Was bleibt in Kundus?

Von Jürgen Webermann |
Das Kapitel Kundus ist für die Bundeswehr abgeschlossen. Zehn Jahre nach Beginn des Einsatzes haben die letzten deutschen Soldaten das Feldlager verlassen. Viele Einheimische bleiben mit Sorge zurück. Vor allem die Afghanen, die für die Deutschen gearbeitet haben, fürchten nun die Rache der Taliban.
Dunkel heben sich die kahlen Berge vom Nachthimmel ab, der Vollmond taucht das Tal des Kundus-Flusses in silbernes Licht. Dies ist die vorderste Front, wenn man so will. Der kleine Posten ist umgeben von einer Mauer aus Kies-Körben und Lehm. Hier halten afghanische Dorfpolizisten die Stellung. Männer mit langen Bärten, wettergegerbten Gesichtern und einfachen Schlappen an den Füßen. Die Kalaschnikow stets im Anschlag.

Denn in den Bergen über dem Tal des Kundus-Flusses sind die Taliban wieder stärker geworden. Ist es richtig, jetzt abzuziehen? Der afghanische Kommandeur des Außenpostens hat Angst.

"Der Abzug ist zu früh. Ich finde, die Deutschen sollten bleiben. Im Moment ist die Lage okay, aber was kommt, wer weiß das schon."

Schwierige Zeiten. Dafür steht der Name Kundus auch in Deutschland. Diese Stadt, diese Provinz im Norden Afghanistans ist für die Bundeswehr zu einem Symbol geworden. Mehr als 20.000 Soldaten waren hier über zehn Jahre im Einsatz. In einem Krieg, der so nie heißen durfte. Mehr als 20 Soldaten sind hier gefallen.

Verteidigungsminister de Maiziere bei der offiziellen Übergabe des Feldlagers Kundus Anfang Oktober:

"Hier wurde aufgebaut und gekämpft, geweint und getröstet, getötet und gefallen."

Während de Maizière spricht, knattern Hubschrauber über das Feldlager. Ein Zeppelin überwacht jede Bewegung im Umkreis von Kilometern. Angeblich haben sich Taliban in der Nähe in Stellung gebracht, aber das lässt sich nicht überprüfen. Kein afghanischer Soldat darf zur Zeremonie mit Waffen antreten. Zu groß ist die Angst der Bundeswehr vor eingeschleusten Taliban – Attentätern in Uniform, die in Afghanistan nach wie vor jederzeit zuschlagen können.

Kundus, im März dieses Jahres: Es ist ein warmer Frühlingsmorgen. Qyamuddin ist gerade aufgewacht. In der Tür steht seine Schwester, sie ist aufgeregt. In der Hand trägt sie einen Brief, der unter dem Eingangstor lag. Das ungewöhnliche Schreiben ist adressiert an Qyamuddin.

"Sehen Sie, hier steht mein Name. Du bist Qyamuddin. Und Du hast für die deutsche Armee als Spion und Übersetzer gearbeitet. Du musst uns über alles berichten, was Du dort getan hast. Ansonsten erwartet Dich der Tod."

Unter dem Brief prangt ein Stempel. Islamisches Emirat Afghanistan steht da – so haben die Taliban ihren Staat stets genannt. Qyamuddin bringt den Brief sofort zur Polizei. Aber die Beamten sagen, sie könnten nichts für ihn tun.

"Die Polizei sagte nur: Du musst jeden Tag Deine Wohnung wechseln. Deswegen habe ich Sie – den deutschen Journalisten – auch nicht in meinem Haus empfangen. Das bringt nur Probleme."

