Was bleibt?
Am 31.07.05 ist offiziell sein letzter Arbeitstag, wahrscheinlich wird er schon früher gehen - Peter Sodann, Noch-Intendant am "neuen theater" in Halle. Der Abtritt kommt überraschend, er wollte ihn nicht. Wegen seiner Arbeit am Theater nicht. Wegen seines Lebensprojektes, der "Kulturinsel". Ein ganzes Häuserareal nur der Kultur verpflichtet, Sodann hat es verwirklicht.
Schauspiel, Galerie, Restaurants und nicht zuletzt der Aufbau der "Bibliothek der DDR-Literatur". All das wird er hinterlassen, der "Tatort"-Kommisar Ehrlicher. Der Abgang nach 25 Jahren wird nicht einfach sein: "Wenn man das alles über Jahrzehnte aufgebaut hat, dann geht einem jeder Tag, der da noch ist, auf den Keks."
Andere haben Inseln entdeckt, er hat eine an Land gezogen - die Kulturinsel. Peter Sodann. Initiator, Antreiber, Gestalter, Rackerer. Chef und Mitarbeiter in Personalunion. 25 Jahre lang.
Ein großes Häuserareal nur der Kultur - einmalig hierzulande. Schauspielbühnen und Café, Galerie und Restaurant, Hoftheater und Veranstaltungsräume, Hotel und 1.Mai-Demo, "Bibliothek der DDR-Literatur" und Lesesaal.
"Was du nicht selber tust, dass tut für dich kein anderer" steht über dem Bühneneingang. Die Kulturinsel - unter Sodann ein Marktplatz der Aufklärung.
Schnitt, harter Schnitt. Foyer des Theaters. Das Faltblatt für Juni/Juli. Auf zwei Seiten reiht es 24 Personen auf, die gehen. 21 haben den Laufpass bekommen. Peter Sodann ist die Nummer 19 und einer von 14 gekündigten Schauspielern. Das ist ein Drittel des Ensembles.
Nächster Schnitt. Ein Transparent überspannt die Seitenstraße. Es zählt zig Stücke auf, die bis zum 10. Juli "abgespielt" werden. "Abgespielt" heißt abgesetzt. Von 37 Stücken werden 31 "abgespielt".
Peter Sodann geht, der Intendant und Schauspieler muss gehen. Politiker haben es so beschlossen. Erste Maßnahmen des Nachfolgers: Mitarbeiter entlassen, Stücke absetzen, Einrichtungen in Frage stellen. Für März war ein Konzept angekündigt, bis dato nur die Einschnitte mitgeteilt.
Mit ihm keine Aufnahmen im Theater, teilt Sodann entschieden mit, als er für diese Sendung zusagt. Klartext in Sachen Abgang und Umstände. Der Intendant, Schauspieler und Regisseur Sodann wird gehen, der "Tatort"-Kommissar Ehrlicher wird bleiben.
"Jetzt müssen wir erstmal hier raus. Schulstraße hoch. Aus den Bedrängnissen raus. Wir fahren, du weißt, wie es geht, Klaus. "
Erstes Bild: Sodann verlässt das Theater. Oder: Warum der Hausherr bei der Abfahrt zum Drehort in Leipzig keinen Blick zurück auf die Kulturinsel wirft.
"Nee, weil das nicht mehr geht. Ich hoffe, ich hoffe, dass ich diese "Angelegenheit" hinter mich gebracht habe, obwohl ich weiß, dass es das noch nicht ist.
Aber es geschehen jetzt so Dinge, opportunistisches Gebaren, Frechheiten; Dinge, die man dachte, würde ein anderer machen, werden gar nicht mehr dran gedacht. Also es ist schon so, dass man einfach auch vergrault wird nach soundsoviel Jahren."
215 Premieren seit 1981, 85%ige Auslastung der Sitzplätze, 1,7 Millionen Theaterbesucher. Ungezählt die Gäste der Kulturinsel.
Als spiritus rector der Kulturinsel 80 Eigeninszenierungen plus Auftritte. Und nebenbei noch Häuser besorgt, Material organisiert, Übersicht behalten. Mit dem Auto ein mal um die Erde.
"Die Kurzfassung?! In der DDR hat man sich die Aufbautätigkeit, das war ein freudiger Prozess. War immer ein freudiger Prozess dann, wenn man das Brett endlich bekam, nach dem man sich sehnte, hatte man eine Freude."
