Was hätte Heine wohl dazu gesagt…

Von Günter Kunert |
Im tristen Monat Februar war's, da ging ich nach Deutschland wieder und hörte ein Sagen und Singen vieler meiner Lieder. Aber, mein Freund, von mir abgesehen hat sich mein Stiefvaterland verändert, kaum wieder zu erkennen. Ach, meine Hamonia, die flotte Deern, die hat auf Sankt Pauli soviel Konkurrenz bekommen, lauter Damen des ältesten und, wie du weißt, lebensgefährlichsten Gewerbes.
Überhaupt vernimmt man straßauf, straßab unbekannte Laute. Es scheint ein historischer Irrtum zu sein, die Türker seien vor Wien zurückgedrängt worden. Man begegnet ihnen überall. Ihre Frauen sind züchtig verhüllt, von Kopftüchern bedeckt wie unsere Großmütter, obwohl sie recht jung sind. Die jungen Landsmänninnen, pardon, Landsfrauen, hingegen um es politisch korrekt auszudrücken, zeigen ihre Nationalität mittels eines unbedeckten Bauchnabels vor, welchen manchmal ein falscher Edelstein schmückt, als wäre statt des Kopfes der Bauch die Hauptsache.

Ja, wir sprechen nicht mehr dieselbe Sprache, mein Englisch ist dem hiesigen Idiom wenig gewachsen. Mein alter König in Thule mit dem goldenen Becher nennt sich jetzt Burger King, der Becher ist aus Pappe, wie die dazu servierten Nahrungsmittel. Wie ich merkte, sind die Knaben und Mädchen meist schon früh ertaubt, bedingt durch höllischen Maschinenlärm, von dem sie annehmen, es handele sich um Musik.

Man sagt, das Wort "Stille" sei aus dem Wörterbuch gestrichen. Man habe das einstmals so bildhafte Teutonische reformiert, nur aus dem Grund, damit es keiner mehr schreiben könne, denn die schriftliche Kommunikation findet mittels seltsamer Geräte statt, unter Benutzung von vielleicht zwanzig Wörtern. Ja, mein Freund, die Verbalität beschränkt sich auf ein Phänomen namens "Gejammer" Kaum näherst du dich einer Person, überwältigt sie dich mit Klagen. Alles sei schlecht und ungerecht, zum Beispiel das Abzahlen von Krediten und gekauften Waren, die man ungeheuerlicherweise anschließend bezahlen müsse.

Doch das ist noch gar nichts gegen den Verkehr mit Selbst-Fahrende-Wagen, antikisierend "Auto-Mobile" gerufen. Keine Straße ist vor diesen Fahrzeugen sicher, und du erfährst, dass es das größte Vergnügen unserer deutschen Michel wäre, mit ihrem Gefährt in einer unerhörten Menge gleichartiger Kutschen stundelang stillzustehen, weder des Vorwärts- noch des Rückwärtsfahrens fähig. Das sind die glücklichen Stunden, da meine Nachkommen, als hätten sie verschluckt den Stock, mit dem man sie einst geprügelt, wie Wachsfiguren, von blechernen Hülsen umkleidet, geduldig dasitzen, bis eine unbekannte Macht sie erneut in Bewegung setzt.

Danach jedoch in ihren Heimen frönen sie einem anderen Genuss. Wie die Eingeborenen von Kalawiakuka sich durch gegenseitiges Aufdenkopfschlagen unterhielten, so lassen die Heutigen ein Gleiches durch ein Gerät, abgekürzt TV, geschehen. Wie schlechter Champagner steigt ihnen ein bildliches Gebräu ins Gehirn, das, wie Alkohol, ihr Denken reduziert, ja, es sogar völlig überflüssig macht. Die Bildermaschine ist ein sakraler Gegenstand, dem der beste Platz im Zimmer eingeräumt ist. Vor diesem finden merkwürdige Riten statt, ähnlich den Duellen zwischen Personen beiderlei Geschlechtes. Auch nimmt man dabei Bier zu sich, Nüsse und gebackenes Salz.

Im Übrigen hat sich politisch wenig verändert. Im Parlament redet man immer noch aneinander vorbei und zum Fenster hinaus. Nur regiert jetzt eine konstitutionelle Monarchin, was wir schon aus Old England kennen. Ansonsten, bis auf die Verfeinerung der Folter durch Geräusch, Gestank, vergiftete Nahrung und gegenseitige Ignoranz lässt sich wenig Wesentliches aus jenem Lande berichten, das erst meine Bücher und anschließend Menschen verbrannt hat. Mon Cher, au revoir bis zu meinem nächsten Besuch in fünfzig Jahren.


Günter Kunert, geboren 1929 in Berlin, wurde von Johannes R. Becher entdeckt und protegiert. Bis zu seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik 1979 galt Kunert in der DDR als einer der meistgelesenen Autoren. Sein vielseitiges Werk umfasst u. a. Gedichte, Essays, Erzählungen, Märchen, Reisejournale und Kinderbücher. 1976 gehörte Kunert zu den Erstunterzeichnern des Protestbriefes einer Reihe von DDR-Schriftstellern gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Zu den zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen Kunerts zählen u. a. der Heinrich-Mann-Preis, der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, der Hölderlin-Preis, der Hans-Sahl-Preis und der Georg-Trakl-Preis. Kürzlich erschienen ist Kunerts Aufzeichnungsbuch "Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast".