Was glaubt eigentlich, wer nicht glaubt?
Religion werde wieder vermehrt nachgefragt, behaupten Theologen; die christlichen Kirchen werden allerdings davor gewarnt, daraus für sich neuen Zulauf zu erhoffen. So diffus die geistliche Landschaft unserer säkularisierten Gesellschaft sich entwickelt, so vielgestaltig erweist sich auch der Anteil der sogenannten Konfessionslosen. Deren Zahl ist nach der Vereinigung Deutschlands auf ein Drittel der Bevölkerung hochgeschnellt. Damit hat auch die Auseinandersetzung um atheistische Positionen wieder starkes Interesse gewonnen.
" Ich weiß nicht, was glauben ist. Ich weiß auch nicht, wie man glauben sollte."
"Ich stehe auch in Gott, würde ich einfach sagen. Das ist es."
"Ich möchte es gerne wissen, ob neurophysiologisch es möglich ist, wirklich ob es funktioniert, nichts zu glauben."
" ... weil ich mich so eben als halber Atheist fühle, aber nicht so richtig weiß, was ich glaube."
"Ich konnte meinen nicht mehr begründen, nachdem ich die Bibel einmal von Anfang bis zu Ende lückenlos gelesen habe."
"Ich hab die Bibel nicht in Gänze studiert, und deshalb bin ich vielleicht auch noch gläubig."
Im katholisch sozialen Institut in Bad Honnef bei Bonn sprechen gläubige und nichtgläubige Menschen miteinander über ihre religiösen Einstellungen, was sie glauben oder auch nicht. Die scheinbar widersinnige Frage, der man nachgeht: "Was glaubt denn eigentlich, wer nicht glaubt?"
"Was glaubt denn eigentlich, wer glaubt? Und die Frage nehme ich sehr offen mit, und die beunruhigt mich eigentlich mehr."
"Nur bin ich etwas enttäuscht, dass meine Kirche, was das Denken betrifft, … den Zweifelnden doch ziemlich im Stich lässt."
"Ich hatte gehofft, weil ich ja immer noch suche trotz meines Alters, es würde irgendwie mal eine Gewissheit geben, aber ich erwarte sie nicht mehr."
"Man hat Enkel, die kommen mit Fragen, was glaubst du denn, Opa, fragen die, das kann ich aber nicht glauben, was du mir da alles sagst."
" … dass man durchaus ein guter, humanistisch denkender Mensch sein kann, wenn man nicht an eine Institution in den Wolken glaubt."
Lütz: "Wir reden seit vierzig Jahren über die Gottesfrage, das heißt eigentlich die zentrale Frage überhaupt, ... auch bei allen bioethischen Debatten, Evolutionsdebatten. Die Gottesfrage ist die zentrale Frage: Gibt es Gott oder gibt es Gott nicht?"
Manfred Lütz ist als Psychiater Chefarzt in einem Kölner Krankenhaus und als katholischer Theologe Autor von Bestsellern. In seinem jüngsten Werk mit dem lapidaren Titels "Gott" setzt sich Lütz mit atheistischen Positionen in Geschichte und Gegenwart auseinander:
Lütz: "Es ist gar nicht so einfach, wirklich Atheist zu sein, das heißt, das auch argumentativ richtig begründen zu können. Und es ist im Übrigen auch gar nicht so einfach, argumentativ den Gottesglauben begründen zu können. Man kann natürlich sagen, gut, es ist letztlich alles Gnade Gottes und so weiter, und das ist auch gut, und das ist auch sicherlich richtig. Aber der Mensch ist auch ein Wesen der Vernunft … Und ich denke, man muss sich vor seiner Vernunft schon auch rechtfertigen dafür, dass man nicht irgendeinen Unsinn glaubt."