Zu Ost-Zeiten gab er den Slogan aus: "Einer für alle, alle für Halle und nichts mehr für Berlin." Das öffnete manche Handwerker-Tür. Mit dem Westen kamen das Material und neue Bedenkenträger.
"Der Bedenkenträger des Ostens wollte sich nicht in die Politik einmischen und hielt sich immer fern. Der Bedenkenträger des Westens, da hat man noch gar keine neue Idee gesagt, da sagt der "Aber". "
Kain und Aber, Sodann setzte sich durch. Regelte nach der Wende Besitzansprüche, kämpfte und lockte, fluchte und lachte. Geschichten von damals. Die von heute klingen anders, neu: Entlassungen en masse.
"Ich find's bloß schändlich, wenn Leute meinen, sie müssten das unbedingt am Personal einsparen, weil dann vertreten sie nur sich selbst. Und das geht nicht."
Sodann kommt in Fahrt. Er hatte all die Jahre Entlassungen verhindert, sparte anders. Die Poesie der Politik geht ihm ab. Das Theater definierte sich hauptsächlich über sein Ensemble, die Kulturinsel über das Theater.
Die Kulturinsel in Halle, es ist tatsächlich eine Kulturinsel, ist 3.838 Quadtratmeter groß. Im vergangenen Jahr wurde sie fertig.
"Hm, 81 habe ich angefangen zu bauen, zu denken habe ich angefangen 1980. Ja, der gedankliche Vorlauf ist ja wichtig! Das heißt also, ich habe 25 Jahre dran gearbeitet, ja, und nun muss ich gehen. "
Zweites Bild: Sodann lacht in der Maske. Oder: Was die Kulturinsel der Stadt Halle gebracht hat.
"Hm, … ich denke mehr, als die Stadt denkt. (lacht) Also die behauptet zwar was anderes, weil sie das runterspielen muss, also nicht die Stadt, einige Stadtverordnete behaupten etwas anderes. Ich denke, dass durch die Kulturinsel die Stadt erstmal wesentlich bekannter geworden ist. Zumindest fahren wir im Jahr 50 Städte ungefähr im Westen unseres Vaterlandes an. Da weiß man nun schon, wo Halle liegt. Sonst immer, Halle liegt bei Leipzig. Da hat die Kultur mit zu beigetragen, dass man nicht mehr "bei Leipzig" sagt."
Der Maskenbildner in Leipzig hat leichtes Spiel bei Sodann.
"Nee, das ist ja ein bisschen mehr. Kulturinsel soll bedeuten, sich wohl zufühlen auf einer Insel. Denn derjenige, der mit seinem Schiff strandet, noch irgendwie einen Holzbalken oder etwas schwimmbares erwischt, und nach Tagen auf einmal eine Insel sieht, wo er sicht aufhalten kann, fühlt sich erstmal wohl. (lacht) Ja, denke ich mir."
Sodann sieht schon wie Ehrlicher aus, weil Ehrlicher immer auch wie Sodann aussieht.
"Dieses Wort Kulturinsel wurde ja früher kritisiert und jetzt auch. Aber ich finde, dass sehr viele Menschen - dazu gehöre ich vielleicht auch noch - im Meer der Dummheit schwimmen. Und wenn man dann eine Insel findet, auf der man vielleicht seine eigene Dummheit etwas erklärt kriegt oder durch das, was man da sieht, einsichtsvoller wird oder sich bestätigt fühlt in seinen Ansichten - deswegen liest man ja normalerweise -, also dann hat das schon einen großen Wert, einen lebenstüchtigen Wert, ja."
Ehrlicher kann ohne seine direkte Art nicht, Sodann auch nicht. Also: Wenn die Kulturinsel in Halle nicht wäre?
"Dann wär Halle um vieles dümmer … einfach so. Und das wissen sogar die Hallenser."
Dümmer im Sinne von ärmer an Lebenslust und Erkenntnis?
"Ja, genau das ist es, ne. Kürzer geht’s nicht. "
Aus dem Spiegel schaut Ehrlicher, Bruno Ehrlicher. Den Namen hat sich Sodann ausgesucht.
"Ja, ist okay. Ich find, ist okay. (Maske) Ich könnte damit leben. (Sodann) Ich ooch. Schon haben wirs. (lacht) Wir drehen heute im Freien."
Drittes Bild: Achtung, Aufnahme! Oder: Weshalb Sodann sich dieser Tage gerne vom Theater in Halle ablenkt und in Leipzig in die Haut von Ehrlicher schlüpft.
