"Wer ein Auto besitzt, kann nicht arm sein"
Wer ist arm und wann und wo beginnt Armut? Das ist eine Frage der Definition, ihr liegen moralisch-politische Werturteile zugrunde - etwa über einen angemessenen Lebensstandard oder über soziale Ungleichheit.
Christoph Butterwegge: "Armut ist gewollt. 'Da landest du, wenn du nicht weiter funktionierst'."
Haben sie wirklich etwas gemeinsam? Ein Maurer in Kalkutta, der auf der Straße schlafen muss, ein ausgemergelter, abgerissen wirkender Tagelöhner im Berlin des 19. Jahrhunderts - und ein lange arbeitsloser Sachbearbeiter in Hamburg heute, der einen Polo fährt und schon in Antalya und auf Lanzarote war? Kann jemand, der ein Auto besitzt, arm sein?
Meral Karakoç: "Ich hab mich wirklich geschämt für das Land, dass Menschen so leben müssen."
Die geläufige Vorstellung von Armut wird bestimmt von extrem armen Menschen. Ein kniender Bettler vor dem Einkaufzentrum, Dutzende Wartende vor einer Essensausgabe, eine alte Frau, die in einem Lokal nach Resten fragt, Flüchtlinge in einer Sporthalle, ein Wohnungsloser mit zerrissener Kleidung, der seinen ganzen Besitz in ein paar Plastiktüten mit sich herumträgt.
Aber die meisten Besucher von Jobcentern sehen ziemlich unauffällig aus. Selbst Menschen, die in Einkaufsmeilen oder Bahnhöfen Flaschen aus dem Müll heraussuchen, sind oft - schick oder stillos - angezogen wie Durchschnittsverdiener. Auch in den heruntergekommensten Vierteln deutscher Großstädte reiht sich Auto an Auto. Den Statistiken zufolge ist extreme Armut heute eine Randerscheinung.
Radka L.: "Es ist mir sehr traurig. Ich bin kein Mensch hier. Ich schaue in die Augen der anderen - und die sagen, ich bin kein Mensch."
Warum richtet sich dann die Aufmerksamkeit am ehesten auf Obdachlosenunterkünfte oder "Tafeln"? Und nicht auf die weitaus größere Welt der "durchschnittlich" Armen? Teilweise wird der Begriff "Armut" noch von den schockierenden Verhältnissen im 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt. Selbst in den damals reichsten Ländern - wie England und Deutschland - hatten viele Millionen Menschen nicht genug zu essen, trugen zerschlissene Kleidung und lebten in erbärmlichen Wohnungen. Ein ähnliches Schicksal trifft heute mehr als 800 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern. Reportagen und Anzeigenkampagnen blenden ihre Lebensbedingungen ständig in den deutschen Alltag ein.
Christoph Schröder: "Das physische Existenzminimum: ein Dach über dem Kopf zu haben oder keinen Hunger zu leiden. In entwickelten Ländern wie Deutschland geht es natürlich um ein gesellschaftliches Existenzminimum. Im Grunde muss hier keiner frieren und hungern. Es geht darum, dass man am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann."
"Emotionale" oder "kulturelle" Armut kann auch Millionäre treffen - die Klatschpresse ist voller Artikel über unzufriedene, vereinsamte Reiche. Umgekehrt findet man Menschen mit geringem Einkommen, die glücklich, kulturell interessiert und gesellschaftlich aktiv sind - wie Olaf Kremer.
Olaf Kremer: "Ja ... Ja ! Da können wir uns schon als arm bezeichnen ... Es widerstrebt mir eigentlich ..."
Der 47-Jährige - groß, selbstbewusst - macht zur Zeit eine Erzieherausbildung. Er war lange in der Gastronomie, einer typischen Niedriglohnbranche, beschäftigt - und erhielt ergänzend Arbeitslosengeld II, "Hartz IV". Er erzählt lebhaft und zufrieden von seiner Familie, von seinem Engagement in der katholischen Kirche oder im Bezirksbeirat Mannheim-Innenstadt.
Kremer: "Bin ich jetzt eigentlich arm? Und muss dann allerdings feststellen, dass wir doch eigentlich recht reich sind."
