Was ist sozial gerecht?

Der Journalist Heribert Prantl, Leitender Redakteur bei der "SZ", warnt davor, soziale Errungenschaften preiszugeben. Statt einer Reichensteuer plädiert der Wirtschaftswissenschaftler und Sozialexperte Gert Wagner dafür, die Steuerschlupflöcher zu schließen. Sie können am Telefon oder per E-Mail an gespraech@dradio.de mitdiskutieren.
Der Wahlkampf ist voll entbrannt, und kaum ein Begriff wird dabei derart strapaziert wie der der sozialen Gerechtigkeit. Da wirft der Kanzler der Union vor, sie lege die "Axt an die Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft". Die CDU kontert umgehend, die SPD habe den größten sozialpolitischen Skandal zu verantworten: die Rekordarbeitslosigkeit. Und sie verspricht, den Sozialstaat umzubauen. Die neue Linkspartei macht die Gerechtigkeit gleich zum Programm.

Nur, was kann der viel beschworene Sozialstaat noch leisten, angesichts von Massenarbeitslosigkeit, demographischem Wandel, ausgepressten Sozialsystemen und wachsendem Globalisierungsdruck?

"Der Sozialstaat verwandelt sich in den Kapitalstaat", konstatiert Heribert Prantl in seinem neuesten Buch "Kein schöner Land - Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit". Der Journalist und Jurist warnt darin vehement davor, soziale Errungenschaften preiszugeben:

"Sozialpolitik war der Tribut, den das Kapital im Interesse möglichst reibungslosen Wirtschaftens über hundert Jahre nolens volens zu entrichten bereit war. Weil heute der Gegner keine Kraft mehr hat, ist es damit vorbei. Es heißt jetzt 'Eigenverantwortung', wenn die Schwächeren sich selbst überlassen bleiben. Ausbeutung war gestern; Entlassung ist heute. So mancher Entlassene wäre lieber ausgebeutet."

Prantl – heute Leiter des Ressorts Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung" – war jahrelang Richter und Staatsanwalt. Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Kurt-Tucholsky-Preis. Auch in seinem neuen Buch bezieht er klar Position:

"Soziales streichen: Noch nie hat es die Wirtschaft so leicht damit gehabt wie heute. Kapital und Markt kennen immer weniger Barrieren und Beißhemmungen."

Wer den Sozialstaat aufgebe, so Prantl, gefährde die Demokratie.

"Ich sehe nicht, dass wir plötzlich in einer anderen Welt leben und der Sozialstaat gestrichen wird", hält Prof. Dr. Gert Wagner dagegen. Der Sozialexperte und Forschungsleiter beim Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) beobachtet die soziale Entwicklung seit Jahren. Statt einer Reichensteuer, wie sie Prantl fordert, plädiert der Wirtschaftswissenschaftler und Politikberater dafür, die Steuerschlupflöcher zu schließen. "Wir müssen die Subventionen runterfahren, da wird viel zu viel reingepumpt.", ist nur einer seiner weiteren Vorschläge. Soziale Gerechtigkeit ist für ihn zu einer Floskel verkommen, die sich Politiker gern auf die Fahnen schreiben. "Dafür können sie sich nichts kaufen. Es kommt auf die Details an."

"Was ist sozial gerecht?" – darüber diskutieren der Sozialexperte Prof. Dr. Gert Wagner und der Journalist Heribert Prantl heute gemeinsam mit Dieter Kassel, von 9 Uhr 07 bis 11 Uhr in der Sendung "Radiofeuilleton – Im Gespräch". Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 - 2254 oder per E-Mail: gespraech@dradio.de.
Literaturhinweis:
Heribert Prantl: "Kein schöner Land – Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit". Droemer / Knaur, München 2005