"Was macht unsere heutigen Wohnungen eigentlich so anders?"
Richard Hamilton, geboren 1922 in London, gehört zu den wegweisenden Künstlern der Gegenwart. Ihm wird nicht nur die Erfindung der Pop-Art zugeschrieben, er war auch der Erste, der sich dem kontinuierlichen Studium der Mechanisierung und Digitalisierung von Bildern gewidmet hat. Bereits 1949 zerlegte er seine Motive, um - ausgehend von Marcel Duchamps "Akt, eine Treppe herabsteigend" - die Frage zu stellen, wie sich ein Gegenstand bei Bewegung verändert. Vom 25. Mai bis 10. August präsentiert die Kunsthalle Bielefeld Hamiltons "Virtuelle Räume".
Schon in den 1950er-Jahren, inspiriert durch ein Buch von Claude Shannon, glaubte Hamilton, dass das binäre System die Voraussetzung schaffen würde, alle Motive darzustellen. Das digitale Zeitalter war für ihn geboren. Seit den frühen 1970er-Jahren, seit es käufliche Computer gibt, greift Hamilton auf die fortgeschrittenste Hard- und Software zurück, um seine eigenen Werke digital zu generieren. Mit den neuesten Bildprogrammen und Druckern beginnt er, sogar frühere Arbeiten zu verändern und ein weiteres Mal zu vervollkommnen. Das Geschenk, sagt Hamilton, das der Computer einem bekennenden Collagisten machen kann, ist das Maß der Kontrolle.
Am Anfang steht seine eigene berühmte Pop-Collage von 1956, "Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?", die er aufgrund einer BBC-Anfrage 1994 "aktualisiert". Das historische Blatt, das einen Mann, eine Frau und gefundene Bilder zu den Themen Geschichte, Essen, Zeitung, Kino, Fernsehen oder Comics zeigt, wird von ihm zunächst mit der banalen Postkarte eines einfachen spanischen Hotelzimmers hinterlegt. In diesen Raum, der von ihm maßstäblich angepasst wird, fügt er nach und nach zeitgemäße Gegenstände ein, bis "der Moment der Wahrheit" gekommen und das Kunstwerk in seinen Augen fertig ist.
Hamiltons Ausstellung "Virtuelle Räume" zeigt nicht nur großartige Werkbeispiele aus den letzten fünfzehn Jahren. Sie dokumentiert, in welchem Umfang der Künstler seit 1994 scheinbar einfache Bilder, zum Beispiel die Postkarte eines jungen japanischen Hochzeitspaars, aufgegriffen hat, um die Variationen erzähltechnisch wie erkenntnistheoretisch aufzuladen.
Der dümmlich lächelnde Bodybuilder hat sich in eine aggressiv posierende muskulöse Frau verwandelt, ein Stoppschild ersetzt den knallroten Lollipop von 1956. Und statt des nackten Mannequins auf dem Sofa sitzt in Richard Hamiltons aktualisierter Version seiner Pop-Inkunabel ein Mann in Schlips und Kragen vorm Monitor mit den Börsenkursen. Auf Wunsch der BBC gibt der Collagekünstler 1993 eine neue Antwort auf die alte, durchaus nicht in die Jahre gekommene Frage: "Was macht unsere heutigen Wohnungen eigentlich so anders?" Draußen sieht man keine Kinoreklame mehr, sondern vorrückende Panzer im Balkankrieg. Überraschend neu ist vor allem die Machart: nahtlos, mit perfekter Raumperspektive und hyperrealistischem Schattenwurf, ohne erkennbare Klebekanten. Das ging nur am Computer:
"Ich halte mich selbst nicht für einen Fotografen, ich bin Maler. Und das hier sind Werkzeuge, die ein Maler des 21. Jahrhunderts benutzt - statt Ölfarbe und Pinsel."
Anhand einer ganzen Serie von Vorstudien und Entwürfen lässt sich in der Bielefelder Kunsthalle verfolgen, wie die Montage von Postkarten, Möbelwerbung und dem von Hamilton eigenhändig aufgenommenen Foto eines Londoner Börsenbrokers vor seinem Monitor zur digitalen Vollendung gebracht wurde. Der Künstler arbeitete dabei eine regelrechte Bestellliste ab, für ihre Epoche charakteristische Motive wie Mann und Frau, Essen und Zeitungen, Kino, Comics, Haushaltsgeräte und nicht zuletzt den Weltraum. Nicht einfach "Bilder", sondern "subjects", wie Hamilton betont:
"Ich habe immer an Themen gearbeitet - mit einer speziellen Technik, die mich weitertreibt, statt an einer Sache hängenzubleiben: Eine Liste aus den 50ern mit allen Genres, die ich seitdem abhake. Habe ich Interieurs gemacht, sage ich mir: Jetzt geht’s an die Fassade. Das war die Inspiration für ein Relief des Guggenheim-Museums in New York."