Von seinem Vorgesetzten erhielt er ein Dankeschön. Das war alles
Den Tag im März, den Schock am frühen Morgen wird Qyamuddin wohl nie vergessen. Seit jenem Tag lebt der 23 Jahre alte Student in Angst, schon mehr als ein halbes Jahr lang. Für das Interview mit dem Journalisten aus Deutschland hat er Vorkehrungen getroffen. Qyamuddin wartet auf einer belebten Straße mitten in Kundus. Nur der afghanische Begleiter darf ihn dort begrüßen. Die beiden springen in eine Autorikscha und lotsen den Reporter zum Haus eines Freundes. Qyamuddin will unbedingt Aufmerksamkeit vermeiden. Am Vortag haben Taliban mitten in Kundus einen hohen Beamten erschossen.

Qyamuddin zeigt ein Video. Ein Lastwagen ist darauf zu sehen, afghanische und auch deutsche Soldaten.

"Mein Vorgesetzter der Bundeswehr überprüft hier, wie Diesel an die afghanische Armee verteilt wird. Und hier können Sie sehen, dass ich gerade für den deutschen und den afghanischen Offizier übersetze."

Ende 2012 wurde die Einheit, für die Qyamuddin gearbeitet hatte, abgezogen. Von seinem Vorgesetzten erhielt er ein Dankeschön. Das war alles. Nach dem Warnbrief der Taliban wandte sich Qyamuddin an die Bundeswehr. Das war im Sommer.

"Ich hatte ein Gespräch mit dem Kommandeur des Feldlagers. Er hat alle meine Papiere kopiert und gesagt, er werde alles ins Hauptquartier nach Mazar-i-Sharif schicken."

Seitdem hat Qyamuddin von den Deutschen nichts mehr gehört.

Auf dem Teppichboden hat sich Alliullah dazu gesetzt und nippt an seinem Tee. Alliullah ist 27. Er hat auf einer Privatschule Englisch gelernt. Die Deutschen zahlten auch ihm ein gutes und sicheres Gehalt. Aber der Job war gefährlich.

"Manchmal habe ich Seite an Seite mit den Soldaten im Feld gearbeitet und an Operationen gemeinsam mit den afghanischen Einheiten teilgenommen, als Dolmetscher. Ich hatte sogar eine Uniform wie die Deutschen. Und die Leute haben gesehen: Ich bin Afghane, aber Soldat der Deutschen."

Kaum hatte Alliullah seinen Dienst für die Bundeswehr beendet, kamen die Drohanrufe. Alliullah hat eine Aufstellung der erhaltenen Anrufe bei der afghanischen Telekom angefordert. Er ging damit zur Polizei.

"Als wir das überprüft haben, kam heraus: Die Person, die mich immer wieder angerufen hat, benutzte eine nicht registrierte Telefonkarte."

So konnte die Polizei den Anrufer nicht ausfindig machen. Nur den Standort: den Distrikt Chardarrah, eine Hochburg der Taliban.

"Seitdem wechsele ich ständig meine Adresse, damit mich die Taliban nicht finden. Ich komme bei Verwandten unter. Jede Nacht bei anderen Menschen."

"Ich will nur ein sicheres Leben"
Die Bundeswehr hat Alliullah inzwischen immerhin angerufen. Er hatte die Deutschen um Hilfe gebeten. Aber der zuständige Soldat murmelte nur etwas von "minderschwerem Fall", empört sich Alliullah.

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Bundeswehr und die Bundesregierung die Ängste ihrer ehemaligen Mitarbeiter in Kundus bewerten, muss man nach Mazar-i-Sharif fliegen, ins Hauptquartier der Deutschen in Afghanistan. General Michael Vetter prüft hier jeden Einzelfall. Auch den von Alliullah und den von Qyamuddin.

"Sie müssen wissen, dass diese Briefe wie Kettenbriefe an Mitarbeiter von Regierungsorganisationen, an ISAF-Mitarbeiter verteilt werden, was nicht unmittelbar sofort bedeutet, dass diese Menschen akut bedroht sind."

Ein Kettenbrief, mit Namen versehen und unter die eigene Haustür geschoben? Drohanrufe, direkt aus dem Distrikt, in dem Taliban schalten und walten können, wie sie wollen?