Lütz geht es also um mehr als nur die Frage, ob der Glaube an Gott der menschlichen Vernunft gemäß ist oder ihr widerstreitet:
Lütz: "Umgekehrt, finde ich, wenn man nicht an Gott glaubt und ein Leben sozusagen ohne Gott führen will, ist auch das eine existentielle Entscheidung, die man vor dem Gerichtshof der Vernunft … begründen muss. Und das ist eine Frage, die aber nicht für Spezialisten ist, sondern ... die Frage nach Gott ist entweder eine Frage für alle oder eine Frage für keinen."
Der Tod sei die Instanz, vor der sich für jeden Menschen unvermeidlich die Frage nach dem Sinn seines Lebens und damit die Frage nach Gott stellt. Lütz ist überzeugt, dass im Grunde jeder Mensch von Natur aus religiös sei:
Lütz: "Ich denke, dass alle Menschen sich mit der Gottesfrage beschäftigen, selbst solche Menschen, die den Ausdruck Gott gar nicht verwenden. Das heißt letztlich, wenn ein Mensch sich verliebt, wenn ein Mensch Sinn erlebt in seinem Leben, wenn er Kunst erlebt, Musik erlebt, dann stellt er im Grunde die Frage nach einem Sinn des Ganzen, und das ist letztlich die Frage nach Gott. Ich glaube also, dass wahrscheinlich in allen Gesellschaften sozusagen die religiöse Grundbefindlichkeit vergleichbar ist."
Tatsächlich finden sich historisch in den meisten, wenn nicht allen Kulturen Jenseitsvorstellungen, Geisterwelten, Götterhimmel, um Weltenstehung und menschlichen Daseinssinn zu verwurzeln. Kirchenvertreter hegen daher gerne die Vorstellung vom "homo religiosus", vom Menschen, der gar nicht anders kann als religiös zu sein. Sie suchen Anknüpfungspunkte bei jenen auszumachen, die nicht – mehr – dazugehören. Sie können nicht glauben, dass es Menschen gibt, die nichts glauben. Und sie halten insofern selbst A-Theisten, Gotteskritiker, Geister-Leugner für Zeugen urmenschlicher Religiosität. Heute berufen sich die Kirchen damit gern auf die Zwei-Drittel-Mehrheitsgesellschaft:
Bergold: "Werfen wir ... einmal einen empirischen Blick auf die religiöse Landschaft, und da …wird deutlich, dass es in Deutschland ungefähr dreißig Prozent sogenannte Konfessionslose gibt, deren Quote pro Jahr um 0,2 bis 0,4 Prozent steigt. Diese Konfessionslosen sind im Westen zum größten Teil Ausgetretene und im Osten schon immer Konfessionslose. Woran glauben diese Menschen?"
Der Direktor des Honnefer Sozial-Instituts Ralph Bergold bezieht sich auf die diesjährige Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft der evangelischen Kirche in Deutschland und auf den "Religionsmonitor" 2008 der Bertelsmann-Stiftung. Deren Ergebnisse werden von beiden christlichen Kirchen als Beleg dafür gewertet, dass die Deutschen denn doch noch ein Volk von Gläubigen seien. Die geistige Landschaft des Minderheiten-Drittels der Konfessionslosen erweisen die beiden Studien als vielgestaltig:
Bergold: "Es gibt eigentlich, zusammengefasst, zwei Typen des Atheismus in Deutschland. Zum einen der Atheismus als Normalverhalten, das heißt ein Leben ohne religiöse Muster, verstärkt im ostdeutschen Bereich zu finden. Und typisch hierzu ist die Antwort eines Jugendlichen, der in Leipzig auf die Frage, ob er katholisch oder evangelisch sei, antwortet: Ich weiß es nicht, ich bin eigentlich ganz normal. Und das zweite: Der Atheismus als Wahlverhalten, das heißt die bewusste Wahl gegen die Kirche, und dieser Typus ist überwiegend im westdeutschen Bereich beheimatet."
Hofbauer: "Ich bin ja evangelisch, und in meiner Kindheit, ich weiß nicht, ob es heut immer noch so ist, ich ging bis zu meinem 19. Jahr regelmäßig, gezwungenermaßen durch meine Eltern, in den Gottesdienst."