Radka: "Ich kann diesen Druck nicht mehr aushalten. Ich bin sehr traurig. Ich habe keine Lebensfreude."
Stress bis zur Existenzangst
Radka L. - sie heißt anders - ist 35. Die gutaussehende intelligente Frau arbeitete in den letzten Jahren meist als Reinigungskraft. Sie und ihr Mann kamen vor einigen Jahren aus Bulgarien nach Düsseldorf. Stefan ist - wie schon mehrfach - arbeitslos. Zuletzt war der nachdenkliche und zugleich energiegeladene 39-Jährige drei Monate in einem kleinen Bauunternehmen beschäftigt:
"An dem Tag, wo er den Lohn zahlen sollte, hat er nicht gezahlt. Ich habe überhaupt keine Garantie, was ich bekomme."
Nicht immer, aber häufig bedeutet ein geringes Einkommen ungenügende Bildung, zerrüttete Gesundheit, Stress oder geradezu Existenzangst. Armen in verschiedenen Ländern und Epochen ist wahrscheinlich gemeinsam, dass sie Verachtung erleben, sich ausgegrenzt fühlen. Auch in Deutschland heute sterben sie im Durchschnitt deutlich früher als andere.
Radka: "Vorher war ich berufstätig, aber ich habe einen Unfall gehabt. Jetzt bin ich nicht so fit. Ich bin mehrfach operiert worden."
Manchmal nimmt Radka L. Medikamente nicht, weil ihr das Geld für die Zuzahlungen fehlt.
Schröder: "Wir haben bei uns immer noch das Problem, dass das Bildungsniveau von Kindern und Jugendlichen relativ deutlich von der sozialen Herkunft abhängt, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten es schwerer haben, einen hohen Bildungsabschluss zu erreichen."
Der Ökonom Christoph Schröder vom unternehmernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln ist Experte für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Schröder: "Wir haben langfristig einen Anstieg der Armutsquote in Deutschland. Aber etwa seit 2005 ist die Einkommensarmutsquote auf ungefähr gleichem Niveau geblieben."
Meist leben Arme in kleineren und schlechter ausgestatteten Wohnungen, in benachteiligten, "vergessenen" Stadtteilen wie Düsseldorf-Hassels - wo das Ehepaar L. wohnt -, Duisburg-Hochfeld oder der Neckarstadt West in Mannheim. Dort sind oft Schulen und Freizeiteinrichtungen unzulänglich. Eine räumliche Konzentration von Armen kann auch eine Stimmung der Selbstaufgabe fördern. Kindern fehlen unter Umständen "Rollenvorbilder" wie "arbeitende Eltern" oder "beruflich Erfolgreiche".
Die wichtigsten Informationen über Armut liefert die nüchterne Statistik der Einkommen. Über sie hinau gehen sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur "Lebensqualität". Sie fragen auch nach Zufriedenheit, Gesundheit, Bildungsniveau, Wohn- und Umweltsituation, Arbeitsbedingungen oder Sicherheitsgefühl. In Europa entspricht höheres Einkommen in der Regel höherer Zufriedenheit. Laut Human Development Index der Vereinten Nationen und etlichen sogenannten Glücksindizes liegen allerdings im globalen Süden mitunter Länder mit niedrigem Einkommen vor wohlhabenderen. "Lebensqualität" ist schwer zu definieren und noch schwerer in Zahlen auszudrücken. Solche Modelle sind entsprechend umstritten.
Butterwegge: "Das Geld ist letztlich in einer Gesellschaft, die so stark auf den Konsum ausgerichtet ist, entscheidend. Und deshalb halte ich nichts davon, zu sagen, Geld ist nicht alles. Es ist eben ohne Geld das meiste gar nicht möglich. Daher hängt, finde ich, Glücklichsein bei uns auch ganz zentral vom Geld ab."
Prof. Christoph Butterwegge von der Universität Köln ist Autor zahlreicher Bücher über Armut, er zählt zu den linken Kritikern der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Butterwegge: "In einer reichen Gesellschaft, wo fast alle über ein Auto verfügen, ist der, der sich anders fortbewegen muss, relativ arm."