Klappe 42/3, die dritte. Eine Gruppe behinderter Kinder trägt Strohballen zu den Pferdeboxen. Am Stalltor tauchen die Tatort-Kommissare Ehrlicher und Kain auf. Nach der Aufnahme teilt Laiendarsteller Daniel jedem begeistert mit, er und Hagen hätten am lautesten gerufen.
Es ist der 39. oder 40. "Tatort" mit Ehrlicher, so genau weiß das Sodann nicht mehr. Die Filmstory ist schnell erzählt: Der am Down-Syndrom leidende Leo wird in einem Freibad ertränkt. Trotz der zahlreichen Gäste findet sich kein Augenzeuge. Die Mutter des Opfers erzählt Ehrlicher und Kain, Leo sollte als Hauptzeuge in einem Prozess aussagen. Für sie, die kandidierende Stadträtin, liegt der Fall klar auf der Hand. Schauplatz Leipzig.
45 Kilometer entfernt, in Halle, hat es auch genug Stoff für einen Krimi. Etwa so: Tatort Kulturinsel. Nach 25 Jahren muss er Alte sein Lebensprojekt verlassen. Die Stadtoberen verweigern dem unbequemen Herren der Insel die Verlängerung des Vertrages. Der junge Nachfolger räumt auf, entlässt, stellt in Frage. Der Alte und der Junge sprechen nicht mehr miteinander. Die Stimmung am Theater ist unerträglich, die Truppe spaltet sich. Fehlt nur noch das Opfer, jedenfalls im Krimi.
Ehrlicher lehnt sich zurück. Jetzt ist Leipzig, die Sonne strahlt und Daniel begrüßt ihn zum 97. Mal mit einem kollegialen "Hallo" und Handschlag.
Viertes Bild: Abschminken. Oder: Wieso unsichtbare Narben manchmal dennoch einiges zu erzählen haben.
"Mit dem Abgang ist es auch nichts anders. Da muss man sich die Träume, die man sich eigentlich gedacht hat für die Weiterentwicklung des Theaters, so wie ich jetzt sehe, abschminken."
Ehrlicher wischt sich die Creme von der Schläfe. Ohne Sodann wäre die Kulturinsel in Halle nicht aufgetaucht. Fertig, aus.
"Das ist sehr schade, weil - wie gesagt - ich hatte ja gedacht, ich mache ein intelligentes Volkstheater. Aber jetzt habe ich den Eindruck, die anderen machen … ich weiß nicht, was es ist, nur nicht das, was ich mir gedacht habe. Nun, das wird ja immer vorkommen, aber man muss nicht unbedingt das, was gut war oder was heute noch gut ist, alles wegschmeißen. Das macht man nicht."
Der Spiegel schweigt.
"Oder sagen wir es andersrum, dass die Arbeit, wie Herr Hegel sagt, ein Polizist ist. Und wenn es jetzt wenig Arbeitsplätze gibt, will jeder seinen Arbeitsplatz erhalten. Und dann sagt er auch nicht mehr die Wahrheit, sondern heuchelt, lügt oder versucht mit dem Arsch an die Wand zu kommen."
"Und das kann ich begreifen, wenn dann schon Warnungen kommen, du darfst dich nicht mehr mit dem sehen lassen oder irgendwie so, es ist besser, du setzt dich mit dem nicht mehr an den Tisch, weil der Neue kommt, also das ist ja nicht nötig. "
Auf zu neuen Ufern?
"Naja, was bleibt mir anderes übrig. Ich gönne es den anderen eigentlich nicht, dass ich denke, ich muss mich ärgern. (lacht) Da freue ich mich lieber. Ärgern werde ich mich nicht! "
Naja. Auf zu neuen Inseln?
"Oder auf zu neuen Inseln, das geht och. (lacht) So. (Tür auf) Haus verlassen. (Tür zu) Willst du deine Abschminke haben? "
Fünftes Bild: Die Heimfahrt. Oder: Warum Sodann jeder weitere Tag auf der Kulturinsel auf den Keks geht.
"Klaus, fahr los! (Tür zu) "
23.00 Uhr, Leipzig. Abfahrt
Annäherung an Halle, an die, an seine Kulturinsel.
