Und Geschichten. Auf das Stichwort hat Nagel nur gewartet. Wie aus dem Effeff rattert der Mann mit dem schütteren Haar die Eckdaten des roten Kastens mit den weißen Streifen runter: 1927: Feierliche Übergabe – durch Alfred Arndt, den Bauhaus-Architekten, an Bauherr Franz Itting. Waren Brüder im Geiste: der Architekt und der Unternehmer.
"Ja, das ist der große rote Saal dieses Hauses des Volkes. Und dieser Name: Haus des Volkes ist ja an diese Volkshaus-Bewegung angelehnt. So um die Jahrhundertwende, so um 1900, kam aus den USA diese Volkshaus-Bewegung. Also die geistige Erhöhung des Menschen fördernd – das war so das Interesse dieser Sozial-Reformer. Das war sicherlich auch die Inspiration, die Itting hatte."
Tausend Leute fanden im Roten Saal Platz. Opern wurden hier aufgeführt, Theaterstücke, Varieté-Nummern. Alles noch Original hier. Original-Bauhaus. Selbst der rote Vorhang stammt noch aus den 30ern, der Kinovorführ-Raum auch.
Das "Haus des Volkes". Es ist Nagels Hobby. Seine Leidenschaft. Geld verdient er mit medizin-technischen Produkten und Dienstleistungen. Gutes Geld. Für knapp 30.000 Euro ersteigerte er bei einer Auktion das seit der Wende leerstehende "Haus des Volkes". Ein Himmelfahrtskommando – sagte der eine oder andere im Dorf. Seine verdammte Pflicht, meint Nagel.
"Es war halt eben das Wahrzeichen von Probstzella. Und eigentlich für Probstzella ein ganz, ganz wichtiges Gebäude. Ich hab immer gehofft: Es nimmt sich irgendjemand dieser Sache an und macht da was draus. Aber man hat dann in Probstzella nur noch davon geredet, dass das abgerissen werden muss. Dass das eine Ruine ist. Das kann man nicht mehr erhalten und nicht mehr retten. Die Gedanken haben sich dann nur noch darum gedreht: Ja, wo kriegen wir Fördermittel her, um jetzt dieses Ding abzureißen. Mit dem Erhalt dieses Gebäudes hat sich hier keiner mehr beschäftigt."

Nagel schon. Bis heute steckt er Geld, Zeit und Energie in sein Schmuckstück. Fördermittel vom Land oder dem Bund – er winkt ab: Nicht der Rede wert. Das allermeiste hat er aus eigener Tasche bezahlt. Und was tun die Probstzeller? Lästern hinter seinem Rücken über das "Raumschiff".
"Schwierig. Sehr schwierig. Schwer zu beschreiben. So was zu betreiben, wär in anderen Regionen sehr viel einfacher als wie hier, in dieser Gegend. Das ist einfach wirklich so. Vielleicht hat es auch was mit dieser ehemaligen Grenze zu tun, mit diesem 40 Jahre Sperrgebiet, die die Leute prägt. Jeder, der hier irgendeine Initiative selbst entwickelt hat, ein Geschäft betrieben hat; der irgendwie selbstständig war oder auch ein bisschen Geld hatte, ist ja aus diesem Sperrgebiet ausgesiedelt worden. Und da sind natürlich die Leistungsträger einfach verschwunden. Und ich denke mal, dass man das heute noch in der Region sehr merkt."
Nagel schaut auf seine Uhr. Viertel vor vier. Die Rentner müssten gleich da sein. Vorher aber noch das hier: "Das ist also eine Ausstellung, die eigentlich in mehrere Räume aufgeteilt ist. In mehrere Zeitepochen aufgeteilt ist." Ein Museum im Museum: Nagel hat es sich nicht nehmen lassen, die Lebens- und Leidensgeschichte von Franz Itting nachzuzeichnen.
"Er war bei den Nationalsozialisten mehrfach inhaftiert. Immer wieder auch in Schutzhaft genommen worden und immer wieder gequält worden. Und: Erpresst worden. Am Ende kam er sogar ins KZ Buchenwald, war in diesem Außenlager Bad Sulza, in diesem Steinbruch beschäftigt. Und ist eigentlich nur dort wieder rausgekommen, weil die Amerikaner diese SS-Barracken in Buchenwald bombardiert hatten. Und die konnten dieses Lager nicht mehr komplett bewachen und da haben sie einen Teil der Häftlinge entlassen. Da war er dabei. Sonst hätt er dieses Lager wahrscheinlich nicht überlebt."