Armut ist immer eine Frage der Definition. Auch rein ökonomische Begriffsbestimmungen haben moralisch-politische Werturteile zum Hintergrund, etwa wenn es um "vertretbare" soziale Ungleichheit und "angemessenen" Lebensstandard geht. Deswegen ist es auch problematisch, das Existenzminimum zu berechnen. Christoph Schröder:
Schröder: "Man berechnet es, aber es ist keine absolute Zahl, die man wissenschaftlich belegen kann. Letztendlich spielen Normen eine wichtige Rolle."
Christoph Butterwegge meint:
"Eine arme Gesellschaft wird unter dem Existenzminimum verstehen, dass jemand seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, dass er nicht verhungert, dass er nicht an Krankheiten zugrunde geht, die behandelbar wären. Eine reiche Gesellschaft wird das Existenzminimum natürlich anders festlegen, also darauf abstellen, dass jemand zusätzlich zur Befriedigung der Grundbedürfnisse auch teilhaben kann an den sozialen, politischen, kulturellen Prozessen. Deswegen kann man ein Existenzminimum nicht objektiv festlegen, erst recht nicht ein für allemal. Sondern man ist immer davon abhängig, wo jemand lebt und unter welchen Bedingungen."
Sind eine Urlaubsreise oder ein Auto für Arme "angemessen" ?
Karakoç: "Ich finde, wir haben sehr arm gelebt ! Ich wollte auch meinem Kind etwas anbieten und hab dann zwischendurch bei meiner Mutter geschlafen in Krefeld - damit meine Tochter auch das Gefühl hat, wir waren jetzt in Urlaub gewesen. Sie hat ihren kleinen Koffer gepackt - 'Wir fahren in Urlaub !'"
Meral Karakoç: Die gelernte Verkäuferin aus Duisburg, 43, war acht Jahre arbeitslos. Inzwischen hat die temperamentvolle Frau mit den leuchtenden Augen das Fachabitur nachgeholt, sie studiert Sozialarbeit. Ihre Tochter Gülara ist jetzt 15 und geht aufs Gymnasium.
Was weiß man über Armut in Deuschland?
Wie genau weiß man über Armut in Deutschland Bescheid ? In Wissenschaft und Politik sind verschiedene Definitionen und Kennzahlen im Umlauf. Die Sache ist ein bisschen unübersichtlich, man kann leicht durcheinander kommen. Besonders wichtig sind die Begriffe "extreme" und "relative" Armut sowie "Armutsgefährdung". Die Daten dazu - auch für die "Armuts- und Reichtumsberichte" der Bundesregierung - liefert in erster Linie das Statistische Bundesamt. Manche Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, des EU-Statistikbüros oder von Wohlfahrtsorganisationen arbeiten mit eigenen Definitionen und Datenquellen und bieten entsprechend abweichende Ergebnisse. Überall sind die neuesten Daten oft Jahre alt.
Bei "relativer Armut" geht es um den Abstand zum mittleren Einkommen deutscher Haushalte. In der Sozialwissenschaft allgemein akzeptiert ist, dass die Armutsgrenze bei fünfzig Prozent dieses Einkommens liegt. Für Singles sind das gut 760 Euro im Monat. Warum gerade 50 und nicht 62 oder 38 Prozent? Christoph Butterwegge von der Universität Köln:
"Das ist natürlich eine willkürliche Festlegung. Die soll ja auch nur einen ungefähren Wert angeben für die Armutsgrenze."
Hat jemand nicht einmal 610 Euro zur Verfügung, also weniger als vierzig Prozent des mittleren Einkommens, gilt er als extrem arm. Betroffen sind in Deutschland vergleichsweise kleine Gruppen - wie illegal lebende Migranten und Obdachlose.
Butterwegge: "Da gehen die Schätzungen sehr weit auseinander. Obdachlose - es sollen über 350 000 Menschen sein, die wohnungslos sind und ein Teil davon lebt auch auf der Straße."
Aber auch andere Menschen fallen durch die Auffangnetze des Sozialstaats. StefanL. aus Düsseldorf berichtet von langwierigen Konflikten mit dem Jobcenter - und glaubt, dass sie mit seiner Zugehörigkeit zur Roma-Minderheit zu tun haben:
Stefan L.: "Zehn oder 15 Mal bringen wir die gleichen Papiere, immer und immer wieder. Das in der Zeit von fünf, sechs Monaten, in der wir kein Geld bekommen. An erster Stelle ist das Diskriminierung, hundertprozentig."
Seine Frau Radka erzählt, wie die Familie mit drei Kindern wohnt:
"Eine Dreizimmerwohnung - für fünf Personen. Zur Zeit - weil das Jobcenter nicht zahlt - ist die Miete nicht bezahlt. Strom gibt es noch. Es ist nicht alles neu. Alles ist 'zweite Hand' gekauft."
Stefan L. fühlt sich manchmal niedergeschlagen, etwa ...
"... weil meine Tochter im Kindergarten Spielzeug gesehen hat. Natürlich kommt sie nach Hause und möchte das. Ich kann ihr das nie kaufen. Und sie sagt 'Ich frage nicht mehr'. Sie ist fünf."
Meral Karakoç engagierte sich im angeblichen Ghetto Duisburg-Hochfeld - wo sie lange wohnte - in einem Projekt für Roma-Kinder:
"Einmal hab ich ein Kind zu Hause besucht. Das war richtig erschreckend. Die hatten wenig zu essen. Da musste ich fast weinen. Ich hab mich wirklich geschämt für das Land, dass Menschen so leben müssen."
Am häufigsten ist von der sogenannten Armutsgefährdungsquote die Rede. Wer nur sechzig Prozent des mittleren Einkommens ausgeben kann, könnte bald arm sein. 2014 mussten 15 Prozent der Deutschen mit Armutsgefährdung oder Armut fertig werden. Nach einer etwas abweichenden Definition der EU waren es sogar 17 Prozent.
Vielfach verwendet wird schließlich die "Hartz IV-Quote". Sie liegt deutlich niedriger - etwa, weil längst nicht alle Armen Unterstützung beantragen.
Aufschlussreiche, ziemlich irritierende Zahlen für Deutschland finden sich in Statistiken der EU zum Thema "Lebensqualität". Den jährlichen Berichten "Leben in Europa" zufolge können zwischen Ostsee und Schwarzwald etwa 4 Millionen Menschen es sich nicht leisten, ihre Wohnung ausreichend zu heizen. 7 Millionen haben so wenig Geld, dass nicht einmal jeden zweiten Tag "qualitätvolles" Essen auf ihrem Tisch steht. Eine einwöchige Urlaubsreise geht über die finanziellen Möglichkeiten von fast 20 Millionen Deutschen. Unerwartete Ausgaben von 1000 Euro können 25 von gut 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern nur mit Mühe - oder gar nicht - bewältigen. Die letzten Zahlen zeigen, dass Armut auch Teile der "gesellschaftlichen Mitte" bedroht..
Karakoç: "Ich war arm gewesen ! Zum Beispiel, dass ich mitten im Monat kein Geld mehr hatte, weil ich Nachzahlungen hatte."
Wieviel Geld braucht jemand mindestens im Monat? Mit Blick auf die Armut einzelner Menschen wird immer wieder über die Höhe dieses Existenzminimums gestritten. Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln:
Schröder: "Bei uns ist es so, dass man zur Berechnung der Regelsätze für ALG II darauf schaut - was hat das untere Fünftel der Bevölkerung für Ausgaben gehabt? Anhand dessen konstruiert man dann einen Warenkorb."
Der sogenannte Regelsatz des Arbeitslosengelds II bildet dieses Existenzminimum ab: 404 Euro Grundbedarf für Einzelne plus - regional unterschiedlich - Miete und Heizkosten. Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften und auch Meral Karakoç halten das nicht für ausreichend.
Bei Befragungen beschönigen nicht wenige Betroffene ihre Lage. Viele, die Anspruch auf Altersgrundsicherung haben - ungefähr in Höhe von "Hartz IV" -, verzichten auf Geld.
