Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick
"Ich kann nicht in Dein Tagebuch schauen"
Er war sechs Jahre alt, als sein Vater sich tötete. Sie sehen einander so ähnlich, sie lasen die gleichen Bücher. Er fragt sich: Ist diese Person real oder nur eine Idee davon, wie es ist, einen Vater zu haben?
Also Papa, was ich dir ... Ich kann tatsächlich nicht mal "lieber" sagen, weil's so schwierig ist. Ich bin damals sechs gewesen, fünf gewesen, als ich erfahren hab', dass du gestorben bist, und hab' fürchterlich geweint. Zwei Tage später hab' ich dann erfahren, dass es nicht die ganze Wahrheit ist, sondern dass du dich umgebracht hast, also dass du es selber gewesen bist.
Jetzt bin ich 24, und es hat sehr viel Kraft gekostet, mich jetzt mit dir intensiv auseinanderzusetzen. Insgesamt sind 15 Jahre vergangen, nachdem ich das erste Mal wieder deine Familie gesehen hab', deine Mutter gesehen hab', die sich wahnsinnig gefreut hat, dass ich sie besuchen komm', nachdem sie damals den Kontakt abgebrochen haben, weil du in deinem Abschiedsbrief geschrieben hast, dass meine Mutter unter anderem daran schuld ist. Wofür du dich − ganz gelinde gesagt – wirklich ernsthaft schämen solltest. Ich hab' nie wieder einen Menschen getroffen, der mit so viel Kraft und so viel Engagement dafür gekämpft hat, dass die beiden Kinder was werden und 'ne Chance haben trotz der schwierigen Ausgangsvoraussetzungen.
Ich erinnere mich, da hing ein Bild an der Wand, als du in etwa so alt warst wie ich, so 20. Ich hab' mich so erschreckt, weil du von der Seite aussiehst wie ich. Das hätte auch ein Bild von mir sein können. Und es ist schwierig, jemanden, der so viel Leid über 'ne Familie gebracht hat, im Gesicht zu haben tatsächlich. Wir sind uns in vielem ähnlich. Wie dein Bruder sagt: Wie wir laufen, wie wir lachen. Sachen, die wir lustig finden, und auch Sachen, die uns zutiefst interessieren. Ich habe das auch gemerkt, als ich jetzt deine Bücher gefunden habe und da genau die Autoren findʼ, die ich mir intuitiv auch selber herausgesucht habe, dass du Nietzsche gelesen hast, dass du Camus gelesen hast, Sartre gelesen hast, und ich die alle auch gelesen hab' − aber wir nie die Chance hatten, zusammen darüber zu sprechen, sich darüber auszutauschen über das, was einen tief im Innersten berührt. Da einen Punkt zu haben, wo man sich miteinander findet. Und ich hatte immer nur Bilder und Geschichten und nie persönlichen Austausch, nie was Persönliches.
Was hat Dich im Leben begeistert?
Ich hab' wirklich immer vermisst, mich darüber auszutauschen zu können, was dir an diesen Büchern jemals was bedeutet hat. Auch was dich sonst in deinem Leben begeistert hat. Wie zum Beispiel deine Beziehung zu deinem Vater war. Oder alles andere, so diese Kleinigkeiten, dieses persönliche Leben, dieses Groß-werden, sich für Dinge interessieren. Auch Geschichten, die man über dich kennt, dass du in Mannheim politisch engagiert warst und andere Sachen. Dass ich nie mit dir persönlich die Chance hatte ... dass, als ich ein Tagebuch von dir gefunden hab', ich nicht reinschauen kann. Ich kann nicht reinschauen, weil ich mir denke: Es ist derart privat, ich darf über einen Menschen, den ich nicht kenne ... so private Sachen gehen mich nichts an. Das ist natürlich Quatsch, weil ich dein Sohn bin und wenn ich nicht das Recht habe, das zu lesen, wer denn dann auf dieser Welt. Aber es geht nicht. Ich kann nicht reinschauen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich mir denk', das geht mich nichts an.
Die wenigen Erinnerungen, die ich von dir habe, als Vierjähriger oder als Dreijähriger, das ist jetzt so schwierig. Weil der eigene Vater ... natürlich liebt man ihn und schaut als kleiner Junge zu ihm auf. Ich habe auch ganz viele alte Bilder gefunden, die ich dir damals gemalt hab'. Ich weiß noch, da gab es im Kindergarten so 'ne Sache, man sollte seinen Helden malen. Und ich habe deinen Kopf auf einen Ausschnitt von Superman geklebt. So wichtig bist du gewesen! Das war das Gefühl, was ich damals mit dir verbunden hab'.
Aus der Verantwortung gezogen
Ich glaube, was jedes Kind von seinen Eltern will, ist geliebt zu werden, gemocht zu werden. Aber ich hatte dieses Gefühl nicht. Weil du mit sechs dich aus der Verantwortung gezogen hast und ich aber mir denk', ob überhaupt diese Leere, die ich da spüre, ob das überhaupt die reale Person von dir mir je hätte geben können. Ob es tatsächlich das ist, was du gewesen wärst, oder ob das nur die Idee ist, die ich davon habe, wie es ist, wenn man einen Vater hätte. Das sind Fragen, die bleiben bis zum Ende. Und das macht alles so tragisch, dass man Fragen bis ans Ende mitnimmt.
Ich glaube, dass das, was du heraufbeschworen hast − auch wie sehr mich das beeinflusst und ich immer irgendwo in diesem Schatten stehe − mich einerseits sehr stark traurig gemacht hat, aber andererseits auch sehr stark angespornt hat. Und dass ein Großteil von dem, was ich jetzt bin, auch darauf zurückzuführen ist. Und dafür kann ich dich einerseits − so ambivalent es ist ... kann ich dich hassen. Und auch genau dafür kann ich dich lieben.
"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)
In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.
Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.
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