Thüringen – Paradies für Aussteiger

Thüringen ist nicht nur ein gutes Pflaster für Deutsche Klassik und Bauhaus, sondern auch für Aussteiger. Rund fünfzig alternative Wohnprojekte gibt es im Freistaat. "Das sind die klassischen Fragen halt so: Freie Liebe?! Und alles nur noch Vegetarier oder Veganer?! Oder: Ist es eine Sekte und so?"
Mittwoch-morgen. Das "LebensGut Cobstädt". Bis nach Erfurt, in die Landeshauptstadt, sind es keine 25 Kilometer.
"Ich kann die Leute auf jeden Fall beruhigen. Wir sind weder eine Sekte noch irgendwie ideologisch. Uns geht es darum, eine Lebensweise zu verwirklichen, die sich mit der Natur im Einklang befindet. Wie man einen geringen ökologischen Fußabdruck hat. Tun gemeinsam unsere Lebensmittel hier erzeugen. Tauschen viel. Helfen uns gegenseitig."

Rund 25 Leute leben auf dem Gut – verteilt auf vier Höfe. Vom Kleinkind bis zum Rentner alles dabei. Und mittendrin: Gründer Thomas Penndorf. Zusammen mit seiner Frau und zwei Freunden wagte der 40-Jährige 2004 den Sprung ins kalte Wasser – und pachtete von der Evangelischen Kirche das verlassene Pfarrhaus und neun Hektar Land.
"Wir haben hier ganz viel in Eigenleistung und durch Nachbarschaftshilfe umgesetzt. Also sprich: Die Dachziegel hat uns hier jemand aus dem Dorf zur Verfügung gestellt. Des Weiteren haben wir Materialien halt wieder recycelt. Also eine Scheune abgerissen, dann die wiederverwertet. Und so ist mit wenig Geld wirklich das Objekt sehr schön in Stand gesetzt worden."
Das kann man wohl laut sagen. Das Pfarrhaus mit seinen knarzenden Dielen; die Ställe; der Laubengang: Alles liebevoll renoviert. Und voller Schätze: Das weiße Etwas auf dem Fenstersims etwa: Entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Schildkröten-Schädel.
"Wir können gerne mal einen Blick in den Garten und in unseren entstehenden Schaugarten werfen." - Thomas bleibt vor einem Obstbaum stehen: Jeder Baum ist ein Unikat. Tausend verschiedene sollen es einmal werden. Könnte gut klappen: Die Böden hier sind fruchtbar.
"Süden und Westen, finde ich, ist sehr schön. Das ist der Grund, warum ich es hier überhaupt aushalte. Eine sehr attraktive Kulturlandschaft mit dem Seeberg und den drei Gleichen. Und auch durchaus noch vielen Streuwiesen. Und überschaubaren Feldern. Und hier im Norden: Wenn man da mal genauer an Horizont schaut, sieht man kaum noch irgendwelche Bäume. Also ne riesige, ausgeräumte Landschaften. Sehr triste Landschaft. Die Bio-Diversität ist um 75 Prozent bisher zurückgegangen – in den letzten 25 Jahren. Das muss man sich mal vorstellen, was das wirklich bedeutet."
Letztens hat sich Thomas im Netz angeschaut, wie die Gegend noch vor zehn Jahren aussah. Er konnte es kaum fassen: Wo heute Agrarsteppe ist, gab es Felder, Sträucher, Bäume.
"Wenn ich dann aber hier auf unser Gelände schau: Das war ja alles mal Monokultur. Da war letztens ein Ornithologe da, also ein Vogelkundler, und der hat hier unglaublich viele seltene Vögel entdeckt: Pirol, Eisvogel sogar. Wir haben ja auch ganz viele Schmetterlinge. Wildbienen. Wenn ich die Kinder hier so über unser Geländer streunen sehe, geht mir wirklich das Herz auf."
"Sie kennen höchstwahrscheinlich schon das halbe Dorf?" – "Ja, ich kenn die meisten Leute im Dorf, auf jeden Fall. Man kennt sich halt. Das ist hier im Dorf auch so ein bisschen drei-geteilt. Man hat hier so diese Alteingesessenen. Dann so diese alternative Fraktion. Und diese neuen Dorfbewohner, die da in der Neubausiedlung sich angesiedelt haben. Man merkt auch: Ganz klar: Klassisches Problem, dass da wenig Schnittstellen sind. Zwischen den verschiedenen Leuten. Wir hier, sag ich mal, haben uns inzwischen ganz gut mit dem Alt-Dorf verbunden. Aber: Da gibt es noch eine Menge Arbeit, was so Integration und die Dorfgemeinschaft angeht."

Aufgewachsen ist Thomas in Sachsen, in einer Kleinstadt im Erzgebirge. Mit Thüringen hatte er nicht viel am Hut – auch wenn er im thüringischen Friedrichroda zur Welt kam.
"Ich bin zum Studium dann hier nach Erfurt gekommen. Und irgendwann fahren wir dann durch den Thüringer Wald und da sehe ich auf einmal: Friedrichroda. Hier: 20 Kilometer von Cobstädt entfernt ungefähr. Und da ist mir erst Mal bewusst geworden: Man! Ich bin ja in meine wirkliche Heimat zurückgekehrt. Und fühle mich auch wirklich als Thüringer. Bin auch sehr glücklich und zufrieden als Thüringer."

Der Thüringer an und für sich: Thomas’ Augen leuchten. Darüber fachsimpelt er fast so gerne wie über alte Obstsorten. Er hat da so seine Theorie. Von wegen: Flickenteppich. Über Jahrhunderte setzte sich der Freistaat aus Dutzenden Herzogtümern und Grafschaften zusammen. Krieg führten nur die wenigsten, dazu waren sie zu klein. Weimars Herzog Carl August und die anderen investierten lieber in Kunst und Kultur. Mit der Zeit entstand so gesunde Konkurrenz. Und ein offenes Klima. Im Herzen Deutschlands.
"Thüringen war ja immer im Prinzip eigentlich die Mitte Deutschlands oder des deutschen Reiches damals. Alles, was vom Norden in den Süden wollte, ist mehr oder weniger durch Thüringen gekommen. Alles, was von Osten nach Westen gegangen ist. Es gab immer schon einen sehr hohen Austausch. Und geostrategisch gesehen: Ob es die Logistikzentren heute sind. Oder damals halt das Land der Dichter und Denker hat man ja gesagt: Die ganzen Persönlichkeiten, die haben sich hier einfach auch angesiedelt und getroffen, weil es halt so zentral ist."
Zentral gelegen ist Thüringen immer noch, nur mit dem Unterschied, dass heute keine Schillers und Goethes mehr vorbei schauen, sondern Touristen. Das LebensGut ist da keine Ausnahme. Seit ein paar Jahren gibt es in der umgebauten Scheune eine Herberge für Pilger, die Station machen entlang des Pilgerwegs, der über das Areal führt. Werden immer mehr. Nicht zuletzt Dank der Erden-Klangschale.
"Das ist im Prinzip ein großer, kreisförmiger Erdwall drum. Circa ein Meter unter der Erdoberfläche. Wie so ein Amphitheater. Aus Stein, aus sehr alten Steinen. Nach jeder Himmelsrichtung ein Eingang. Es gibt acht Steinsäulen, die erinnern so ein bisschen an Stonehenge. Das ist ein Ort, den wir geschaffen haben, um mal in sich zu gehen."
Stonehenge auf Thüringisch – das Land der Dichter und Denker ist immer gut für Überraschungen.
Thomas mag zwar Aussteiger sein, doch er arbeitet immer noch: Halbtags als selbstständiger Landschaftsgestalter und Unternehmensberater. Vom LebensGut allein kann er nicht leben. Noch nicht. In ein paar Jahren, hofft er, könnten sie autark sein – und sich endgültig ausklinken, aus dem Turbokapitalismus.
"Nicht: Immer mehr, immer höher, immer schneller. Man kann natürlich auch flüchten, aber irgendwann hab ich mir denn zumindest gesagt: Wenn ich hier Kinder in die Welt setzen möchte, sollen die auf jeden Fall an einem Ort leben, der probiert Teil der Lösung zu sein. Deshalb haben wir das dann auch einfach durchgezogen. Weil: Ich kann jetzt ehrlich gesagt nicht in die Stadt ziehen, irgendwie für 1000 Euro eine kleine Mietwohnung anmieten und dann so tun, als würd ich nicht wissen, dass das hier alles ziemlich traumatisch enden wird, wenn nicht Leute anfangen, was Neues zu entwickeln."

