Ein Todestag im Schatten von Missbrauchsvorwürfen
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Todestage von Musikern sind eigentlich Anlässe, Mensch und Musiker neu zu würdigen. Zehn Jahre nach Michael Jacksons Tod fällt die Neuwürdigung ganz anders aus: Was bleibt vom King of Pop, nach den Missbrauchsvorwürfen der Doku "Leaving Neverland"?
"I wanna be able to speak the truth as loud as I had to speak the lie."
Die Wahrheit erzählen, genauso laut, wie er früher für Michael Jackson gelogen hat. Wade Robson ist einer der beiden Männer, die in "Leaving Neverland" Michael Jackson sexuellen Missbrauch vorwarfen.
Man muss das noch mal deutlich sagen: Keine Beweise, nur Behauptungen, die in "Leaving Neverland" zu hören sind, aber: sehr glaubhaft vorgetragene Behauptungen! Was machen diese Vorwürfe mit Michael Jackson als "King of Pop"? Hat seine Musik nach solchen Anschuldigungen überhaupt noch eine Chance?
Ein anderer King, nämlich Drake, der King of Hip-Hop, hatte nach den neuen Anschuldigungen jedenfalls schnell Konsequenzen gezogen: "Don't Matter To Me", ein Song, in dem alte Gesangsspuren von Michael Jackson eingearbeitet wurden, gehört nicht mehr zur Setlist bei Drakes Konzerten.
Alina: "Das Traurigste daran - dass man einen Jugendheld verliert"
Bloß keine Kontroverse anzetteln, heißt die Devise. Aber was ist in Deutschland, wo Michael Jackson zeit seines Lebens auch ein Superstar war, was hat "Leaving Neverland" da ausgelöst?
"Ja, das war ganz furchtbar für mich. Also, ich habe mir das alles angeguckt, ich habe mir das hardcoremäßig reingezogen, auch alle Drumherum-Reportagen, Interviews, alles durchforstet, das ganze Internet, weil ich ja wirklich eine Riesen-Michael-Jackson-Fan... war, muss ich dazu sagen, ich bin es jetzt nicht mehr, leider."
Alina Wichmann, die nur unter ihrem Vornamen auftritt und als "deutsche Adele" beworben wird, ist Sängerin. Und sie ist als Fan maßlos enttäuscht. Für ihre Musik hat das keine Folgen, in ihrem Deutschpop klingt nichts nach Michael Jackson, da müssen jetzt also auch keine Einflüsse getilgt werden. Aber:
"Ich hoffe, dass jetzt einer meiner Produzenten nicht zuhört, der sagt immer die ganze Sache ist erlogen und erstunken. Also, die Sachlage sieht für mich eigentlich relativ klar aus, und ich find's sehr bedauerlich und schlimm. Es ist sehr kompliziert, darüber zu reden. Was das Traurigste daran ist, dass man so einen Jugendheld verliert, der ist wirklich für mich wie gestorben. Und ich kann mir die Musik auch immer noch nicht anhören. Ich bin jetzt noch zu verletzt und hoffe, dass ich die Songs wieder hören kann irgendwann."
DJ: "Dann kann ich ja eigentlich gar nichts mehr spielen"
Nachgefragt beim Streamingdienst Spotify: Hat sich in Sachen Michael Jackson vielleicht bei ihnen etwas geändert? Wird Michael Jackson in Deutschland nicht mehr gehört oder nicht mehr so oft gehört, seit "Leaving Neverland" im April ausgestrahlt wurde? Die Antwort kommt schriftlich: Nichts habe sich geändert, zumindest nicht bei den Streams, da gäbe es keinen Einbruch, alles beim Alten. "Billie Jean" - der meistgestreamte Jackson-Song 2019.