"Oder was wird denn nun alles beseitigt von den Gedanken, die eigentlich in den Mauern stecken? Und da habe ich eben die Befürchtung, dass da nicht viel hängen bleibt in den Mauern. Aber wie gesagt, die Grundmauern werden ja stehen bleiben. Hoffe ich zumindest. "
Hoffnung statt Zuversicht - ist sonst nicht seine Art.
"… weil … ach Gott, lassen wir das. Ich geh da hin und nach Hause und im Juli ist Schluss. Dann ist erst mal Ruhe. "
Akten sortieren, Buch schreiben, noch zwei "Tatorte" in diesem Jahr drehen, Urlaub machen.
"Wie gesagt, ein schwieriger Prozess, aber irgendwann … Schluss, aus! "
Kein Auftritt im "neuen theater", keine Regiearbeit, keine Bücher für die "Bibliothek der DDR-Literatur" besorgen, nichts mehr. Am 2. Juli geht die offizielle Verabschiedung von der Kulturinsel über die Bühne. Vor dem Tag graust es ihm. Der Entlassene muss sich und die Entlassenen verabschieden. Vielleicht mit dem Zitat "Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand"?
"Aber ich werde mich lieber bei den Herrschaften bedanken, dass ich 25 Jahre in Halle (lacht) meine Arbeit leisten durfte. Das ist besser, hm. "
Kunstpause, herausfordernder Blick - als wäre man ertappt worden. Typisch Sodann.
"Das Dilemma ist ja, dass wir immer Leute wählen, die, wenn sie gewählt sind, denken, sie sind klug, sonst wären sie ja nicht gewählt worden. Das ist ein großes Dilemma. Und dann sind sie nicht mehr lernfähig, sondern sie wissen schon alles. Und da wählen wir eben oftmals auch die ungeeigneten Leute, die sich vordrängen. Naja, damit muss man dann eben auch rechnen. Gott sei Dank, sind wir endlich da. "
Endlich zu Hause. Als die Stadt Halle in seiner Straße Laternenlicht einsparte, wurde sein Haus mit Farbbeuteln beworfen.
"Machts gut, Tschüß. Lebt wohl, gute Fahrt, bis morgen Früh. Erst Früh, dann kommt der Abend. "
Sechstes Bild: Abspann. Oder: Ein Gespräch mit Peter Sodann könnte immer noch viel länger dauern.
Sodann steht im Biergarten des Theaters, zwischen den beiden neuen Denkmalen. Rechterhand Striese, linkerhand Goetz. Letzterer, der schreibende und schauspielernde Seelenarzt Curt Goetz; sagte mal, dass beste an Halle sei der Hauptbahnhof, weil man von ihm Halle verlassen könne.
Das Striese-Denkmal ist wahrscheinlich das einzige auf der ganzen Welt. Striese, Emanuel Striese, aus dem Stück "Der Raub der Sabinerinnen". Jener Theaterdirektor also, dem der Vorwurf der Schmiere nicht erspart blieb, weil er Theater für das Publikum machte. Und der glaubte, Theater sei notwendig und werde gebraucht.
Platz für ein drittes Denkmal wäre noch. Vielleicht für den Gründungsintendanten der Kulturinsel?
"Naja, also das würde hier den Aufgang etwas behindern. Das wird nicht vorkommen. Ich glaube, die Nachfolgenden, die hier einziehen, werden das schon zu verhindern wissen. Zweitens: Vielleicht bin ich auch zu eitel. Und Drittens … Obwohl, man ist ja immerhin der Erbauer. Da ist es eigentlich gar nicht zu eitel. Vielen Erbauern wurde ein Denkmal irgendwann mal errichtet. (lacht) Möglicherweise (lacht) Ich muss schon wieder Lachen. Wenn ich dazwischen stehe … Ach Gott. "
Über dem Kopf von Sodann hängt ein riesiges Spruchband.
"40 Jahre haben wir auf den Kapitalismus gewartet. Worauf warten wir jetzt? "
Kleine Kunstpause, spöttischer Blick.
"Das heißt also: ein Aufruf zur Tätigkeit und nicht aufs Warten. "
Sodann, Peter Sodann, Chef der Kulturinsel in Halle, und wie er sagt, nun des Territoriums verwiesen. Nach 25 Jahren.
Auf der anderen Seite der Kulturinsel kann jeder in einen Spiegel schauen. Wer sich ins Gesicht sieht, liest auch den Spruch: "Die edelste Beschäftigung ist der Mensch?"