Das Thüringer Bratwurstmuseum

"Waren Sie schon mal in einer Bratwurst?", fragt Thomas Mäuer. Nein. "Dann wird das jetzt ein Debüt. Das ist also die größte begehbare Bratwurst der Welt. Und auch die kleinste Bratwurst der Welt. Warum? Es ist die einzige."
Das ist Thomas Mäuer. Die Hans Wurst: "Ich bin in dem Verein Freunde der Thüringer Bratwurst e.V. der stellvertretende Vorsitzende und mache die operative Arbeit vor Ort. Und zwar am ersten deutschen Bratwurst-Museum, da stehen wir auch gerade. Und zwar im schönen Holzhausen. Von der Landeshauptstadt Erfurt nur zwanzig Minuten entfernt."
Mäuer sieht man die Liebe zu Bratwürsten an. Thüringer Bratwürsten. "Gott schütze uns vor Regen, Sturm und Wind. Und Bratwürsten, die nicht aus Thüringen sind."
Thüringen ist Bratwurst-Land. Pro Jahr werden 40.000 Tonnen verwurstet. Macht: Etwa 450 Millionen Einzelexemplare. 80 Bratwürste isst der durchschnittliche Thüringer im Jahr. Das bleibt nicht ohne Folgen – für Leib und Seele. "Ein Thüringer Metzger-Meister verrät eher seine Liebschaft als sein Bratwurst-Rezept", meint Mäurer.