"Nach 194 Fällen hat man ein gutes Gefühl dafür, wo wirklich unmittelbarer Handlungsbedarf besteht, und wo man sagen muss: Da ist was dran. Oder dass man sagt: Das ist aber nicht so, dass er wirklich Gefahr läuft, tatsächlich morgen ermordet zu werden."
Bis Ende September haben 23 Afghanen die Erlaubnis erhalten, nach Deutschland zu kommen. Andere erhalten einen Vertrag bei der Bundeswehr in Mazar-i-Sharif oder beim neuen deutschen Konsulat dort. Dann jedoch die Kehrtwende, auch bei General Vetter: Ende Oktober kündigt er an, bis zu 180 Afghanen dürften ausreisen. Ob Qyamuddin und Alliullah darunter sind, wissen sie noch nicht. Sie haben Anrufe von der Bundeswehr erhalten und sollen noch einmal vorsprechen, so sagt es Qyamuddin. Die beiden hoffen, aus Kundus heraus zu kommen. Qyamuddin sagt, er würde gerne weiter studieren. Aber an die Universität in Kundus traut er sich nicht mehr. Sein Draht nach draußen ist einzig das Internet.

"Ich will nur ein sicheres Leben. Das ist wichtig für mich. Als ich meinen Job angetreten habe, da hoffte ich, dass die Sicherheitslage in Kundus besser werden würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es wird von Tag zu Tag schlimmer."

In Reih´ und Glied marschieren sie, viele noch mit einem etwas unsicheren Gesichtsausdruck: die Männer, die in Kundus und anderswo in Afghanistan für Sicherheit sorgen und Bürger wie Qyamuddin und Alliullah schützen sollen. Grüne Mützen, grüne Uniformen, die afghanischen Farben auf die Ärmel genäht. Ihre Polizeikaserne haben die Deutschen gebaut. Jetzt lässt General Andrabi hier Rekruten ausbilden. Heute verabschiedet er 250 angehende Polizisten.

Fast 2000 Polizisten wurden dieses Jahr getötet
Auf diese Männer baut der Norden Afghanistans nach dem Abzug der Deutschen. Die meisten sind Analphabeten. Sie können gerade mal Nummernschilder von Autos entziffern. Einfache Leute, die auf ein regelmäßiges Einkommen hoffen, so wie Mohammad. Er ist 21 Jahre alt und hat bisher fast nur als Flüchtling im Iran gelebt. Warum er in Kundus ist? Er will einen Beitrag leisten für sein Heimatland.

"Nein, Angst habe ich nicht vor dem Job. Meine Familie ist ja noch im Iran. Und ich bin erst einmal stolz, hier zu sein."

Sein Chef, General Andrabi, wird Mohammed und die anderen Rekruten in alle Winkel des Landes schicken. Sie sollen den Verkehr regeln, Streife gehen und zur Stelle sein, wenn es irgendwo Probleme gibt. Zwei und in manchen Fällen vier Monate hat ihre Ausbildung gedauert. Das System der Crashkurse haben sie von den Deutschen übernommen, die die Polizeischule bereits im August an die afghanischen Kollegen übergeben hatten.

"Wir haben hier zweieinhalb Jahre Seite an Seite gearbeitet. Jetzt sind wir auf uns gestellt. Aber wir haben viel gelernt, Material übernommen und auch die Kaserne hier. Wir haben sehr gut mit den Deutschen zusammen gearbeitet."

Was General Andrabi nicht so offen sagt: Immer häufiger sind es diese Rekruten oder einfache Dorfmilizen, auf die es die Taliban abgesehen haben. Die Polizei ist schlechter ausgerüstet als die Armee. Sie zahlt den höchsten Blutzoll in Afghanistan. Beinahe zweitausend Polizisten, unter ihnen viele Dorfmilizionäre, wurden in diesem Jahr schon getötet.