An die Theaterkatze Susi erinnert übrigens ein Stein im Biergarten des Theaters. Sie gehörte 20 Jahre lang zum Theater, hinter und vor den Kulissen.
"Sie war wirklich eine Theaterkatze. Sie hat, naja, sie hat manchmal mitgespielt im "Hamlet". Und Hamlet hat manchmal gar nicht gemerkt, warum die Leute lachen, weil sie gerade um seine tote Mutter herum schlich. Das klingt jetzt ein wenig nach Schmiere, aber es hat irgendwie auch was. "
Andere haben Inseln entdeckt, er hat eine an Land gezogen - die Kulturinsel. Peter Sodann. Initiator, Antreiber, Gestalter, Rackerer. Chef und Mitarbeiter in Personalunion. 25 Jahre lang.
Ein großes Häuserareal nur der Kultur - einmalig hierzulande. Schauspielbühnen und Café, Galerie und Restaurant, Hoftheater und Veranstaltungsräume, Hotel und 1.Mai-Demo, "Bibliothek der DDR-Literatur" und Lesesaal.
"Was du nicht selber tust, dass tut für dich kein anderer" steht über dem Bühneneingang. Die Kulturinsel - unter Sodann ein Marktplatz der Aufklärung.
Schnitt, harter Schnitt. Foyer des Theaters. Das Faltblatt für Juni/Juli. Auf zwei Seiten reiht es 24 Personen auf, die gehen. 21 haben den Laufpass bekommen. Peter Sodann ist die Nummer 19 und einer von 14 gekündigten Schauspielern. Das ist ein Drittel des Ensembles.
Nächster Schnitt. Ein Transparent überspannt die Seitenstraße. Es zählt zig Stücke auf, die bis zum 10. Juli "abgespielt" werden. "Abgespielt" heißt abgesetzt. Von 37 Stücken werden 31 "abgespielt".
Peter Sodann geht, der Intendant und Schauspieler muss gehen. Politiker haben es so beschlossen. Erste Maßnahmen des Nachfolgers: Mitarbeiter entlassen, Stücke absetzen, Einrichtungen in Frage stellen. Für März war ein Konzept angekündigt, bis dato nur die Einschnitte mitgeteilt.
Mit ihm keine Aufnahmen im Theater, teilt Sodann entschieden mit, als er für diese Sendung zusagt. Klartext in Sachen Abgang und Umstände. Der Intendant, Schauspieler und Regisseur Sodann wird gehen, der "Tatort"-Kommissar Ehrlicher wird bleiben.
"Jetzt müssen wir erstmal hier raus. Schulstraße hoch. Aus den Bedrängnissen raus. Wir fahren, du weißt, wie es geht, Klaus. "
Erstes Bild: Sodann verlässt das Theater. Oder: Warum der Hausherr bei der Abfahrt zum Drehort in Leipzig keinen Blick zurück auf die Kulturinsel wirft.
"Nee, weil das nicht mehr geht. Ich hoffe, ich hoffe, dass ich diese "Angelegenheit" hinter mich gebracht habe, obwohl ich weiß, dass es das noch nicht ist.
Aber es geschehen jetzt so Dinge, opportunistisches Gebaren, Frechheiten; Dinge, die man dachte, würde ein anderer machen, werden gar nicht mehr dran gedacht. Also es ist schon so, dass man einfach auch vergrault wird nach soundsoviel Jahren."
215 Premieren seit 1981, 85%ige Auslastung der Sitzplätze, 1,7 Millionen Theaterbesucher. Ungezählt die Gäste der Kulturinsel.
Als spiritus rector der Kulturinsel 80 Eigeninszenierungen plus Auftritte. Und nebenbei noch Häuser besorgt, Material organisiert, Übersicht behalten. Mit dem Auto ein mal um die Erde.
"Die Kurzfassung?! In der DDR hat man sich die Aufbautätigkeit, das war ein freudiger Prozess. War immer ein freudiger Prozess dann, wenn man das Brett endlich bekam, nach dem man sich sehnte, hatte man eine Freude."
Zu Ost-Zeiten gab er den Slogan aus: "Einer für alle, alle für Halle und nichts mehr für Berlin." Das öffnete manche Handwerker-Tür. Mit dem Westen kamen das Material und neue Bedenkenträger.
"Der Bedenkenträger des Ostens wollte sich nicht in die Politik einmischen und hielt sich immer fern. Der Bedenkenträger des Westens, da hat man noch gar keine neue Idee gesagt, da sagt der "Aber". "
Kain und Aber, Sodann setzte sich durch. Regelte nach der Wende Besitzansprüche, kämpfte und lockte, fluchte und lachte. Geschichten von damals. Die von heute klingen anders, neu: Entlassungen en masse.