Butterwegge: "Was ich interessant finde, ist, dass über die Dunkelziffer wenig berichtet wird. Es wird kaum gesprochen darüber, dass Menschen versuchen, über die Runden zu kommen, ohne den Staat in Anspruch zu nehmen ... weil Menschen sich schämen, zu stolz sind, die bürokratischen Hürden scheuen, weil sie nicht wissen, dass es solche Leistungen gibt oder dass sie ihnen zustehen."
Christoph Butterwegge von der Uni Köln. Zu einem verzerrten Bild führen auch - gegenüber Behörden verschwiegene - Unterstützungszahlungen durch Angehörige. Sie sind gerade unter Migranten häufig, selbst unter entfernten Verwandten.
Karakoç: "Ich hab auch Geld von meinen Eltern bekommen. Eigentlich musste ich das dem Jobcenter sagen: 'Ich hab 50 Euro oder 100 Euro zum Geburtstag bekommen'. Aber ich hab das nicht eingesehen, das zu sagen."
Außerdem gibt es verbilligte oder kostenlose Angebote im Bildungswesen, von Verkehrsunternehmen oder in der Kulturszene. Meral Karakoç holte sich manchmal Lebensmittel bei bei Duisburger Tafel.
Die Rolle von Schwarzarbeit für Arme wird wahrscheinlich überschätzt. Die meisten sind gering qualifiziert oder gesundheitlich angeschlagen. Noch dazu kommen die Impulse oft von anderen. Olaf Kremer aus Mannheim:
Kremer: "Was ich erlebe - dass gesagt wird 'Wir beschäftigen dich auf 135 Euro-, auf 200 Euro-Basis. Die Stunden darüber können wir ja mal so machen.' Wo ich aber grundsätzlich ablehne. Das geht auf Kosten von uns allen."
Noch aus einem anderen Grund sind die Einkommensstatistiken unzulänglich. Selbst bei gleichem Einkommen kann der Lebensstandard von Armen sich spürbar unterscheiden. Viele waren jahrzehntelang berufstätig - und freuen sich über ein Auto oder eine komfortable Wohnungsausstattung. Eine kleine Gruppe - meist Ältere - lebt im eigenen Haus oder einer Eigentumswohnung.
Schröder: "Es kann gerade jemand seinen Arbeitsplatz verloren haben, aber deswegen verkauft er ja nicht sein komplettes Hab und Gut."
Karakoç: "Ein Auto kriegt man teilweise für 200 Euro."
Meral Karakoç besitzt ebenso wenig wie Olaf Kremer eines. Sie erzählt von der ersten Zeit ihrer Arbeitslosigkeit:
"Ich hatte tolle Sachen, Kleidung, die Wohnungseinrichtung war perfekt. Wenn jemand reingekommen ist - der hat mir das nicht angesehen. Jeder denkt, wenn man arm ist, muss man mit kaputten Sachen rumlaufen. So ist das nicht."
Ostdeutschland ärmer als Westdeutschland
Die Welt der Armut in Deutschland heute steckt voller Kontraste. In Ostdeutschland sieht es schlimmer aus als im Westen. In Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt erreicht die Armutsquote mehr als 20 Prozent - ebenso in Leipzig, Bremen, Köln, Dortmund, Duisburg, Essen und Nürnberg.
Die "typischen"Betroffenen sind Langzeitarbeitslose. Und doch leben nicht alle von ihnen von "Hartz IV" - etwa wenn Partner oder Partnerin gut verdienen. Auch Alleinerziehenden, Kindern und Jugendliche, Geringqualifizierten und Menschen mit Migrationshintergrund geht es überdurchschnittlich schlecht. Bei Alten ist es umgekehrt - ihre Generation hat schließlich Vollbeschäftigung und "Wohlstand für alle" erlebt. Allerdings nimmt Altersarmut seit einigen Jahren deutlich zu.
Kremer: "Ein Einkommen, von dem man auch leben kann - das ist in vielen Dienstleistungsberufen nicht der Fall. Ich hatte zwischendurch mal einen Tätigkeit angenommen in einem Callcenter. 167 Stunden. Dort war die Verdienstmöglichkeit 1300 Euro brutto. Davon kann man keine Familie ernähren."