"Billie Jean" hat auch Emilia Thalheim auf der Festplatte. Unter dem DJ-Namen James Blond legt die Berlinerin seit über 15 Jahren auf allen möglichen Partys auf, "Music for the Masses", so beschreibt sie ihren Stil. Und da gehört Michael Jackson nach wie vor dazu:
"Also, ich seh das nicht als meine Aufgabe, als DJ zu beurteilen, wie die moralischen Verfehlungen eines Künstlers stehen. Weil bei 90 Prozent der Künstler werde ich es nicht wissen. Und auch bei Michael Jackson verhält es sich ja so, er ist kein verurteilter Straftäter. Das bleibt jetzt jedem selber überlassen, zu beurteilen, welche Fehler er sich da geleistet hat und aus welchen Gründen oder warum auch nicht. Also, es ist als DJ ja schon schwer genug, manchmal irgendwie über den Abend zu kommen. Und wenn ich jetzt noch beurteilen müsste, welcher Künstler sich was geleistet hat, dann kann ich ja eigentlich gar nichts mehr spielen. Denn da ist ja am Ende die Frage: Wo fängt das an, und wo hört das auf?"
Business as usual auf der Tanzfläche. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass Michael Jacksons Songs Megahits waren, für die sich ganz verschiedene Menschen begeistern konnten, alte und junge, jeder kennt sie, jeder kann sich dazu bewegen. Und natürlich hat Emila Thalheim wie Millionen andere in Deutschland mitbekommen, dass die Doku "Leaving Neverland" Michael Jackson als Missbrauchstäter beschuldigt.
"Aber es gab für mich überhaupt keine Veränderung. Also, es wurde genauso gewünscht, es gab auch niemanden, der kam und meinte, warum spielst du den noch. Nee. Hat auch auf dem Dancefloor keine Rolle gespielt, da kam auch keiner an und hat gefragt, ob ich die Doku gesehen habe oder so. Nee, gar nicht."
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Ein stiller zehnter Todestag
Auffällig ist aber schon: Um den zehnten Todestag von Michael Jackson wird kein großes Brimborium gemacht. Keine Album-Sonderausgaben, kein Aufsehen. Immerhin: Gerade ist die Graphic Novel "Mensch Michael" erschienen. Autorin ist die Berlinerin Karla Schmidt.
"Ich würde mich noch nicht mal als Fan bezeichnen, obwohl ich natürlich, also, das viele, was ich recherchiert habe und weiß, spricht natürlich schon dafür, dass ich ein Fan bin, aber ich finde, 'Fan' hat immer so was von: 'Man findet alles gut, der kann gar nichts Schlechtes machen.'"
Die Geschichten, die Karla Schmidt zusammen mit der Zeichnerin Annette Schmidt erzählt, reichen von den ersten Lebensjahren Michael Jacksons bis zu seinem Tod 2009. Natürlich spielen auch die frühen Missbrauchsvorwürfe eine Rolle, wegen derer Michael Jackson 2005 vor Gericht stand und von einer Jury freigesprochen wurde.
"Er wollte Menschen auf die Schippe nehmen"
Karla Schmidt ist sich sicher, dass er zu Recht freigesprochen wurde – und sie glaubt auch nicht Wade Robson und James Safechuck, den beiden Männern aus "Leaving Neverland". Jackson ist für sie aber durchaus eine in sich widersprüchliche Figur:
"Und er hatte in dieser Ambivalenz auch etwas Tricksterhaftes. Er wollte Menschen auf die Schippe nehmen. Und das ist etwas, das man von ihm gar nicht so kennt. Dass er auch so mit seinem Image gespielt hat, dass er Spaß daran hatte, Leute irgendwie hinter's Licht zu führen, und eigentlich erzählen wir so ein bisschen die Geschichte, wie jemand mit 'ner ganz großen Energie und Lebensfreude und ganz viel Wollen und Können natürlich auch erstens gegen ganz viele Wände von außen gerannt ist, sich selbst aber auch immer wieder Beine gestellt hat und, ja, das Ende ist ja bekannt."
Zumindest das Ende von Michael Jackson: Schmerztabletten, Beruhigungs- und Narkosemittel beendeten am 25. Juni 2009 sein Leben. Wie aber mit ihm und seinem musikalischen Erbe in Zukunft umgegangen wird, ist noch nicht abschließend geklärt.
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