"Ich find's bloß schändlich, wenn Leute meinen, sie müssten das unbedingt am Personal einsparen, weil dann vertreten sie nur sich selbst. Und das geht nicht."
Sodann kommt in Fahrt. Er hatte all die Jahre Entlassungen verhindert, sparte anders. Die Poesie der Politik geht ihm ab. Das Theater definierte sich hauptsächlich über sein Ensemble, die Kulturinsel über das Theater.
Die Kulturinsel in Halle, es ist tatsächlich eine Kulturinsel, ist 3.838 Quadtratmeter groß. Im vergangenen Jahr wurde sie fertig.
"Hm, 81 habe ich angefangen zu bauen, zu denken habe ich angefangen 1980. Ja, der gedankliche Vorlauf ist ja wichtig! Das heißt also, ich habe 25 Jahre dran gearbeitet, ja, und nun muss ich gehen. "
Zweites Bild: Sodann lacht in der Maske. Oder: Was die Kulturinsel der Stadt Halle gebracht hat.
"Hm, … ich denke mehr, als die Stadt denkt. (lacht) Also die behauptet zwar was anderes, weil sie das runterspielen muss, also nicht die Stadt, einige Stadtverordnete behaupten etwas anderes. Ich denke, dass durch die Kulturinsel die Stadt erstmal wesentlich bekannter geworden ist. Zumindest fahren wir im Jahr 50 Städte ungefähr im Westen unseres Vaterlandes an. Da weiß man nun schon, wo Halle liegt. Sonst immer, Halle liegt bei Leipzig. Da hat die Kultur mit zu beigetragen, dass man nicht mehr "bei Leipzig" sagt."
Der Maskenbildner in Leipzig hat leichtes Spiel bei Sodann.
"Nee, das ist ja ein bisschen mehr. Kulturinsel soll bedeuten, sich wohl zufühlen auf einer Insel. Denn derjenige, der mit seinem Schiff strandet, noch irgendwie einen Holzbalken oder etwas schwimmbares erwischt, und nach Tagen auf einmal eine Insel sieht, wo er sicht aufhalten kann, fühlt sich erstmal wohl. (lacht) Ja, denke ich mir."
Sodann sieht schon wie Ehrlicher aus, weil Ehrlicher immer auch wie Sodann aussieht.
"Dieses Wort Kulturinsel wurde ja früher kritisiert und jetzt auch. Aber ich finde, dass sehr viele Menschen - dazu gehöre ich vielleicht auch noch - im Meer der Dummheit schwimmen. Und wenn man dann eine Insel findet, auf der man vielleicht seine eigene Dummheit etwas erklärt kriegt oder durch das, was man da sieht, einsichtsvoller wird oder sich bestätigt fühlt in seinen Ansichten - deswegen liest man ja normalerweise -, also dann hat das schon einen großen Wert, einen lebenstüchtigen Wert, ja."
Ehrlicher kann ohne seine direkte Art nicht, Sodann auch nicht. Also: Wenn die Kulturinsel in Halle nicht wäre?
"Dann wär Halle um vieles dümmer … einfach so. Und das wissen sogar die Hallenser."
Dümmer im Sinne von ärmer an Lebenslust und Erkenntnis?
"Ja, genau das ist es, ne. Kürzer geht’s nicht. "
Aus dem Spiegel schaut Ehrlicher, Bruno Ehrlicher. Den Namen hat sich Sodann ausgesucht.
"Ja, ist okay. Ich find, ist okay. (Maske) Ich könnte damit leben. (Sodann) Ich ooch. Schon haben wirs. (lacht) Wir drehen heute im Freien."
Drittes Bild: Achtung, Aufnahme! Oder: Weshalb Sodann sich dieser Tage gerne vom Theater in Halle ablenkt und in Leipzig in die Haut von Ehrlicher schlüpft.
Klappe 42/3, die dritte. Eine Gruppe behinderter Kinder trägt Strohballen zu den Pferdeboxen. Am Stalltor tauchen die Tatort-Kommissare Ehrlicher und Kain auf. Nach der Aufnahme teilt Laiendarsteller Daniel jedem begeistert mit, er und Hagen hätten am lautesten gerufen.