Eine auffallende Gruppe sind die arbeitenden Armen. Etwa 1,2 Millionen Menschen müssen ergänzendes Arbeitslosengeld II beantragen. Olaf Kremer gefielen seine Jobs in der Gastronomie. Aber:
"Das waren um die 1000 Euro. Halbtags. Das ergänzende ALG war gut fünf Jahre lang."
Eine mögliche Alternative:
Kremer: "In letzter Konsequenz führt das meistens dazu, dass die Leute noch einen Zweitjob annehmen - ich hatte auch einen. Als Minijob - in einem Kiosk. Das ist eine Doppelbelastung, die kann man nicht lange fahren. Das zerfrisst einen."
Ist Armut weniger schlimm, wenn sie einen nur vorübergehend trifft? Studierende etwa können auf mittlere Sicht mit einem gutbezahlten Job rechnen. Alleinerziehende finden nach einigen Jahren vielleicht wieder eine akzeptable Stelle. Oder Migranten gelingt nach einer schwierigen Startphase der berufliche Aufstieg. Andererseits, so Christoph Butterwegge:
Butterwegge: "Jeder zweite 'Hartz IV'-Empfänger ist vier Jahre oder länger im Bezug. Sogar eine Million Menschen schon seit 2005."
Wie sah Armut in Deutschland und Westeuropa früher aus? Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hausten hier Millionen Menschen in überfüllten, dunklen Wohnungen, in schmutzigen Slumvierteln. Sie waren oft unterernährt, starben mit vierzig oder fünfzig. Sie hatten keine Absicherung für Krankheit und Alter, waren auf Almosen angewiesen. Unzählige wanderten aus.
Arme gab es auch in den untergegangenen "staatssozialistischen" Gesellschaften. Die Sowjetunion oder die DDR boten ein erhebliches Maß an sozialer Sicherheit - als Ablenkung von der politischen Unfreiheit. Dennoch waren die Unterschiede bei Einkommen und auch Vermögen - vor allem Wohnungseigentum - größer als die Propaganda suggerierte. Nicht zu reden vom versteckten Reichtum aus der Schattenwirtschaft, besonders in der Sowjetunion. Am Rand des Existenzminimums lebten nicht wenige Alte und Behinderte. Insgesamt war die soziale Ungleichheit aber wesentlich geringer als im Westen.
Haben Arme in Kinshasa, São Paulo, Dhaka ... und Mannheim etwas gemeinsam?
Kremer: "Überhaupt nicht. Weil wir doch ein starkes Sozialsystem haben, auf das jeder zurückgreifen kann. Bei uns muss niemand hungern. Sie stehen am Rand - das ist vielleicht eine Gemeinsamkeit."
... meint Olaf Kremer. Etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung haben keine 300 Euro im Monat zur Verfügung. Ein Zehntel ist von extremer Armut betroffen - vor allem im mittleren und südlichen Afrika und in Indien. Dann ist nicht Mangelernährung, sondern Hunger typisch, dazu hohe Kindersterblichkeit, fehlende Gesundheitsversorgung, völlig unzureichende Wohnverhältnisse oder Obdachlosigkeit.
Einige Länder verzeichneten in den letzten Jahrzehnten eindrucksvolle Fortschritte - besonders China, Indonesien, Indien und Brasilien. Dennoch leben auch dort immer noch hunderte Millionen Menschen in Armut. In den USA sind es nach offiziellen Angaben fast 50 Millionen. In den EU-Ländern Spanien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien müssen über 20 Prozent der Bevölkerung mit dem Existenzminimum zurechtkommen. Stefan L. erzählt von Roma in Bulgarien:
Stefan L.: "Ganz, ganz arme Menschen sind das. Es gibt viele, die keinen Cent haben. Ich bin eines Tages durch eine Straße gegangen - da sind keine Häuser, sondern Baracken, ohne Fenster. Die Kinder waren im Winter ohne Schuhe und die Mutter hat geweint auf der Straße. Ich bin erschrocken, ich hab gefragt. Weil sie seit zwei Tagen nicht gegessen hat."