Skizziert Ruth Hofbauer aus Wiesbaden einen Umbruch in ihrem Leben.
Hofbauer: "Es ist nichts, es ist zumindest nicht der Glaube an einen übermächtigen Herrn über mir, der mich bis zu meinem 64. Lebensjahr so intensiv begleitet hat, dass ich gedacht hab, ohne ihn nicht sein zu können. Er ist total verschwunden, nachdem ich mich mit dem Text der Bibel auseinandergesetzt hab. … Da sind die grausamsten, masiochistischen, sadomasochistischen Sachen beschrieben, die nur in kranken Gehirnen eigentlich entstehen können, so wie Gott nachher das jüngste Gericht veranstalten wird."
Ganz konsequent denkt sie auch nicht, spätestens am Lebensende werde sich unumgänglich die Gottesfrage ergeben:
Hofbauer: "Ich verstehe mich natürlich ganz biologisch, meine Eltern haben mich gezeugt, meine Mutter hat mich ausgetragen, und wenn ich sterbe, wird alles zu Ende sein. …Wenn das Gehirn stirbt, stirbt auch das, was wir sogenannte Seele nennen. Dann ist einfach nichts mehr da. Es kann nicht sein, dass da etwas bleibt, was weiter lebt und was dann zu Gericht gebeten wird."
Einem Selbstverständnis, wie es hier zum Ausdruck kommt, geht Daniel Böttger wissenschaftlich nach.
Böttger: "Wo finden diese Menschen Orientierung, was lässt sie hoffen, woran halten sie sich auf der Suche nach sinnerfülltem, glücklichem Leben."
Der Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig gehört zu einem Forscherteam, das ein höchst spannendes Experiment auswertet: Das Erzbistum Köln hatte unter dem Titel "Ohne Gott leben. Wie geht das?" ein innovatives Internetprojekt gestartet.
Böttger: "Um einfach mal die Konfessionslosen, die Atheisten, Agnostiker und so weiter zu fragen: Wie kommt ihr eigentlich dazu, erklärt euch doch mal."
Die Aufforderung war wie der Stich in ein Wespennest. Denn es gab weit über tausend Antworten, teils sehr ausführlich, und sie spiegeln, wie es in Leipzig heißt, "ein breites Spektrum des Zweifels, der Enttäuschung, der Kritik, aber auch der Suche nach Religiosität jenseits der etablierten Kirchen".
Böttger: "Die Gottlosen sind ja völlig unerforscht im Vergleich zu anderen Religionen oder Weltanschauungen … Das heißt, wir haben in Deutschland viele, viele Millionen Leute, über deren Weltanschauung im Detail praktisch nichts bekannt ist. … Die Konfessionslosen sind bisher völlig uninteressant gewesen, warum auch immer."
Für die Wissenschaftler in Leipzig eröffnete sich ein bislang völlig unbekanntes Gelände.
Böttger: "Religiöse Indifferenz ist wahrscheinlich das am unzureichendsten erforschte religiöse Phänomen überhaupt. Das gibt’s im Prinzip erst, seitdem die Mauer gefallen ist und man sich angeguckt hat, was in der DDR in den letzten vierzig Jahren passiert ist."
Daniel Böttger zitiert typische Antworten, die auf einen neuen Atheismus deuten:
Böttger: "Gott existiert für mich nicht, was spielt es für eine Rolle, ob etwas existiert, was sich für mich nicht auswirkt. Oder: Im Grunde genommen ist es einfach zu halten: Gott ist irrelevant, ich lebe mein Leben im Hier und Jetzt, genieße es, und dazu brauche ich keinen Glauben."
