Was heißt heute eigentlich liberal?

Von Reinhard Mohr |
Es ist ein Zeichen der Zeit: Abgegriffen und ideologisch ausgelaugt scheinen fast alle politischen Richtungen. Ob konservativ oder sozialdemokratisch, grün oder sozialistisch - die Attribute von rechts bis links rufen, trotz aller lauten Wahlkampftöne, keine Leidenschaften mehr hervor. Die althergebrachte Farbenlehre der demokratischen Parteien taugt nur noch zur profanen Grob-Orientierung - erst recht in Krisenzeiten. Der Rest der Meinungsbildung folgt dem Bauchgefühl. Und dem Zeitgeist.
Mit dem Liberalismus ist das ein bisschen anders. Merkwürdig zeitlos, aber auch ein wenig diffus, hält er sich in den Wirren der jüngeren deutschen Geschichte. Immer wieder auf schwankendem Grund, doch letztlich nicht totzukriegen. Seit die FDP im Jahre 1946 zu den ersten Wahlen in den damaligen Westzonen Deutschlands antrat, ist der Liberalismus hierzulande vor allem mit einer Partei verbunden, deren Vorsitzende nicht immer den Schönheitswettbewerb mit der leuchtenden Metaphysik der Freiheit bestanden haben.

Der gegenwärtige Höhenflug der Liberalen sorgt für weitere Verwirrung: Eine pro-kapitalistische Offensive in Zeiten allgemeiner Kapitalismus-Schelte? Andererseits: Wer bitteschön wäre, zumal in der westlichen Welt, gegen den großartigen Leitgedanken der individuellen Freiheit und der Selbstbestimmung des Menschen, den schon große Denker der Aufklärung wie Voltaire und John Locke, John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville formuliert haben?

Dass die Partei des Liberalismus in Deutschland so oft mit der Fünf-Prozent-Marke zu kämpfen hatte, liegt einerseits an dem übermächtigen Sicherheitsbedürfnis der Deutschen, das die Wähler lieber an die großen Volksparteien delegierten als an die schwer einzuordnenden Liberalen, deren Freiheitsbegriff allzu sehr mit Zahnärzten und Porschefahrern verbunden scheint. Andererseits war "Liberalismus" stets ein schwer fassbarer, schillernder Begriff, der in alle möglichen Himmelsrichtungen ausschlagen konnte. Für fast jede Variante gibt es da ein populäres Präfix: Vom marktwirtschaftlichen Urkonzept des Ordo-Liberalismus eines Friedrich Hayek bis zum Neo-Liberalismus in der Ära der Globalisierung, vom Links-Liberalismus der "Freiburger Thesen" bis zum Maultaschen-Liberalismus schwäbischer Provenienz.

Was also ist heute liberal? An zwei Fronten kämpft der traditionelle Liberalismus, der sich immer offen zeigen wollte für gesellschaftliche Neuerungen, mit den beiden dramatischen Veränderungen der postmodernen Welt: Digitalisierung und Globalisierung. Angesichts der explosionsartig angewachsenen Datenflut muss sich der gute alte Rechtsstaats-Liberalismus immer wieder neu justieren. In Zeiten von Internet, Facebook, YouTube und globaler Twitterei sind die Freiheits- und Ausdrucksmöglichkeiten der Menschen zwar immens gewachsen, andererseits werden sie eben auch auf drastische Weise missbraucht – Beispiel Kinderpornografie und Terrorismus. Hier die richtigen Grenzen zwischen Freiheit und Sicherheit, Libertinage und Moral, Individuum und Staatsräson zu ziehen, wird immer schwieriger.

Das andere Kampffeld offenbart sich in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch hier ist offenkundig geworden, dass dem freien Markt, so notwendig und hilfreich er ist, auch ein wachsendes Potenzial der Selbstzerstörung innewohnt. Die alte liberale These, der Staat solle sich auf ein Minimum zentraler Aufgaben zurückziehen, hilft hier nicht mehr weiter. Das Verhältnis von Markt und Staat, zwischen unveräußerlichen Menschenrechten jedes Einzelnen und notwendigen Eingriffen in die individuelle Freiheitssphäre, siehe Steuerflucht, muss neu austariert werden – und das auch noch im weltweiten Maßstab.

Eine echte Herausforderung für einen modernen Liberalismus. Flotte Guido-Sprüche und das Mantra der Steuersenkung werden da nicht reichen. Der Liberalismus muss Farbe bekennen.

Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".