Er und seine Familie lebten wenigstens etwas besser.
Stefan L.: "Ich bin in einem Roma-Viertel in Pasardschik aufgewachsen. Ich hab die achte Klasse vollendet, damals war es wegen meiner Herkunft nicht möglich, eine weitere Ausbildung zu machen oder ein Studium anzufangen. Ich hab einen Traum gehabt - ich wollte Chirurgie, Medizin studieren. Als Selbständiger habe ich gearbeitet, auf dem Markt."
Auch seine Frau Radka blickt auf trostlose Erfahrungen zurück:
Radka L.: "Ich bin bis zur fünften Klasse zur Schule gegangen. Dann habe ich versucht zu arbeiten, auch im Handel, aber das war mühsam, da gab es keine Sicherheit. In Bulgarien gibt es keine Arbeit, deswegen bin ich hier. Damit ich meine Kinder ernähren kann."
Karakoç: "Wenn ich zurück überlege - meine Eltern, in den siebziger Jahren, die kannten Arbeitslosigkeit gar nicht."
Meral Karakoçs Eltern arbeiteten damals in NRW in der Metallindustrie.
Armut hat stark zugenommen
Warum hat Armut seither so stark zugenommen ? Es gab auch Zeiten mit weniger Problemen. Nach dem "Wirtschaftswunder" der Nachkriegsjahre galten nur noch sieben Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik als mittellos. Ein Einschnitt war die Wirtschaftskrise seit Mitte der Siebziger. Sie hatte Massenarbeitslosigkeit und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors zur Folge.
Butterwegge: "Es gibt mehr ungesicherte Beschäftigung. Minijobs, Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge sind heute dabei, das Normalarbeitsverhältnis auszuhöhlen. Da sehe ich eine wesentliche Ursache für die Zunahme von Armut."
Auch Demografie spielte eine Rolle. In den letzten Jahrzehnten stieg der Anteil der Singles an der Bevölkerung. Im Vergleich zu Menschen, die mit anderen zusammen wohnen, geben sie mehr für Heizung, Strom oder Elektrogeräte aus. Die Folge: mehr Haushalte gerieten unter die Armutsgrenze
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2010 hat die Armut kaum sinken lassen.
Hat sich mit der Zunahme von Armut der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf die Betroffenen verändert? Noch bis in die achtziger Jahre galten Arbeitslose eher als Opfer - sie seien nicht dafür verantwortlich, dass Millionen Arbeitsplätze fehlten. Seither rechtfertigten Ökonomen und Politiker Ungleichheit immer offener. Sie erklärten Langzeitarbeitslose zu Versagern - oder zu Verdächtigen, Stichwort "Sozialbetrug". Vor allem verwiesen sie auf die oft mangelhafte Bildung von Stellensuchenden, übersahen aber, dass durch mehr Bildung keine neuen Arbeitsplätze entstehen.
Butterwegge: "Etwa elf Prozent der Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, haben einen Hochschulabschluss. Fast drei Viertel haben eine abgeschlossene Berufsausbildung."
Um "Arbeit zu schaffen", so versicherten die Reformer, sei mehr Verzicht notwendig - am besten mit Niedriglohnjobs. Zugleich müsse Arbeitslosengeld II möglichst karg ausfallen, um die Niedriglöhne attraktiv zu machen. Der Experte von der Universität Köln glaubt sogar:
"Armut ist gewollt. Armut zeigt den Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - 'Da landest du, wenn du nicht weiter funktionierst'."
Wie gehen Arme mit ihrer Situation um? Olaf Kremer ist ein souveräner Mensch - auch bei Terminen im Mannheimer Jobcenter:
Kremer: "Ich nehme ein Recht wahr - durchaus."
Kein Protest gegen strukturelle Armut
Auch Solidarität ist im Alltag der benachteiligten Stadtteile geradezu selbstverständlich. Stefan L. aus Düsseldorf-Hassels:
Stefan L.: "Am 29. Dezember ist hier eine Familie aus Bulgarien angekommen. Die haben nichts. Also haben wir die Familie unterstützt - Geld gesammelt, Lebensmittel gekauft."