Es ist der 39. oder 40. "Tatort" mit Ehrlicher, so genau weiß das Sodann nicht mehr. Die Filmstory ist schnell erzählt: Der am Down-Syndrom leidende Leo wird in einem Freibad ertränkt. Trotz der zahlreichen Gäste findet sich kein Augenzeuge. Die Mutter des Opfers erzählt Ehrlicher und Kain, Leo sollte als Hauptzeuge in einem Prozess aussagen. Für sie, die kandidierende Stadträtin, liegt der Fall klar auf der Hand. Schauplatz Leipzig.
45 Kilometer entfernt, in Halle, hat es auch genug Stoff für einen Krimi. Etwa so: Tatort Kulturinsel. Nach 25 Jahren muss er Alte sein Lebensprojekt verlassen. Die Stadtoberen verweigern dem unbequemen Herren der Insel die Verlängerung des Vertrages. Der junge Nachfolger räumt auf, entlässt, stellt in Frage. Der Alte und der Junge sprechen nicht mehr miteinander. Die Stimmung am Theater ist unerträglich, die Truppe spaltet sich. Fehlt nur noch das Opfer, jedenfalls im Krimi.
Ehrlicher lehnt sich zurück. Jetzt ist Leipzig, die Sonne strahlt und Daniel begrüßt ihn zum 97. Mal mit einem kollegialen "Hallo" und Handschlag.
Viertes Bild: Abschminken. Oder: Wieso unsichtbare Narben manchmal dennoch einiges zu erzählen haben.
"Mit dem Abgang ist es auch nichts anders. Da muss man sich die Träume, die man sich eigentlich gedacht hat für die Weiterentwicklung des Theaters, so wie ich jetzt sehe, abschminken."
Ehrlicher wischt sich die Creme von der Schläfe. Ohne Sodann wäre die Kulturinsel in Halle nicht aufgetaucht. Fertig, aus.
"Das ist sehr schade, weil - wie gesagt - ich hatte ja gedacht, ich mache ein intelligentes Volkstheater. Aber jetzt habe ich den Eindruck, die anderen machen … ich weiß nicht, was es ist, nur nicht das, was ich mir gedacht habe. Nun, das wird ja immer vorkommen, aber man muss nicht unbedingt das, was gut war oder was heute noch gut ist, alles wegschmeißen. Das macht man nicht."
Der Spiegel schweigt.
"Oder sagen wir es andersrum, dass die Arbeit, wie Herr Hegel sagt, ein Polizist ist. Und wenn es jetzt wenig Arbeitsplätze gibt, will jeder seinen Arbeitsplatz erhalten. Und dann sagt er auch nicht mehr die Wahrheit, sondern heuchelt, lügt oder versucht mit dem Arsch an die Wand zu kommen."
"Und das kann ich begreifen, wenn dann schon Warnungen kommen, du darfst dich nicht mehr mit dem sehen lassen oder irgendwie so, es ist besser, du setzt dich mit dem nicht mehr an den Tisch, weil der Neue kommt, also das ist ja nicht nötig. "
Auf zu neuen Ufern?
"Naja, was bleibt mir anderes übrig. Ich gönne es den anderen eigentlich nicht, dass ich denke, ich muss mich ärgern. (lacht) Da freue ich mich lieber. Ärgern werde ich mich nicht! "
Naja. Auf zu neuen Inseln?
"Oder auf zu neuen Inseln, das geht och. (lacht) So. (Tür auf) Haus verlassen. (Tür zu) Willst du deine Abschminke haben? "
Fünftes Bild: Die Heimfahrt. Oder: Warum Sodann jeder weitere Tag auf der Kulturinsel auf den Keks geht.
"Klaus, fahr los! (Tür zu) "
23.00 Uhr, Leipzig. Abfahrt
Annäherung an Halle, an die, an seine Kulturinsel.
"Oder was wird denn nun alles beseitigt von den Gedanken, die eigentlich in den Mauern stecken? Und da habe ich eben die Befürchtung, dass da nicht viel hängen bleibt in den Mauern. Aber wie gesagt, die Grundmauern werden ja stehen bleiben. Hoffe ich zumindest. "
Hoffnung statt Zuversicht - ist sonst nicht seine Art.
"… weil … ach Gott, lassen wir das. Ich geh da hin und nach Hause und im Juli ist Schluss. Dann ist erst mal Ruhe. "
Akten sortieren, Buch schreiben, noch zwei "Tatorte" in diesem Jahr drehen, Urlaub machen.
