"Was ham' die, was wir nicht haben?"

Von Agnes Steinbauer |
Der Historiker und Journalist Götz Aly betrachtet in seinem neuen Buch <papaya:addon addon="d53447f5fcd08d70e2f9158d31e5db71" article="140361" text="&quot;Warum die Deutschen? Warum die Juden?&quot;" alternative_text="&quot;Warum die Deutschen? Warum die Juden?&quot;" /> die "Banalität des Bösen" unter dem Aspekt psychosozialer Entwicklungen, die Anfang des 19. Jahrhunderts begannen und in Rassenhass und Holocaust endeten.
Götz Aly: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch – das Problem immer nur auf Rechtsradikale zu reduzieren – auf Leute mit Glatze und Springerstiefeln, das ist völlig obsolet, das führt in die falsche Richtung und vergrößert die Gefahr, weil es die eigentlichen Ursprünge des Antisemitismus und des Hasses zwischen Großgruppen ignoriert ..."

Die Ursprünge des Antisemitismus sind für Götz Aly nicht primär politischer, sondern psychosozialer Natur. Die Wurzeln dafür beginnen bereits ab 1800 in den deutschen Ländern zu sprießen - paradoxerweise dort, wo den Juden nach Jahrhunderten der Unterdrückung ein vergleichsweise hohes Maß an Freiheit und Gleichstellung gegenüber der christlichen Bevölkerung gewährt wurde. Als nach Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" von der Weltbühne verschwand und mit den preußischen Verwaltungs- und Bildungsreformen eine neue Gesellschaft ohne Zunftregeln und Ständeordnung entstand, eröffneten sich auch den Juden ganz neue Perspektiven:

Aly: "Sie werden nicht vollständig emanzipiert, aber sie bekommen vollkommene Rechtssicherheit, das ist sehr wichtig, gerade im Vergleich zu Osteuropa, und Gewerbefreiheit – auch das unterscheidet die Situation zu Osteuropa, zum Habsburgischen Reich fundamental – und ihre Kinder bekommen wunderbare Bildungschancen in Preußen – an den Universitäten an den Gymnasien."

Dass die Juden diese Bildungschancen viel besser nutzten, als die Christen – dafür sei ihre Religion wichtige Voraussetzung gewesen, so Aly:

Aly: "... das ständige Fragen, Hinterfragen und das Debattieren und es ist eine Religion, die auch unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten erlaubt, insofern Abstraktionsvermögen verlangt, philosophische Begrifflichkeiten, Genauigkeit, das sind alles Eigenschaften, die die christliche Religion weder fordert noch fördert, denn da genügt es, wenn Sie beten, wenn Sie singen und das Glaubensbekenntnis aufsagen können ..."

Der Erfolgsgeschichte der Juden im 19. Jahrhundert ist in Alys Buch mit vielen Quellen belegt - ebenso wie der schwelende Antisemitismus, der sich einige Jahrzehnte später entzündete. Um 1900 machten in Berlin Juden zehnmal häufiger Abitur als Christen, in Frankfurt am Main zahlten sie viermal so viel Steuern wie Protestanten und achtmal soviel wie Katholiken. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die Juden "eigentlich nichts zu verlieren als ihre Ketten", begründet Aly ihren Bildungshunger und Aufstiegswillen. Die christlichen Deutschen dagegen, die in der Masse kaum Lesen und Schreiben konnten, taten sich mit der neuen, modernen Welt schwer:

Aly: "Die wollten nicht von der Leibeigenschaft befreit werden, da hatten sie immerhin ihre Suppe und ihr Dach über dem Kopf. Freiheit bedeutete für sie Angst, Risiko, Gefahr ... und überwiegend die in der Bevölkerung und in der Geistlichkeit vorherrschende Meinung: Lesen verdirbt die Augen. Das unterscheidet sich einfach fundamental von der jüdischen Haltung die sagt: Um die Welt zu verstehen, musst du lesen ..."

Mit der Offenheit und dem Erfolg der Juden wuchs der Neid - eine Erkenntnis, die ebenso banal wie plausibel ist. Der, wie Aly es ausdrückt, "massenhafte, kleine, böse Neid" kippte schließlich um in tödlichen Rassenhass - quer durch die Bevölkerung und quer durch die politischen Lager, die auch wenn sie nicht NSDAP wählten, an der Judenpolitik Hitlers nichts auszusetzen hatten. Die psychosozialen Konstellationen, die damals in den Holocaust führten, hätten, so Aly, auch heute ihre "Sprengkraft" nicht verloren:

"Sie finden das im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, die Hutu, die sesshafte Landbevölkerung, die dann plötzlich auf die Tutsi, die in den Städten sind, die erfolgreicher sind, gewandter sind, losgehen oder wenn Sie an Pogrome in den USA, in Los Angeles von vor 16 Jahren denken, da gingen Leute in Schwarzen-Vierteln auf die benachbarten Koreaner los ..."

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