"Was haben Götter mit Landnahmen an der Hacke?"

Moderation: Joachim Scholl |
Sein unnachahmlicher Sound ist auch im "Buch der Königstöchter" wieder zu erleben. Klaus Theweleit folgt auf 700 Seiten der Pocahontas-Legende und beschreibt Amerikas früheste Mythen.
Joachim Scholl: Auf sage und schreibe acht Seiten hat "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein höchstselbst 1978 das Buch "Männerfantasien" von Klaus Theweleit rezensiert. Der Ruhm kam prompt und hat seither kaum abgenommen. Wenn der Literatur- und Musikwissenschaftler Theweleit ein neues Buch vorlegt, dann ist das meist ein Ereignis, was nicht nur an den vielgestaltigen Themen von antiken Mythen über Fußball bis zu Jimi Hendrix liegt, sondern auch an dem besonderen Theweleit-Sound, der gelehrte Akademiker bisweilen verprellt, den Laien aber entzückt. Guten Tag, Herr Theweleit.

Klaus Theweleit: Ja, guten Tag, Herr Scholl.

Scholl: "Buch der Königstöchter – Pocahontas Zwei", das ist mal wieder ein echter Theweleit-Brecher: über 700 Seiten Dünndruck. Es geht um "Mythenbildung vorhomerisch, amerikanisch", wie es im Untertitel heißt. Die legendäre Häuptlingstochter Pocahontas, die lässt Sie nicht los: Zwei umfängliche Bände gibt es schon, vier sollen es insgesamt werden. Was ist an Pocahontas für Sie so faszinierend?

Theweleit: In Pocahontas fokussiert sich eine lange Geschichte, es ist sogar die älteste, historisch älteste erzählte "Geschichte" unserer Kultur, nämlich die Erzählung von Medea, die aufgesucht wird von den griechischen Argonauten mit Jason als Kapitän, der den Auftrag hat, das Goldene Vlies da zu holen, und schafft das nicht, kann das nicht schaffen, die Aufgaben sind unlösbar. Aber Medea, die Königstochter, hilft ihm. Sie hat Zauberkräfte, sie schläfert den Drachen ein et cetera, und läuft zum Jason über, zum Kolonisator, zum ersten Kolonisator unserer Geschichte, wie Heiner Müller den Jason zutreffend genannt hat.

Und das ist die Geschichte, die mit Pocahontas ähnlich erzählt wird, als die Engländer 1607 ihre erste Kolonie in Virginia, Jamestown, aufmachen, berichtet John Smith sowohl, dass sie mit Nahrungsmitteln geholfen hätte, also diese Häuptlingstochter, und ihm später sogar das Leben gerettet haben soll. Das ist, wie inzwischen klar ist, eine erfundene Erzählung, aber so ist sie amerikanisch-mythologisch geworden. Pocahontas ist die Frau in den Grundfesten Amerikas, die dem Kolonisator zu überleben hilft und damit sozusagen ihm das Recht auf die Landnahme in Amerika symbolisch-mythologisch verschafft. Und diese Erzählung geht in Malinche in Mexiko und Cortés weiter, da ist Malinche die Übersetzerin, ohne die Cortés seinen Feldzug nicht erfolgreich zu Ende hätte bringen können. Also in Pocahontas fokussiert sich diese ganze Kolonialgeschichte vom frühesten Moment an Europas. Und deswegen, "Pocahontas-Komplex" als Obertitel dieser vier Bände.

Scholl: Weil Sie gerade schon das Stichwort Landnahme gesprochen haben, Herr Theweleit, ich habe vorhin von Ihrem bestimmten Sound geredet. Für alle, die den nicht so kennen, lese ich mal einen Satz vor. Da schreiben Sie: "Gesetzt, wir sind unterwegs im Bereich kolonialistischer Landnahmen, da stellt sich die Frage, was haben Götter mit Landnahmen an der Hacke?" So schnoddrig klingt das bei Ihnen, geht dann inhaltlich aber gleich hochgelehrt in die Vollen, bis dann aus dem Nichts ein Jimi-Hendrix-Zitat in den Text schneit: "Excuse Me While I Kiss the Sky." Das ist Klaus Theweleit, wie man ihn kennt, so macht Ihnen das Schreiben Spaß?