Es ist Samstag-Mittag. Rushhour. Sechs Busse haben sich angekündigt. A 40 bis 50 Besucher. Im Stundentakt wird sie Mäuer über das weitläufige Gelände seines Bratwurst-Imperiums schleusen.
Thomas Mäuer, stellvertretender Vorsitzender im Verein Freunde der Thüringer Bratwurst, im ersten deutschen Bratwurstmuseum in Holzhausen.
Thomas Mäuer, stellvertretender Vorsitzender im Verein Freunde der Thüringer Bratwurst, im ersten deutschen Bratwurstmuseum in Holzhausen.© Michael Frantzen
"Die Bratwurst bewegt die Leute in Thüringen schon. Es ist nicht nur Lebensmittel, Wirtschaftsgut. Ist für viele natürlich auch ein Stück Thüringer Lebensart, Herzenssache, manche sagen Kulturgut. Hat natürlich was mit der sehr, sehr langen Geschichte der Thüringer Bratwurst zu tun. Die gibt es schon seit über 613 Jahren. Und hier in der Nähe, im Arnstädter Benediktiner-Kloster wurde also am 20. Januar 1404 die urkundliche Ersterwähnung für die Thüringer Bratwurst verfasst."
Das ist lange her, die Liebe zur Bratwurst geblieben. "Das ist auch ein Riesen-riesen-Zankapfel. Die Leute in Thüringen streiten sich unwahrscheinlich gern, mal mehr, mal weniger ernst, wer die beste Bratwurst macht. Sie müssen mal zwei Thüringer am Imbiss beobachten. Je nach Vorliebe wird natürlich gern drüber diskutiert, wie sie denn schmeckt. Und welches Gewürz vorschmeckt. Das ist ein Riesen-Thema hier in Thüringen."
Grob genommen gibt es vier Gewürz-Regionen. Die Nordthüringer würzen mit Majoran, die Ost-Thüringer mit Kümmel. Die Süd-Thüringer schwören auf Knoblauch und Muskat, die West-Thüringer auf Zitrone. In Holzhausen verwenden sie eine ausgewogene Gewürzmischung. Ein bisschen von allem: So mögen sie es in Mäuers Familie am liebsten.
"Bin auch mit Hausschlachtung groß geworden. Beim Opa. Da gab es auch immer Bratwurst. Für mich war das was ganz Natürliches. Auch was Begehrenswertes. Auch. Das war nicht so ein Alltags-Produkt. Ist hier keiner verhungert, aber es war nicht so, dass gute Bratwürste ständig in den Auslagen waren." Zu DDR-Zeiten. "Das musste man schon mal bestellen. Oder denn in einer Hausschlachtung war es natürlich immer noch mal eine besondere Qualität."

Thüringer Heimatlieder

Neunhofen bei Neustadt an der Orla. Freitagvormittag. Rund um den Dorfkern herrscht Verkehrschaos. Die neue Umgehungsstraße wird einfach nicht fertig. Immer das gleiche, grummelt Walter. 88 ist er jetzt. Die Musik sein Leben.
"Ich guck mir das Publikum an. Da weiß ich, was die wollen. Das hab ich auch immer meinen Jungs erzählt: Ihr müsst das spielen, was die Leute wollen, nicht das spielen, was euch gefällt."
Den Leuten gefallen: Heimatlieder. Thüringer Heimatlieder. Deutscher Schlager geht auch, Englisch-sprachiges dagegen gar nicht. Damit können die "Grauen Rebellen" ihrem Stammpublikum jenseits der 70 nicht kommen. In Thüringen haben Walter und Elsa schon so ziemlich jede Kleinbühne und Seniorenresidenz abgeklappert. Ihre größten Erfolge feierten sie zu DDR-Zeiten.