Aber warum regt sich in Deutschland kaum Protest gegen sozialen Abstieg?
Kremer: "Eigentlich müsste man sehr empört über die Situation sein - aber es findet nicht statt. Eigentlich müsste man sich tierisch drüber aufregen."
Meral Karakoç aus Duisburg meint:
"Die Menschen sind oft deprimiert, hoffnungslos. Die haben keine Kraft. Die ziehen sich von der Gesellschaft zurück. Die werden eingeladen zum Jobcenter - wie oft ich Menschen erlebt habe, die diesen Brief nicht öffnen konnten. Die hatten Angst, das aufzumachen."
Über eigene Erfahrungen sagt sie:
Karakoç: "Ich war seelisch sehr stark betroffen. Das hat man mir äußerlich gar nicht angesehen. Sportlich, fit ... immer am Lachen ... Eine Bewerbung, die zweite, die dritte – jedes mal Absagen."
Mit ihrer Tochter Gülara beteiligte sie sich einige Male an Demonstrationen: Warum waren da so wenig Leute, was meinst du?
Karakoç: "Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass sich die Leute schämen, dass sie betroffen sind - zu zeigen, hier bin ich, ich bin arm. Innerlich denkt man sich, ich hab nichts im Leben erreicht. Aber die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind einfach so. Viele sehen das als lächerlich an. "Es bringt doch eh nichts. Wir können ja nichts ändern." Natürlich können wir was ändern."
Radka L. hat wenigstens Hoffnung für ihre Kinder:
"Der große Sohn ist 16. Er besucht eine Hauptschule, aber auf jeden Fall möchte er Abitur machen und ein Studium anfangen."
Ist eine Zukunft ohne Armut möglich ? In den letzten Jahrzehnten hat das Sozialprodukt in Deutschland massiv zugenommen - die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Zurückdrängung und selbst Überwindung von Armut sind im Grunde vorhanden.
Am wichtigsten wäre eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung - natürlich dürfte nicht eine Arbeitslosigkeit von drei, fünf oder mehr Prozent zu Vollbeschäftigung erklärt werden. Und steigende Mindestlöhne könnten zu einem Ende des Geschäftsmodells "Niedriglohnsektor" beitragen. Eine andere Alternative wäre Umverteilung - höhere Steuern für die Reichen. So ließen sich höhere Sozialleistungen finanzieren. Olaf Kremer schlägt als Mindestlohn vor:
"Als Einzelperson - das müssten schon um die 1500, 1600 netto sein."
Das erscheint gegenwärtig ziemlich unrealistisch.
Was wird sich durch die vielen Flüchtlinge ändern?
Schröder: "Natürlich werden die, wenn sie neu nach Deutschland kommen, kein eigenes Einkommen erwirtschaften. Wenn durch eine gute Integration die Flüchtlinge in Arbeit kommen, würde die Quote wieder sinken."
Butterwegge: "Die Spaltung in Arm und Reich kann sich vertiefen durch Zuwanderung, wenn die Gesellschaft nicht bereit ist, Zuwanderer angemessen aufzunehmen."
Olaf Kremer, Meral und Gülara Karakoç engagieren sich für die Neuangekommenen. Die verbreiteten Befürchtungen teilen sie nicht:
Karakoç: "Nein, wir haben genug Geld in Deutschland für die Flüchtlinge. Seit die Flüchtlinge da sind - in meinem Kühlschrank ist immer noch das Gleiche."
Auf jeden Fall besteht für Deutschland ohne spürbare Verringerung Armut die Gefahr sozialer Desintegration, einer noch dramatischeren Spaltung der Gesellschaft - wie sie in den USA, England oder Frankreich schon Wirklichkeit ist.
Kremer: "Wir sind nicht weniger wert als andere, die vielleicht wesentlich mehr haben."
Radka L.: "Wir haben eine lebensgroße Angst. So viele Ängste habe ich in meinem Leben nie gehabt."
Karakoç: "Ich finde, Hartz IV-Empfänger sind vergessene Menschen. Das sind Schattenmenschen."