Theweleit: So macht das Schreiben Spaß, ja. Ich versuche damit, eigentlich nur dem zu folgen oder gerecht zu werden, was in unseren Köpfen vorliegt. Also auch wenn man sich mit einem Thema wie griechischer Mythologie befasst, und zwar in der ganz frühen, die noch gar nicht aufgeschrieben ist, die nur erzählt war, dann ist unser heutiges, das Gehirn unserer Heutigen, nicht etwa mit wissenschaftlichen Details vollgestopft, sondern mit einer ungeheuren Breite von Informationen aus allen möglichen Gebieten, und dazu gehört natürlich Popkultur, dazu gehören Filme, dazu gehören Musiken, dazu gehören Romane. All diese Dinge enthalten Stoffe, die auch Quellencharakter haben und auch Zustandsbeschreibungen sind der jeweils Lebenden. Und ich versuche mit meinem Schreiben eigentlich nur, dem gerecht zu werden.

Scholl: Sie spannen ja wahrhaft einen Riesenbogen von der griechischen Mythologie und ihrer Vielzahl von Königstöchtern bis zu Pocahontas eben, und dann schließlich auch James Camerons Megafilm "Avatar". Auf den kommen wir noch zu sprechen, aber Sie finden auch ganz, ganz viele Bilder, auf Zigarettenschachteln zum Beispiel. Die sind alle abgedruckt wie zig andere Bilder im Band, von klassischen Bildern bis zu Robert-Crumb-Comics, aber was hat es mit den Zigarettenschachteln auf sich?

Theweleit: Die erste Ökonomie Amerikas, des jungen Amerikas, des Virginia, war ja Tabak. Das wird heute zwar in Amerika eher übersehen oder negiert, also der Pocahontas-Comic, der Disney-Comic von 1996 streicht den Tabak zum Beispiel vollkommen und ersetzt diese Pflanze durch Mais. Das ist schlicht eine historische Fälschung. Tabak ist das erste Gold Amerikas, die erste funktionierende Ökonomie. Und an dem Design von Zigarettenschachteln ist mir bei Besuchen in Tabakmuseen aufgefallen, dass die sehr große Teile der Kolonialgeschichte enthalten. Ich hab mich sehr gefreut, als ich diese Alben fand mit diesen Bildern.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Schriftsteller Klaus Theweleit über sein neues Großwerk "Pocahontas Zwei". Im Schlussteil des Buches, Herr Theweleit, da kommen Sie auf James Camerons Welterfolg "Avatar" zu sprechen. Und da fällt es einem ja wie Schuppen von den Augen, das ist nämlich der Pocahontas-Mythos all the way, nur anders gepolt. Ihnen habe sich aber im Kino der Magen umgedreht. Warum denn?

Theweleit: Der Magen hat sich umgedreht erst nach gut einer Stunde. Die erste Stunde des Films habe ich sehr genossen, bis Cameron den Film dann so dreht, dass er dieses – es ist ein indianisches Volk mit einer Pocahontas, Neytiri, wie sie heißt, die auf diesem Planeten Pandora angetroffen wird. Und nicht sie läuft über zum Kolonisator, sondern der Kolonisator JS, Jake Sully, John Smith, läuft über zu ihr, und dreht das dann so, dass dieses naive Volk, das nur Pfeil und Bogen hat und an einer große Göttin glaubt, die mit Hochtechnologie ausgerüsteten Amerikaner, ihre modernste Armee, wie sie heute auch aussieht, besiegt. Und dabei unterschlägt der Film, dass seine ganze Technologie auf der gleichen Computertechnologie basiert, die in den amerikanischen Drohnen steckt, in ihren modernsten Waffen. Und das gibt Cameron als eine neue Ökologie aus, an die man auch glauben soll. Der zerfällt für mich in zwei Hälften: Die erste Hälfte habe ich bewundert, die zweite hat mir den Magen umgedreht.