"Unsere schönste Zeit war im Kultur-Palast Maxhütte. Zum Frauentag haben wir Musik gemacht. Und die Frauen, die wollten nicht Heim. Bis nachts um zwölf!", erzählt Elsa. "Und früh musste ich wieder auf Arbeit. Die haben getanzt wie die Verrückten. Damals war ich die Nummer eins in der Gegend", meint Walter. Elsa: "Du bist auch heute noch de Nummer eins bei mir."
Im Clubhaus von Neustadt lernten sich Elsa und Walter kennen – im Chor. Zwei Jungs haben sie groß gezogen. Machen auch Volksmusik, die beiden, der Jüngere als Alleinunterhalter. Elsa strahlt: Fällt nicht weit vom Stamm – der Apfel. Lohnbuchhalterin war sie in der DDR, in der Textil-Industrie, Walter Maschinen-Einrichter. Elsas Textilunternehmen hat die Wende ebenso wenig überstanden wie Walters Maschinen.
"Die grauen Rebellen": Elsa und Walter Rudolph, bekannt als das älteste Thüringer Musiker-Ehepaar.
"Die grauen Rebellen": Elsa und Walter Rudolph, bekannt als das älteste Thüringer Musiker-Ehepaar.© Michael Frantzen
"Also Walter ist in Neunhofen geboren: 1929. Und ich: Ich stamme nicht von hier. Ich bin so ein Umsiedler-Kind. Wir sind aus der Tschechei hergekommen. Ich war damals fünf Jahre, mit der Mutter alleine. Der Vater war noch im Krieg. Und meine zwei Brüder... ich bin nämlich ein unheimlicher Nachzügler... meine Brüder waren auch noch im Krieg. Alle beide. Da ist die Mutter mit mir alleine hierhergekommen."
1948 kam der Vater aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zu ihnen nach Neunhofen – vom Krieg gezeichnet. Mitte der 50er Jahre starb er. Da hatte einer von Elsas Brüdern schon in den Westen rüber gemacht. Nach der Wende besuchten Elsa und Walter ihn in Ulm.
"Muss ich immer lachen: Weil die Schwägerin immer gesagt hat: Alles, was ihr jetzt kriegt, in der DDR: Das haben wir alles bezahlt." Walter winkt ab. Statt mit seiner Schwägerin beschäftigt er sich lieber mit seiner Musik. Und seiner zweiten Leidenschaft: Der Heimatgeschichte.
Fast täglich ist Walter mit seiner Video-Kamera unterwegs: Kirchen, Burgen, Berggipfel: Walter hält immer drauf. Schwatzt mit den Leuten. Nimmt sie auf; ihre Dialekte. In Neunhofen sprechen sie Ilm-Thüringisch, um die Ecke, in Saalfeld, Südost-Thüringisch. Zehn Dialektregionen gibt es im Freistaat. Was für eine Vielfalt – frohlockt Elsa. Doch am schönsten ist und bleibt es zu Hause – dialektisch und musikalisch.
Elsa hat sich auf den Wohnzimmer-Sessel gesetzt. Vor ihr: Zeitungsartikel, Fotos, Visitenkarten. Der Grauen-Rebellen. War eigentlich eine Schnapsidee – das mit dem Namen. Grau – meint Elsa und zeigt auf Walters Haar: Das sei nahelegend gewesen. Und Rebellen, weil es ganz schön rebellisch sei, heutzutage keinen neumodischen Kram zu spielen. Ihre Fans wissen das zu schätzen. Umgängliche Leute - alle miteinander. "Freundlich. Aufgeschlossen. Neugierig. Ich weiß nicht, ob das normal ist? Ob das woanders auch so ist."
Demnächst werden die Grauen Rebellen wieder auftreten. Elsa wird ihr rot-weißes Dirndl aus dem Kleiderschrank holen und ihre E-Gitarre umschnallen; Walter seine braune Lederhose anziehen und sich hinters Keyboard setzen. Er hat zwei. Eines in seinem Tonstudio, das andere im Kofferraum – für den Fall der Fälle.