Diese Einstellung definiere sich, so der Religionswissenschaftler, gerade nicht aus dem Gegensatz zur Gottgläubigkeit:
Böttger: "Eigentlich kann man noch nicht mal sagen, dass da eine religiöse Sensibilität fehlt. .. Es ist etwas, das wird noch nicht mal als Fehlen wahrgenommen, das ist eigentlich völlig unnötig. Also, wie kommt man auf Religion?"
Wolfgang Zuckschwerdt aus Bad Honnef sagt von sich, noch keine Sekunde seines Lebens je geglaubt zu haben:
Zuckschwerdt: "Glaube interessiert mich nicht, er geht mich nichts an, das was mich angeht, ist die politische Auswirkung des institutionierten Glaubens, der Kirchen, die üben politische Macht aus, die meines Erachtens weit über das hinausgeht, was ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechen würde. Und da ist der Punkt, wo ich mit denen in Diskussion oder in Streit gerate, aber nicht im Glauben. Über den rede ich nicht, kann ich nicht, ich weiß nicht, was glauben ist. Ich weiß auch nicht wie man glauben sollte."
Der gelernte Physiker hält Religion für unvereinbar mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Zuckschwerdt ist auch überzeugt, dass moralisches Handeln des Menschen nicht an ein transzendentes Wesen gebunden sei:
Zuckschwerdt: "Religion und Ethik haben nur sehr bedingt miteinander zu tun, Ethik hat sich meiner festen Überzeugung nach, und da stehe ich nicht allein, in der Evolution entwickelt. Tiergattungen haben eine eigene Ethik, wenn sie auch nicht so geistig überhöht wird wie bei uns, aber jedes Rudel Hirsche hat seine Regeln, die sich ausgebildet haben zum Überleben dieser Rasse und dieser Tierart und des einzelnen Individuums, und auf diese Weise hat sich eben auch die Ethik des Menschen entwickelt. Dass dann die Menschen hingegangen sind und haben das geistig überhöht, indem sie das Wort Ethik drübergestülpt haben und das göttlich abgeleitet haben, ist nachträglich eine Erklärung dafür, aber kein Urgrund für die Ethik."
Hofbauer: "Jeder Mensch wird durch seine Familie erzogen, ob religiös oder nicht religiös, was Standards sind. Dass man nicht lügt und betrügt und Menschen nicht verletzt und solche Dinge, das ist einfach in einem drin, ich denke, das war schon in früheren Kulturen drin. Denn wenn man sich da nicht dran gehalten hat, war man ausgegrenzt. Und ich .. bin bestimmt nicht jetzt, nachdem ich meinen Glauben abgelegt habe oder den Glauben an den Gott der alle meine Haare gezählt hat, dass ich da jetzt betrüge oder meine Steuererklärung fälsche oder im Warenhaus Sachen mitnehme oder sonst was Böses tue. Also ich habe mich nicht verändert, im Gegenteil. Ich glaube, dass ich viel ehrlicher geworden bin."
Entschieden weist Ruth Hofbauer den oft erhobenen Vorwurf zurück, Menschen ohne Glauben an Gott lebten ohne Gewissen und Sinn für Verantwortung:
Hofbauer: "Ein Atheist lebt ja viel schwerer, was die Ethik angeht. Ein Christ kann Gott um Verzeihung bitten und fühlt sich dann erleichtert. Wir müssen für alles, was wir tun, selber einstehen beziehungsweise wir müssen dann den Menschen, den wir glauben verletzt zu haben, um Verzeihung bitten. Es ist sehr viel schwieriger, ohne einen Gott, dem man Buße tut, der einem verzeiht, selbst dafür einzustehen, was man anrichtet."
Unsere säkulare Gesellschaft, die häufig genug ihre christlichen Wurzeln beschwört, muss gleichwohl den wachsenden Anteil derer achten, die – wie der Philosoph Jürgen Habermas sagen würde – religiös unmusikalisch sind. Da kommt sogar die Politik ins Grübeln. Der Christdemokrat Andres Schmidt, Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag:
Schmidt: "Die Harmonie zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche erleichtert hat, wird abnehmen. Und es wird sich dann natürlich die Frage stellen, wird die wachsende religiöse Pluralität und der Atheismus oder das Ansteigen des Atheismus eine neue strengere religiöse Neutralität des Staates verlangen. Also, wird demnächst das Bundesverfassungsgericht sagen, wir müssen auf die Präambel, den Gottesbezug verzichten, um die Neutralität stärker herauszukehren?"