"Ja klar, gerade hier in Kundus ist die Sicherheitslage nicht so gut. Aber niemand kommt hierher und denkt: Jetzt bin ich Polizist, jetzt werde ich erschossen. Die Moral ist gut. Die Leute sind motiviert."

In einem Außenbezirk von Kundus, "Neue Stadt" heißt er, sind neue Häuser entstanden für die Wohlhabenderen. Aber die Kinder, die aus den Dörfern hier herkommen und zur Schule gehen, müssen in Zelten lernen. Deshalb wird eine richtige Schule gebaut. Mehrere Männer arbeiten noch am Rohbau. Das Geld kommt vom deutschen Steuerzahler. Chef auf dieser Baustelle ist Iqbal Safi, ein Bauunternehmer. Er lebt wie andere Unternehmer auch von der internationalen Hilfe.

"Die deutsche Hilfe ist so wichtig! Hier in der Gegend gab es keine richtige Schule. Die Kinder mussten in der brütenden Hitze ausharren. Aber das wird sich ändern."

Aber während er seine Pläne für den Bau vorstellt, klingt Iqbal nicht mehr so optimistisch – als glaube er nicht daran, dass die Schule bald in Betrieb gehen wird. Die Angst vor den Taliban ist allgegenwärtig.

"Ich fühle mich nicht gut, das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Nach Sonnenuntergang können wir die Stadt nicht mehr verlassen. Und wenn jetzt die deutschen Soldaten noch gehen, dann können Sie sich vorstellen, was passieren wird."

Eine Provinz voller Angst
Auch Mohammad sitzt etwas ratlos in einem kleinen Büro mitten in der Stadt. Seinen richtigen Namen will er nicht verraten. Was er in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut hat, sieht Mohammad in Gefahr. Man kennt ihn hier. Er vermietet mehr als hundert kleine Marktläden in der Stadt. Ahmed gründete sein Unternehmen, kurz bevor die Deutschen nach Kundus gekommen sind. Lange ist alles gut gelaufen. Aber jetzt kippen die Geschäfte.

"Nehmen sie die Shop-Besitzer. Die haben ihre Miete von dem Geld bezahlt, das ihre Söhne bei den Deutschen oder anderen internationalen Organisationen verdient haben. Jetzt müssen viele von ihnen aufgeben. Es kommt nicht mehr genug Geld herein."

Rund tausend Menschen haben rund um Kundus direkt oder indirekt Einkommen von der Bundeswehr oder anderen Organisationen bezogen. Sie waren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ein zweiter Faktor ist die internationale Hilfe, die auch aus Deutschland nach Kundus fließt.

"Jeder meiner Kollegen denkt, dass es problematisch wird nach dem Abzug. Deshalb zögern die meisten auch, hier neues Geld zu investieren. Die internationale Gemeinschaft bedrängt die Regierung, etwas für die Wirtschaft zu tun. Aber wenn die Truppen weg sind - was dann?"
Auch die Bundesregierung weiß um diese Ängste. Die Liste der Projekte, die das Auswärtige Amt in Kundus unterstützt, ist lang. Schulen sind darunter wie die, die in der "Neuen Stadt" gebaut wird, Brücken und Straßen, eine Drogen-Entzugs-Ambulanz und sogar ein Sportstadion. Zur Übergabefeier in Kundus ist auch Außenminister Westerwelle angereist.

"Deutschland lässt Afghanistan auch in den Jahren nach 2014 nicht im Stich. Unser Engagement bekommt ein neues, ein zivileres Gesicht."
Früher Morgen an der Straße zwischen Kundus und Mazar-i-Sharif: 160 Kilometer sind es von dem Feldlager, das die Deutschen aufgegeben haben, bis zum riesigen Hauptquartier.

"Weißt Du, wir wollen hier nur in Frieden leben. Und wir wünschen Euch, dass Ihr heil wieder nach Hause kommt."

Zurück bleibt eine Provinz voller Angst.

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