Bei den Franziskaner-Brüder

Rolf und Rudolf sind Brüder. Franziskaner-Brüder. Als solche leben sie auf dem Hülfensberg, dem heiligen Berg des Eichsfelds im Nordwesten Thüringens "Das ist ja im Grunde das Mekka vom Eichsfeld. Ist so ein zentraler Wallfahrtsort vom Eichsfeld."
Schon seit Tagen schleppt Rolf eine mittelschwere Grippe mit sich herum. Der gebürtige Westfale rührt in seinem Tee. Nach Reden ist ihm eigentlich nicht zu Mute. Bruder Rudolf schon. Also: Das Eichsfeld. Sonderfall in Thüringen. Weil: Katholisch, im Gegensatz zum protestantischen Rest. Doch das will nicht mehr viel heißen.
"Früher war die Sozialkontrolle in den kleinen Dörfern hier viel größer. Aber seit der Wende arbeiten ja die Jugendlichen und studieren meist außerhalb. Und bringen denn auch ein ganz anderes Klima mit nach Hause. Sie kommen traditionell noch gerne zurück zur Taufe oder zur Hochzeit. Weil die Verwandten hier wohnen. Und es noch einen gewissen religiösen Rahmen gibt, in dem sie sich so hineinbegeben können. Aber ich denke, das wird sehr brüchig. Und es gibt immer weniger Priester auch im Eichsfeld. Die Pfarreien werden immer größer. Ein Pfarrer hier in der Nachbarschaft hat fünfzehn Kirchgemeinden."
Zu fünft sind sie noch im Kloster: Der Jüngste – Bruder Johannes – ist 54, Rudolf und Rolf mit ihren 74 die Ältesten. Schon länger plagen die Franziskaner Nachwuchs-Sorgen. Doch jemand wie Bruder Rudolf lässt sich dadurch nicht verrückt machen.
"Es ist mehr spannend für mich. Wenn man viel herumgekommen ist, sieht man auch viele verschiedenen Formen. Und ich hab auch viel mit Evangelischen und Andersgläubigen zu tun gehabt. Und hab viele Formen der Zusammenarbeit entdeckt; des Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden und für arme Menschen. Also, ich hab einfach zu viele andere gute Erfahrungen mit Nicht-Katholiken gemacht, um zu sagen: Das schmerzt nur."
Der Franziskaner-Mönch ist viel herumgekommen. In Frankreich hat er gelebt, in Russland, nach der Wende in Berlin-Pankow eine Suppenküche geleitet. Seine spannendste Zeit aber waren die zehn Jahre im Ruhrgebiet. Zusammen mit zwei Mitbrüdern tauchte er Anfang der 80er-Jahre in einer Obdachlosen-Siedlung in Herne auf, der Malocher-Stadt – und verkündete: Wir bleiben.
"Das haben wir dann versucht – mit denen zu leben. So wie sie zu leben. Ohne Dusche. Und: Kohleheizung, wie das halt so einfach ist. Die dachten erst, da kommen drei Schwule, die bei uns untertauchen. Oder: Die waren alle drei im Gefängnis."
Bruder Rudolf schaut aus dem Fenster. Gut eine halbe Stunde noch, dann wird es dunkel sein. Also schnell raus. Das leuchtende Kreuz und die Wallfahrtskirche, meint er im Aufstehen: Sollte man sich nicht entgehen lassen.
Die Winter im Eichsfeld: Sie können empfindlich kalt sein. Früher, in der Preußenzeit, zogen die Männer im Winter gen Westen – auf der Suche nach Arbeit. Im Sommer kehrten sie zurück. Manche – erzählt man sich – hatten eine Sommerfrau - und eine für den Winter. Die Eichsfelder Frauen wiederum – allein gelassen – gewannen früh an Selbstständigkeit – und Selbstbewusstsein. Gute Christen waren sie alle.
"Da können wir jetzt mal hingehen – zu dem Kreuz." Es ist das Wahrzeichen des Hülfensbergs: Das leuchtende Kreuz. Exakt 18 Meter 60 hoch ist es. 18 Meter 60 steht für das Jahr 1860 - das Jahr, in dem sich die Franziskaner hier niederließen.
"Es ist 1933 gebaut. Hat also zwei Diktaturen überstrahlt. Das leuchtet dann weit ins Eichsfeld hinein. Was natürlich den atheistisch-ideologisch-geprägten DDR-Staat sehr geärgert hat. Es waren auch immer wieder Agenten hier, die das verbieten wollten."

Bruder Rudolf läuft los - vorbei an windschiefen Eichen und der Marien-Grotte – Richtung Kloster. In einem Seitenflügel brennt noch Licht. Die Gäste. Natürlich. Seit Ende der 90er können Sinnsuchende am Klosterleben teilhaben. Das Eichsfeld mag zwar immer atheistischer werden: Doch die Nachfrage nach einer Auszeit steigt.
"Albert Camus hat mal gesagt: Man kann nicht nur leben von Kreuzworträtseln, Kühlschränken und Vergnügungsparks. Eine Konsumgesellschaft macht Menschen auf Dauer auch nein bisschen langweilig, ein bisschen müde. Irgendwo ist es nicht befriedigend, wenn ich bis 22 Uhr jeden Sonntag noch einkaufen kann."
Es ist fast dunkel. Bruder Rudolf bleibt vorm Klostereingang stehen. Manchmal tritt er vorm Schlafengehen noch kurz vor die Tür: Die Stille genießen: Im Eichsfeld, dem hintersten Zipfel Thüringens.
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