"Ich stehe auch in Gott, würde ich einfach sagen. Das ist es."
"Ich möchte es gerne wissen, ob neurophysiologisch es möglich ist, wirklich ob es funktioniert, nichts zu glauben."
" ... weil ich mich so eben als halber Atheist fühle, aber nicht so richtig weiß, was ich glaube."
"Ich konnte meinen nicht mehr begründen, nachdem ich die Bibel einmal von Anfang bis zu Ende lückenlos gelesen habe."
"Ich hab die Bibel nicht in Gänze studiert, und deshalb bin ich vielleicht auch noch gläubig."
Im katholisch sozialen Institut in Bad Honnef bei Bonn sprechen gläubige und nichtgläubige Menschen miteinander über ihre religiösen Einstellungen, was sie glauben oder auch nicht. Die scheinbar widersinnige Frage, der man nachgeht: "Was glaubt denn eigentlich, wer nicht glaubt?"
"Was glaubt denn eigentlich, wer glaubt? Und die Frage nehme ich sehr offen mit, und die beunruhigt mich eigentlich mehr."
"Nur bin ich etwas enttäuscht, dass meine Kirche, was das Denken betrifft, … den Zweifelnden doch ziemlich im Stich lässt."
"Ich hatte gehofft, weil ich ja immer noch suche trotz meines Alters, es würde irgendwie mal eine Gewissheit geben, aber ich erwarte sie nicht mehr."
"Man hat Enkel, die kommen mit Fragen, was glaubst du denn, Opa, fragen die, das kann ich aber nicht glauben, was du mir da alles sagst."
" … dass man durchaus ein guter, humanistisch denkender Mensch sein kann, wenn man nicht an eine Institution in den Wolken glaubt."
Lütz: "Wir reden seit vierzig Jahren über die Gottesfrage, das heißt eigentlich die zentrale Frage überhaupt, ... auch bei allen bioethischen Debatten, Evolutionsdebatten. Die Gottesfrage ist die zentrale Frage: Gibt es Gott oder gibt es Gott nicht?"
Manfred Lütz ist als Psychiater Chefarzt in einem Kölner Krankenhaus und als katholischer Theologe Autor von Bestsellern. In seinem jüngsten Werk mit dem lapidaren Titels "Gott" setzt sich Lütz mit atheistischen Positionen in Geschichte und Gegenwart auseinander:
Lütz: "Es ist gar nicht so einfach, wirklich Atheist zu sein, das heißt, das auch argumentativ richtig begründen zu können. Und es ist im Übrigen auch gar nicht so einfach, argumentativ den Gottesglauben begründen zu können. Man kann natürlich sagen, gut, es ist letztlich alles Gnade Gottes und so weiter, und das ist auch gut, und das ist auch sicherlich richtig. Aber der Mensch ist auch ein Wesen der Vernunft … Und ich denke, man muss sich vor seiner Vernunft schon auch rechtfertigen dafür, dass man nicht irgendeinen Unsinn glaubt."
Lütz geht es also um mehr als nur die Frage, ob der Glaube an Gott der menschlichen Vernunft gemäß ist oder ihr widerstreitet:
Lütz: "Umgekehrt, finde ich, wenn man nicht an Gott glaubt und ein Leben sozusagen ohne Gott führen will, ist auch das eine existentielle Entscheidung, die man vor dem Gerichtshof der Vernunft … begründen muss. Und das ist eine Frage, die aber nicht für Spezialisten ist, sondern ... die Frage nach Gott ist entweder eine Frage für alle oder eine Frage für keinen."
