Was der Krieg mit uns macht
Der Krieg durchdringt den Alltag in der Ukraine - und nicht nur da © picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Was selbstverständlich war, ist nun ein Privileg
Die unerträgliche Realität des Krieges in der Ukraine hat die Menschen verändert und die ganze Welt in Schieflage versetzt, sagt Sieglinde Geisel. Was ist das "angemessene" Verhalten angesichts des Leids anderer?
Erst durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine habe ich gemerkt, in welchem Ausmaß ich alle früheren Kriege ausgeblendet habe. Denn diesen Krieg kann ich nicht ausblenden. Auf Twitter erfahre ich Dinge, die ich in keiner Zeitung zu lesen bekomme. Es sind Dinge, die ich lieber nicht wüsste. Ich bin dankbar für die Triggerwarnungen bei den Videos, denn ich habe die Nerven nicht, mich der unerträglichen Realität auszusetzen, die andere ertragen müssen. Das heißt, ich blende auch diesen Krieg aus, ich will ihn nicht in meinen Kopf.
Auf Twitter folge ich etwa Yaroslava Antipina, sie berichtet von dem Leben, das in Kiew nun als normal gilt. #warcoffee ist ihre Chiffre dafür, dass der Krieg noch den banalsten Alltag durchdringt. Auch wenn es ein ruhiger Tag ist, trinkt sie morgens einen Kriegskaffee. Ein ruhiger Tag bedeutet in Kiew: ein Tag ohne Luftalarm, ohne Bomben.
Was ich „angemessenes“ Verhalten angesichts des Krieges?
Auf Twitter betrachte ich das Leid anderer, und ich fühle mich dabei als Versagerin. Wie kann ich mich „angemessen“ verhalten, angesichts der Monstrosität dieses Kriegs? Gibt es ein „angemessenes“ Bewusstsein?
Ich denke an eine Stelle in Katja Petrowskajas "Vielleicht Esther". Die Autorin „besucht“ ihren Großvater, der als Kriegsgefangener im KZ Mauthausen inhaftiert gewesen war, abgemagert auf 49 Kilo. Auf der Tafel der heutigen Gedenkstätte Mauthausen lernt die ukrainische Autorin das deutsche Wort „angemessen“ kennen. „Das gestalterische Konzept unseres Ortes der Information würdigt die Katastrophe in angemessener Weise.“
Der Kommentar der Ich-Erzählerin: „Unerträglich könnte man sagen. Es ist unerträglich. Doch für das Unerträgliche gibt es kein Wort. Wenn das Wort es erträgt, dann ist es auch erträglich.“
Mit Gedanken an den Krieg ins Bett
Das Wort „angemessen“ ist für mich ein Signal geworden, das mir hilft, die Realität zu ordnen: Wenn es für etwas keine angemessenen Worte gibt, dann haben wir es mit etwas zu tun, was nie hätte geschehen dürfen, so Hannah Arendts Diktum. Doch Antworten liefert das Signalwort keine.
Mit Gedanken an den Krieg gehe ich ins Bett, und mit Gedanken an den Krieg stehe ich morgens wieder auf. Ist das angemessen? In den ersten Wochen und Monaten erwachte ich noch mit diesem Alptraumgefühl, als sei nicht wahr, was nicht wahr sein dürfe. Mein Unbewusstes weigerte sich, diese Realität zu akzeptieren.
Nach über einem Jahr Krieg ist mein Bewusstsein getränkt von dieser Realität. Ich versuche mir vorzustellen, wie man im Krieg leben kann. Wie man die ständigen Luftalarme aushält ohne Nervenzusammenbruch. Wenn ich mir vorstelle, meine beiden Söhne, 19 und 23, müssten an die Front, wird mir schlecht.
Vor dem inneren Auge Trümmer
In der Anfangszeit des Kriegs geschah es manchmal, dass ich, wenn ich in eine andere Stadt fuhr, vor meinem inneren Auge alles in Trümmern liegen sah. Das immerhin hat sich wieder gegeben. Aber immer noch wache ich morgens auf und bin dankbar für mein warmes Bett, für meine intakte Wohnung und dafür, dass ich rausgehen kann ohne Angst vor Bomben und Raketen.
Was der Krieg mit mir gemacht hat? Er hat das, was mir selbstverständlich ist, in ein Privileg umgewandelt. Und damit hat er die ganze Welt in Schieflage versetzt.