"Wie gesagt, ein schwieriger Prozess, aber irgendwann … Schluss, aus! "
Kein Auftritt im "neuen theater", keine Regiearbeit, keine Bücher für die "Bibliothek der DDR-Literatur" besorgen, nichts mehr. Am 2. Juli geht die offizielle Verabschiedung von der Kulturinsel über die Bühne. Vor dem Tag graust es ihm. Der Entlassene muss sich und die Entlassenen verabschieden. Vielleicht mit dem Zitat "Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand"?
"Aber ich werde mich lieber bei den Herrschaften bedanken, dass ich 25 Jahre in Halle (lacht) meine Arbeit leisten durfte. Das ist besser, hm. "
Kunstpause, herausfordernder Blick - als wäre man ertappt worden. Typisch Sodann.
"Das Dilemma ist ja, dass wir immer Leute wählen, die, wenn sie gewählt sind, denken, sie sind klug, sonst wären sie ja nicht gewählt worden. Das ist ein großes Dilemma. Und dann sind sie nicht mehr lernfähig, sondern sie wissen schon alles. Und da wählen wir eben oftmals auch die ungeeigneten Leute, die sich vordrängen. Naja, damit muss man dann eben auch rechnen. Gott sei Dank, sind wir endlich da. "
Endlich zu Hause. Als die Stadt Halle in seiner Straße Laternenlicht einsparte, wurde sein Haus mit Farbbeuteln beworfen.
"Machts gut, Tschüß. Lebt wohl, gute Fahrt, bis morgen Früh. Erst Früh, dann kommt der Abend. "
Sechstes Bild: Abspann. Oder: Ein Gespräch mit Peter Sodann könnte immer noch viel länger dauern.
Sodann steht im Biergarten des Theaters, zwischen den beiden neuen Denkmalen. Rechterhand Striese, linkerhand Goetz. Letzterer, der schreibende und schauspielernde Seelenarzt Curt Goetz; sagte mal, dass beste an Halle sei der Hauptbahnhof, weil man von ihm Halle verlassen könne.
Das Striese-Denkmal ist wahrscheinlich das einzige auf der ganzen Welt. Striese, Emanuel Striese, aus dem Stück "Der Raub der Sabinerinnen". Jener Theaterdirektor also, dem der Vorwurf der Schmiere nicht erspart blieb, weil er Theater für das Publikum machte. Und der glaubte, Theater sei notwendig und werde gebraucht.
Platz für ein drittes Denkmal wäre noch. Vielleicht für den Gründungsintendanten der Kulturinsel?
"Naja, also das würde hier den Aufgang etwas behindern. Das wird nicht vorkommen. Ich glaube, die Nachfolgenden, die hier einziehen, werden das schon zu verhindern wissen. Zweitens: Vielleicht bin ich auch zu eitel. Und Drittens … Obwohl, man ist ja immerhin der Erbauer. Da ist es eigentlich gar nicht zu eitel. Vielen Erbauern wurde ein Denkmal irgendwann mal errichtet. (lacht) Möglicherweise (lacht) Ich muss schon wieder Lachen. Wenn ich dazwischen stehe … Ach Gott. "
Über dem Kopf von Sodann hängt ein riesiges Spruchband.
"40 Jahre haben wir auf den Kapitalismus gewartet. Worauf warten wir jetzt? "
Kleine Kunstpause, spöttischer Blick.
"Das heißt also: ein Aufruf zur Tätigkeit und nicht aufs Warten. "
Sodann, Peter Sodann, Chef der Kulturinsel in Halle, und wie er sagt, nun des Territoriums verwiesen. Nach 25 Jahren.
Auf der anderen Seite der Kulturinsel kann jeder in einen Spiegel schauen. Wer sich ins Gesicht sieht, liest auch den Spruch: "Die edelste Beschäftigung ist der Mensch?"
An die Theaterkatze Susi erinnert übrigens ein Stein im Biergarten des Theaters. Sie gehörte 20 Jahre lang zum Theater, hinter und vor den Kulissen.
"Sie war wirklich eine Theaterkatze. Sie hat, naja, sie hat manchmal mitgespielt im "Hamlet". Und Hamlet hat manchmal gar nicht gemerkt, warum die Leute lachen, weil sie gerade um seine tote Mutter herum schlich. Das klingt jetzt ein wenig nach Schmiere, aber es hat irgendwie auch was. "