Der Tod sei die Instanz, vor der sich für jeden Menschen unvermeidlich die Frage nach dem Sinn seines Lebens und damit die Frage nach Gott stellt. Lütz ist überzeugt, dass im Grunde jeder Mensch von Natur aus religiös sei:
Lütz: "Ich denke, dass alle Menschen sich mit der Gottesfrage beschäftigen, selbst solche Menschen, die den Ausdruck Gott gar nicht verwenden. Das heißt letztlich, wenn ein Mensch sich verliebt, wenn ein Mensch Sinn erlebt in seinem Leben, wenn er Kunst erlebt, Musik erlebt, dann stellt er im Grunde die Frage nach einem Sinn des Ganzen, und das ist letztlich die Frage nach Gott. Ich glaube also, dass wahrscheinlich in allen Gesellschaften sozusagen die religiöse Grundbefindlichkeit vergleichbar ist."
Tatsächlich finden sich historisch in den meisten, wenn nicht allen Kulturen Jenseitsvorstellungen, Geisterwelten, Götterhimmel, um Weltenstehung und menschlichen Daseinssinn zu verwurzeln. Kirchenvertreter hegen daher gerne die Vorstellung vom "homo religiosus", vom Menschen, der gar nicht anders kann als religiös zu sein. Sie suchen Anknüpfungspunkte bei jenen auszumachen, die nicht – mehr – dazugehören. Sie können nicht glauben, dass es Menschen gibt, die nichts glauben. Und sie halten insofern selbst A-Theisten, Gotteskritiker, Geister-Leugner für Zeugen urmenschlicher Religiosität. Heute berufen sich die Kirchen damit gern auf die Zwei-Drittel-Mehrheitsgesellschaft:
Bergold: "Werfen wir ... einmal einen empirischen Blick auf die religiöse Landschaft, und da …wird deutlich, dass es in Deutschland ungefähr dreißig Prozent sogenannte Konfessionslose gibt, deren Quote pro Jahr um 0,2 bis 0,4 Prozent steigt. Diese Konfessionslosen sind im Westen zum größten Teil Ausgetretene und im Osten schon immer Konfessionslose. Woran glauben diese Menschen?"
Der Direktor des Honnefer Sozial-Instituts Ralph Bergold bezieht sich auf die diesjährige Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft der evangelischen Kirche in Deutschland und auf den "Religionsmonitor" 2008 der Bertelsmann-Stiftung. Deren Ergebnisse werden von beiden christlichen Kirchen als Beleg dafür gewertet, dass die Deutschen denn doch noch ein Volk von Gläubigen seien. Die geistige Landschaft des Minderheiten-Drittels der Konfessionslosen erweisen die beiden Studien als vielgestaltig:
Bergold: "Es gibt eigentlich, zusammengefasst, zwei Typen des Atheismus in Deutschland. Zum einen der Atheismus als Normalverhalten, das heißt ein Leben ohne religiöse Muster, verstärkt im ostdeutschen Bereich zu finden. Und typisch hierzu ist die Antwort eines Jugendlichen, der in Leipzig auf die Frage, ob er katholisch oder evangelisch sei, antwortet: Ich weiß es nicht, ich bin eigentlich ganz normal. Und das zweite: Der Atheismus als Wahlverhalten, das heißt die bewusste Wahl gegen die Kirche, und dieser Typus ist überwiegend im westdeutschen Bereich beheimatet."
Hofbauer: "Ich bin ja evangelisch, und in meiner Kindheit, ich weiß nicht, ob es heut immer noch so ist, ich ging bis zu meinem 19. Jahr regelmäßig, gezwungenermaßen durch meine Eltern, in den Gottesdienst."
Skizziert Ruth Hofbauer aus Wiesbaden einen Umbruch in ihrem Leben.