Scholl: Sie werden am Ende des Buches dann auch richtig politisch, Herr Theweleit, und laut auch, die letzten Zeilen des Buches lauten: "Wirrköpfe aller Länder, entwirrt euch. Ohne Verwirrung wird es nicht gehen, aber sie muss ohne Feind auskommen, ohne endloses cameronsches, ist gleich altgriechisches, altleninsches Kampfgetümmel. Diese Scheiße muss aufhören, alle wissen warum, oder? Oder?" Zitat Ende. Wäre das so etwas wie eine Botschaft, Herr Theweleit?

Theweleit: Eine Botschaft nicht, es ist eigentlich eine Bestandsaufnahme, denn ich erwähne ja im Vorwort das Buch von Ian Morris "Wer beherrscht die Welt" oder "Warum der Westen die Welt regiert". Das Buch endet in den letzten 70 Seiten darin, dass die Probleme, die da sind, von Klimaerwärmung, Energiegeschichten bis sonst wohin, tatsächlich globale sind, die auch nur global angepackt werden können, so dass dieses Sorte Bekämpfung von System, altgriechisch bis Lenin bis kapitalistisch, heute sonst wohin, überholt sind, wenn große Teile der Erde womöglich in den nächsten 50, 60 Jahren überflutet werden, dann sind das Nebenschauplätze und Idiotien, und dieser Wahnsinn, diese Scheiße hat aufzuhören, ja.

Scholl: Haben Sie dabei Jimi Hendrix gehört, als Sie diesen Schluss geschrieben haben, Herr Theweleit?

Theweleit: Nein, habe ich nicht. Aber im Kopf habe ich den natürlich immer. Und im Körper.

Scholl: Sie haben seit den ersten Pocahontas-Bänden zahlreiche andere Bücher geschrieben und entschuldigen sich im Nachwort förmlich, dass es jetzt so lange gedauert hat, bis Sie wieder zum Pocahontas-Stoff kamen. Jetzt Band zwei, den abschließenden Band drei kündigen Sie fürs kommende Jahr mit den launigen Worten an: "Fertig im Kopf, supergut, tatsächlich geschrieben zur Hälfte." Worum wird es denn da gehen?

Theweleit: Das wird so was wie eine Zusammenfassung der europäischen Entwicklungsgeschichte auf technologischer Basis. Also fängt an mit der Haustierzüchtung, die ja ein jahrtausendelanger Prozess war in Eurasien – Europa und Zentralasien – von 10.000 bis 4.000 vor, und in diesem Prozess, also Tiere zu selektieren, zu studieren, wie man die ernähren muss, wie man die einzäunen kann, wie man die benutzen kann et cetera, et cetera, da fängt unsere Kultur an. Das sind ja die Vorläufer unserer Kultur, also Haustierzüchtung ist eine Technologie, die später auch das Alphabet und alle diese Sachen.

Und das will ich Schritt für Schritt bis heute unter diesen Begriffen Segmentierung und Sequenzierung und Miniaturisierung – die Teile werden immer kleiner, wir setzen unsere Welt zusammen aus Segmenten, sequenzieren sie, machen Konzepte und gehen ins immer … Nanotechnologie, Quarks und so weiter, noch kleinere Teilchen. Das ist die Bewegung dieser Kultur, die eigentlich ihre technologische Überlegenheit ausmacht über den Rest der Welt. Kulturen, die das nicht gemacht haben, sind alle untergegangen. Heute ist es aber so, dass die "unterentwickelten Kulturen" über ihre Verbindung mit Elektronik zu diesen Technologien auch Zugang haben. Wir sind also im Prozess, dass die Schritte innerhalb von Jahren und Jahrzehnten nachholen oder von Jahren auch nur, für die unsere Kultur Jahrtausende gebraucht hat. Und das ist ein sehr spannender Prozess im Moment in der Welt, und dem gilt Band drei.

Scholl: Und dann werden wir hoffentlich wieder von Ihnen hören. Danke, Klaus Theweleit, dass Sie bei uns waren.

Theweleit: Ja, danke, Herr Scholl.

Scholl: Und das "Buch der Königsöchter" von Klaus Theweleit "Pocahontas zwei" ist jetzt im Verlag Stroemfeld Roter Stern erschienen mit 736 Seiten zum Preis von 38 Euro.


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