Was die Mormonen bewegt

Von Stefanie Oswalt |
In den USA sind die Mormonen eine der am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften. Was wenig bekannt ist, inzwischen lebt ungefähr die Hälfte der mehr als 14 Millionen Mormonen außerhalb der USA, 38.000 von ihnen in Deutschland.
"Im September feiern wir 50 Jahre Diözese Berlin. Wir nennen diese Einheit von heute elf Kirchgemeinden und 2500 Mitgliedern einen ‚Pfahl’, also einen Pflock, mit dem man dieses große Zelt der Kirche befestigt und hält."

Sagt David Ruetz, Ratgeber der Pfahlpräsidentschaft und damit der zweitranghöchste Mormone Berlins. Die in den USA ansässige, oberste Kirchenführung wollte 1961 den in West-Berlin eingeschlossenen Mormonen größtmögliche Autarkie ermöglichen.

"Man hat eben nach dem Bau der Mauer dieser besonderen Situation Westberlins Rechnung getragen, indem man eine Diözese geformt hat, damals nur mit rund 1000 Mitgliedern, sechs Gemeinden und einer Militärgemeinde für die US-amerikanischen Angehörigen der Streitkräfte, die Mitglieder unserer Kirche waren."

Sonntag Vormittag, 9:30 Uhr in Berlin Tiergarten. Der schlichte Andachtsraum atmet noch das Flair der 70er-Jahre, als die Mormonen am damaligen Rand der geteilten Stadt ein großes Gemeindezentrum bauten. Eine vielsprachige bunte Gemeinde hat sich versammelt: Mädchen und Frauen in langen Röcken, Männer im weißen Hemd und schwarzen Anzügen.

Missionare aus aller Welt sind darunter, was man an den Namensschildern erkennen kann. Großfamilien begrüßen sich - eine heitere Stimmung liegt über dem Saal. In den nächsten drei Stunden wird die Gemeinde erst das Abendmahl miteinander feiern und dann in der Sonntagsschule ihren Glauben diskutieren.

Die Mormonen bilden eine streng hierarchisch organisierte, männerdominierte Laienkirche, und verstehen sich selbst als die Erneuerer der Christenheit. Die höchsten Ämter bekleiden der Präsident - auch Prophet genannt - und sein zwölfköpfiges Beratergremium, die Apostel. Sie berufen die Amtsträger und schreiben nach dem Glauben der Mormonen auch die Offenbarung Gottes fort. Wichtigstes Buch neben der Bibel ist das Buch Mormon, das dem Gründer der Kirche, dem Amerikaner Joseph Smith, offenbart wurde, und das er im Jahr 1830 veröffentlichte. David Ruetz:

"Das Buch Mormon ist ein Bericht Heiliger Schrift, das den Umgang Gottes mit den Völkern des alten Amerika in einem Zeitfenster von etwa 600 vor Christus bis etwa 400 nach Christus beschreibt und den Besuch des auferstandenen Erretters auf dem amerikanischen Kontinent bei diesem Volk."

Aus dem Buch Mormon leiten sich zahlreiche Glaubensgrundsätze ab, die den Glauben in einer säkularen Welt besonders asketisch erscheinen lassen. Beispielsweise der rigorose Verzicht auf Genussmittel – Zigaretten, Alkohol, Schwarztee und Kaffee.

"Dieser offensichtliche Gesundheitsaspekt hat aber in Wirklichkeit eine tiefe innere Bedeutung. Also die Enthaltsamkeit von ... schädlichen Stoffen für den Körper gipfelt ja darin, dass wir sagen: Dieses Instrument, das wir haben, unseren Körper, den sollen wir best möglichst pflegen."

Dazu gehöre auch voreheliche Keuschheit, sagt Bischof Ralf Bartsch, das geistliche Oberhaupt der Mormonen-Gemeinde in Berlin-Tiergarten – selbst wenn das nicht zeitgemäß sei:

"Ich glaube, dass das eine sehr kostbare Kraft ist, die wir da haben, sowohl männlich als auch weiblich, die eben auch zur Erneuerung dient. Und ich finde es schon schön, wenn diese Kraft auf den Partner konzentriert bleibt ... Aber für uns ist das genauso schwer wie für andere."

Wobei die Betonung auf "den einen Partner" liegt.

"In den Medien kommt aber immer: Das ist ein Mormone und dann ist da natürlich die polygamische Erinnerung gleich deutlich" so Bartsch.

Denn Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Mormonen in den USA verfolgt. Sie flohen durch die Weiten der amerikanischen Prärie, bevor sie sich im Tal des großen Salzsees im Bundesstaat Utah niederließen. Damals war Polygamie überlebenswichtig, glaubt Mormonin Gisela Woite:

"Der Grund aber, weswegen es überhaupt eingeführt worden ist, war, dass damals sehr viele Männer in den Schlachten und Kriegen geblieben sind, und viele Frauen alleine waren, und diese Frauen mussten versorgt werden. Also hat man von der Kirche aus gesagt: Wenn jeder Mann sich mehrerer Frauen annimmt, dann sind alle versorgt, dann sind die Frauen versorgt. Es ging damals nicht um sexuelle Dinge ..."

Vor solchen Verfolgungsschlachten und – Kriegen sind die Mormonen heute sicher. Seit 1890 leben sie – abgesehen von einigen radikalen Splittergruppen in den USA - streng nach den jeweiligen Landesgesetzen. Und das heißt vor allem: monogam. Erstrebenswert ist eine möglichst kinderreiche Familie. Empfängnisverhütung wird pragmatisch toleriert, Abtreibung hingegen abgelehnt. Auch die Geschichte der Familie spielt eine wichtige Rolle. Weltweit verfügen die Mormonen über die größten genealogischen Datenbanken und Archive. Im Tempel können sie sich durch so genannte "Siegelungen" mit ihren verstorbenen Ahnen verbinden. Eheschließungen gelten über den Tod hinaus, sagt David Ruetz:

"In unserer Kirche wird nach der standesamtlichen Trauung, wenn die kirchliche Trauung stattfindet, ein Ehepaar für die Zeit dieses Lebens bis zum Tod und für die Zeit danach eben gesiegelt oder verbunden ... Also auf Gedeih und Verderb sind wir einander ausgeliefert ..."

Die zweistündige Belehrung im Anschluss an den Gottesdienst soll den Glauben festigen und praktische Lebenshilfe bieten. Frauen und Männer arbeiten in getrennten Gruppen, ebenso Kinder und Jugendliche, damit alters- und geschlechtsspezifische Fragen offen diskutiert werden können.

Mormonismus verlangt den Gläubigen ein extrem hohes Engagement ab. Junge Frauen werden 18 Monate, junge Männer gar zwei Jahre auf Mission geschickt. Wohin entscheidet der Prophet in Salt Lake City. Mehr als acht Stunden täglich laufen sie durch die Städte und sprechen Menschen an, um sie für ihren Glauben zu gewinnen.

Dass es bei diesem intensiven Leben in der Kirche für Einzelne psychologisch schwierig sein kann, sich aus der Gemeinschaft zu lösen, zeigt die zuletzt im Juni 2007 aktualisierte Internetseite Ex-Mormonen.de. Gefährlich aber, sagt Michael Utsch von der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, sind Mormonen nicht, sondern:

"Von der Lebenspraxis her vorbildliche Menschen, die auch tolerant sind, mit denen man gut diskutieren kann ..."
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