Hofbauer: "Es ist nichts, es ist zumindest nicht der Glaube an einen übermächtigen Herrn über mir, der mich bis zu meinem 64. Lebensjahr so intensiv begleitet hat, dass ich gedacht hab, ohne ihn nicht sein zu können. Er ist total verschwunden, nachdem ich mich mit dem Text der Bibel auseinandergesetzt hab. … Da sind die grausamsten, masiochistischen, sadomasochistischen Sachen beschrieben, die nur in kranken Gehirnen eigentlich entstehen können, so wie Gott nachher das jüngste Gericht veranstalten wird."
Ganz konsequent denkt sie auch nicht, spätestens am Lebensende werde sich unumgänglich die Gottesfrage ergeben:
Hofbauer: "Ich verstehe mich natürlich ganz biologisch, meine Eltern haben mich gezeugt, meine Mutter hat mich ausgetragen, und wenn ich sterbe, wird alles zu Ende sein. …Wenn das Gehirn stirbt, stirbt auch das, was wir sogenannte Seele nennen. Dann ist einfach nichts mehr da. Es kann nicht sein, dass da etwas bleibt, was weiter lebt und was dann zu Gericht gebeten wird."
Einem Selbstverständnis, wie es hier zum Ausdruck kommt, geht Daniel Böttger wissenschaftlich nach.
Böttger: "Wo finden diese Menschen Orientierung, was lässt sie hoffen, woran halten sie sich auf der Suche nach sinnerfülltem, glücklichem Leben."
Der Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig gehört zu einem Forscherteam, das ein höchst spannendes Experiment auswertet: Das Erzbistum Köln hatte unter dem Titel "Ohne Gott leben. Wie geht das?" ein innovatives Internetprojekt gestartet.
Böttger: "Um einfach mal die Konfessionslosen, die Atheisten, Agnostiker und so weiter zu fragen: Wie kommt ihr eigentlich dazu, erklärt euch doch mal."
Die Aufforderung war wie der Stich in ein Wespennest. Denn es gab weit über tausend Antworten, teils sehr ausführlich, und sie spiegeln, wie es in Leipzig heißt, "ein breites Spektrum des Zweifels, der Enttäuschung, der Kritik, aber auch der Suche nach Religiosität jenseits der etablierten Kirchen".
Böttger: "Die Gottlosen sind ja völlig unerforscht im Vergleich zu anderen Religionen oder Weltanschauungen … Das heißt, wir haben in Deutschland viele, viele Millionen Leute, über deren Weltanschauung im Detail praktisch nichts bekannt ist. … Die Konfessionslosen sind bisher völlig uninteressant gewesen, warum auch immer."
Für die Wissenschaftler in Leipzig eröffnete sich ein bislang völlig unbekanntes Gelände.
Böttger: "Religiöse Indifferenz ist wahrscheinlich das am unzureichendsten erforschte religiöse Phänomen überhaupt. Das gibt’s im Prinzip erst, seitdem die Mauer gefallen ist und man sich angeguckt hat, was in der DDR in den letzten vierzig Jahren passiert ist."
Daniel Böttger zitiert typische Antworten, die auf einen neuen Atheismus deuten:
Böttger: "Gott existiert für mich nicht, was spielt es für eine Rolle, ob etwas existiert, was sich für mich nicht auswirkt. Oder: Im Grunde genommen ist es einfach zu halten: Gott ist irrelevant, ich lebe mein Leben im Hier und Jetzt, genieße es, und dazu brauche ich keinen Glauben."
Diese Einstellung definiere sich, so der Religionswissenschaftler, gerade nicht aus dem Gegensatz zur Gottgläubigkeit:
Böttger: "Eigentlich kann man noch nicht mal sagen, dass da eine religiöse Sensibilität fehlt. .. Es ist etwas, das wird noch nicht mal als Fehlen wahrgenommen, das ist eigentlich völlig unnötig. Also, wie kommt man auf Religion?"