Nicht nur der ungestüme Drang zu den jeweils technisch avanciertesten Werkzeugen erstaunt an dem graubärtigen 86-Jährigen. Vor allem Stilzitate und ausgeklügeltes Ineinandersetzen der Sujets markieren Hamiltons lange Reise durch die Ideenwelt der Kunst des 20. und auch 21. Jahrhunderts. Neuerdings lässt er nackte weibliche Wesen engelsgleich durch klassische Kreuzgänge schweben, setzt sich mit künstlerischen Vorbildern von Fra Angelico bis Velasquez auseinander. Sah man einst, wo der Collagist die Schere angesetzt hatte, ist jetzt nicht einmal mehr mit der Lupe auszumachen, wo Hamilton ein Foto benutzt oder mit allerfeinstem Pinsel gemalt, wo er den Ink-Jet-Printer benutzt oder konventionell Farbe auf die Leinwand gebracht hat. Die Dinge haben sich geändert, auch ihre Darstellung, vielleicht sogar die Art, sie anzuschauen. Auf den ersten Blick nämlich scheint all das ohne besondere Handschrift, ohne Seele, bloße Form ohne Gestalt:
"Wir haben kein Wort für das deutsche ’Gestalt’. Aber in England war es in den 50ern Mode, etwa die Hochschule für Gestaltung. Jeder sprach von ’Gestalt’ - ich brauchte Monate, um zu verstehen, was das heißt. Ein wundervolles Wort - aber wir haben keine Übersetzung."
Brauchen die Engländer auch nicht, denn dafür haben sie Richard Hamilton: Einen Kunst-Übersetzer im ständigen Dialog mit anderen Positionen - und großen Namen:
"”Ich begann immer mit weißem Hintergrund, auf einer leeren Leinwand. Ich war befreundet mit Francis Bacon, der machte es umgekehrt, ließ aus der schwarzen Fläche die Farbe aufsteigen. Und da ich meine Auffassungen regelmäßig zu ändern pflege, malte ich eben auch mal eine Figur vor dunklem Hintergrund - ’The Citizen’. Das war ein enormer Unterschied. Und am Computer beginne ich jetzt immer mit Bildern voller Motive, verändere sie mit allen möglichen Farbtönen.""
Dieses strategische Kalkül und dazu der virtuose Einsatz des Computers, all das lässt an den passionierten Schachspieler Marcel Duchamp denken, dessen aufgebocktes Fahrrad bereits in Hamiltons berühmter Collage von 1956 auftaucht.
"”Was ich an Duchamp bewunderte, war seine Gleichgültigkeit, seine Distanz gegenüber allem. Selbst zu Frauen hatte er dieses diffizile Verhältnis. Er kehrte nachts stets in sein Appartement zurück, während sie in der komfortablen Wohnung blieb. So etwas könnte ich nicht - aber andererseits hegte ich diese Bewunderung für seine Abgeklärtheit. Ich dachte, das sei der richtige Lebensstil. Aber ich konnte mich nie zu dieser extremen Position durchringen.""
Und deshalb wird Hamilton weiter zwischen allen Stühlen und Stilen lavieren. Und jeden, der nur etwas länger hinschaut, fesseln mit der Vielfalt und Vielschichtigkeit dieser scheinbar so glatten, nur noch aus nahtlosen Oberflächen bestehenden Bilder, pardon: dieser eigensinnigen Kunst-Subjekte.
Am Anfang steht seine eigene berühmte Pop-Collage von 1956, "Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?", die er aufgrund einer BBC-Anfrage 1994 "aktualisiert". Das historische Blatt, das einen Mann, eine Frau und gefundene Bilder zu den Themen Geschichte, Essen, Zeitung, Kino, Fernsehen oder Comics zeigt, wird von ihm zunächst mit der banalen Postkarte eines einfachen spanischen Hotelzimmers hinterlegt. In diesen Raum, der von ihm maßstäblich angepasst wird, fügt er nach und nach zeitgemäße Gegenstände ein, bis "der Moment der Wahrheit" gekommen und das Kunstwerk in seinen Augen fertig ist.
Hamiltons Ausstellung "Virtuelle Räume" zeigt nicht nur großartige Werkbeispiele aus den letzten fünfzehn Jahren. Sie dokumentiert, in welchem Umfang der Künstler seit 1994 scheinbar einfache Bilder, zum Beispiel die Postkarte eines jungen japanischen Hochzeitspaars, aufgegriffen hat, um die Variationen erzähltechnisch wie erkenntnistheoretisch aufzuladen.
Der dümmlich lächelnde Bodybuilder hat sich in eine aggressiv posierende muskulöse Frau verwandelt, ein Stoppschild ersetzt den knallroten Lollipop von 1956. Und statt des nackten Mannequins auf dem Sofa sitzt in Richard Hamiltons aktualisierter Version seiner Pop-Inkunabel ein Mann in Schlips und Kragen vorm Monitor mit den Börsenkursen. Auf Wunsch der BBC gibt der Collagekünstler 1993 eine neue Antwort auf die alte, durchaus nicht in die Jahre gekommene Frage: "Was macht unsere heutigen Wohnungen eigentlich so anders?" Draußen sieht man keine Kinoreklame mehr, sondern vorrückende Panzer im Balkankrieg. Überraschend neu ist vor allem die Machart: nahtlos, mit perfekter Raumperspektive und hyperrealistischem Schattenwurf, ohne erkennbare Klebekanten. Das ging nur am Computer:
"Ich halte mich selbst nicht für einen Fotografen, ich bin Maler. Und das hier sind Werkzeuge, die ein Maler des 21. Jahrhunderts benutzt - statt Ölfarbe und Pinsel."