Wolfgang Zuckschwerdt aus Bad Honnef sagt von sich, noch keine Sekunde seines Lebens je geglaubt zu haben:
Zuckschwerdt: "Glaube interessiert mich nicht, er geht mich nichts an, das was mich angeht, ist die politische Auswirkung des institutionierten Glaubens, der Kirchen, die üben politische Macht aus, die meines Erachtens weit über das hinausgeht, was ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechen würde. Und da ist der Punkt, wo ich mit denen in Diskussion oder in Streit gerate, aber nicht im Glauben. Über den rede ich nicht, kann ich nicht, ich weiß nicht, was glauben ist. Ich weiß auch nicht wie man glauben sollte."
Der gelernte Physiker hält Religion für unvereinbar mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Zuckschwerdt ist auch überzeugt, dass moralisches Handeln des Menschen nicht an ein transzendentes Wesen gebunden sei:
Zuckschwerdt: "Religion und Ethik haben nur sehr bedingt miteinander zu tun, Ethik hat sich meiner festen Überzeugung nach, und da stehe ich nicht allein, in der Evolution entwickelt. Tiergattungen haben eine eigene Ethik, wenn sie auch nicht so geistig überhöht wird wie bei uns, aber jedes Rudel Hirsche hat seine Regeln, die sich ausgebildet haben zum Überleben dieser Rasse und dieser Tierart und des einzelnen Individuums, und auf diese Weise hat sich eben auch die Ethik des Menschen entwickelt. Dass dann die Menschen hingegangen sind und haben das geistig überhöht, indem sie das Wort Ethik drübergestülpt haben und das göttlich abgeleitet haben, ist nachträglich eine Erklärung dafür, aber kein Urgrund für die Ethik."
Hofbauer: "Jeder Mensch wird durch seine Familie erzogen, ob religiös oder nicht religiös, was Standards sind. Dass man nicht lügt und betrügt und Menschen nicht verletzt und solche Dinge, das ist einfach in einem drin, ich denke, das war schon in früheren Kulturen drin. Denn wenn man sich da nicht dran gehalten hat, war man ausgegrenzt. Und ich .. bin bestimmt nicht jetzt, nachdem ich meinen Glauben abgelegt habe oder den Glauben an den Gott der alle meine Haare gezählt hat, dass ich da jetzt betrüge oder meine Steuererklärung fälsche oder im Warenhaus Sachen mitnehme oder sonst was Böses tue. Also ich habe mich nicht verändert, im Gegenteil. Ich glaube, dass ich viel ehrlicher geworden bin."
Entschieden weist Ruth Hofbauer den oft erhobenen Vorwurf zurück, Menschen ohne Glauben an Gott lebten ohne Gewissen und Sinn für Verantwortung:
Hofbauer: "Ein Atheist lebt ja viel schwerer, was die Ethik angeht. Ein Christ kann Gott um Verzeihung bitten und fühlt sich dann erleichtert. Wir müssen für alles, was wir tun, selber einstehen beziehungsweise wir müssen dann den Menschen, den wir glauben verletzt zu haben, um Verzeihung bitten. Es ist sehr viel schwieriger, ohne einen Gott, dem man Buße tut, der einem verzeiht, selbst dafür einzustehen, was man anrichtet."
Unsere säkulare Gesellschaft, die häufig genug ihre christlichen Wurzeln beschwört, muss gleichwohl den wachsenden Anteil derer achten, die – wie der Philosoph Jürgen Habermas sagen würde – religiös unmusikalisch sind. Da kommt sogar die Politik ins Grübeln. Der Christdemokrat Andres Schmidt, Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag:
Schmidt: "Die Harmonie zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche erleichtert hat, wird abnehmen. Und es wird sich dann natürlich die Frage stellen, wird die wachsende religiöse Pluralität und der Atheismus oder das Ansteigen des Atheismus eine neue strengere religiöse Neutralität des Staates verlangen. Also, wird demnächst das Bundesverfassungsgericht sagen, wir müssen auf die Präambel, den Gottesbezug verzichten, um die Neutralität stärker herauszukehren?"