Anhand einer ganzen Serie von Vorstudien und Entwürfen lässt sich in der Bielefelder Kunsthalle verfolgen, wie die Montage von Postkarten, Möbelwerbung und dem von Hamilton eigenhändig aufgenommenen Foto eines Londoner Börsenbrokers vor seinem Monitor zur digitalen Vollendung gebracht wurde. Der Künstler arbeitete dabei eine regelrechte Bestellliste ab, für ihre Epoche charakteristische Motive wie Mann und Frau, Essen und Zeitungen, Kino, Comics, Haushaltsgeräte und nicht zuletzt den Weltraum. Nicht einfach "Bilder", sondern "subjects", wie Hamilton betont:
"Ich habe immer an Themen gearbeitet - mit einer speziellen Technik, die mich weitertreibt, statt an einer Sache hängenzubleiben: Eine Liste aus den 50ern mit allen Genres, die ich seitdem abhake. Habe ich Interieurs gemacht, sage ich mir: Jetzt geht’s an die Fassade. Das war die Inspiration für ein Relief des Guggenheim-Museums in New York."
Nicht nur der ungestüme Drang zu den jeweils technisch avanciertesten Werkzeugen erstaunt an dem graubärtigen 86-Jährigen. Vor allem Stilzitate und ausgeklügeltes Ineinandersetzen der Sujets markieren Hamiltons lange Reise durch die Ideenwelt der Kunst des 20. und auch 21. Jahrhunderts. Neuerdings lässt er nackte weibliche Wesen engelsgleich durch klassische Kreuzgänge schweben, setzt sich mit künstlerischen Vorbildern von Fra Angelico bis Velasquez auseinander. Sah man einst, wo der Collagist die Schere angesetzt hatte, ist jetzt nicht einmal mehr mit der Lupe auszumachen, wo Hamilton ein Foto benutzt oder mit allerfeinstem Pinsel gemalt, wo er den Ink-Jet-Printer benutzt oder konventionell Farbe auf die Leinwand gebracht hat. Die Dinge haben sich geändert, auch ihre Darstellung, vielleicht sogar die Art, sie anzuschauen. Auf den ersten Blick nämlich scheint all das ohne besondere Handschrift, ohne Seele, bloße Form ohne Gestalt:
"Wir haben kein Wort für das deutsche ’Gestalt’. Aber in England war es in den 50ern Mode, etwa die Hochschule für Gestaltung. Jeder sprach von ’Gestalt’ - ich brauchte Monate, um zu verstehen, was das heißt. Ein wundervolles Wort - aber wir haben keine Übersetzung."
Brauchen die Engländer auch nicht, denn dafür haben sie Richard Hamilton: Einen Kunst-Übersetzer im ständigen Dialog mit anderen Positionen - und großen Namen:
"”Ich begann immer mit weißem Hintergrund, auf einer leeren Leinwand. Ich war befreundet mit Francis Bacon, der machte es umgekehrt, ließ aus der schwarzen Fläche die Farbe aufsteigen. Und da ich meine Auffassungen regelmäßig zu ändern pflege, malte ich eben auch mal eine Figur vor dunklem Hintergrund - ’The Citizen’. Das war ein enormer Unterschied. Und am Computer beginne ich jetzt immer mit Bildern voller Motive, verändere sie mit allen möglichen Farbtönen.""
Dieses strategische Kalkül und dazu der virtuose Einsatz des Computers, all das lässt an den passionierten Schachspieler Marcel Duchamp denken, dessen aufgebocktes Fahrrad bereits in Hamiltons berühmter Collage von 1956 auftaucht.
"”Was ich an Duchamp bewunderte, war seine Gleichgültigkeit, seine Distanz gegenüber allem. Selbst zu Frauen hatte er dieses diffizile Verhältnis. Er kehrte nachts stets in sein Appartement zurück, während sie in der komfortablen Wohnung blieb. So etwas könnte ich nicht - aber andererseits hegte ich diese Bewunderung für seine Abgeklärtheit. Ich dachte, das sei der richtige Lebensstil. Aber ich konnte mich nie zu dieser extremen Position durchringen.""
Und deshalb wird Hamilton weiter zwischen allen Stühlen und Stilen lavieren. Und jeden, der nur etwas länger hinschaut, fesseln mit der Vielfalt und Vielschichtigkeit dieser scheinbar so glatten, nur noch aus nahtlosen Oberflächen bestehenden Bilder, pardon: dieser eigensinnigen Kunst-Subjekte.