Die Basis. Kindheitstrost: Erinnerungen, Lücken, Selbsterzählungen
Von Ankern, Zeit und Untröstlichkeit
29:52 Minuten
Marie Luise, Erik, Olli und Susann: Vier Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen erzählen von kleinen und großen Momenten des Trostes. Wie sie ihn fanden, wo er fehlte - und dass er manchmal erst im Rückblick sichtbar wird.
Menschen, die sich nie begegnet sind: Marie Luise, 70, die pensionierte Lehrerin, die eigentlich anders heißt. Erik, 30, der Künstler. Olli, 48, ehemaliger Tour-Manager. Und Susann, 40 Ex-Wissenschaftlerin, nun Erzieherin in Ausbildung. Sie haben ihre Gedanken und kleinen und großen Momente rund um Trost erzählt: im Gespräch, in Audio-Botschaften oder schreibend. Die Vier sagten, dass sie bis zur Gesprächsanfrage eigentlich nicht direkt mit "Trost" beschäftigt waren. Einige von ihnen meinten zunächst, Trost spiele in ihrem Leben keine Rolle und sogar, sie bräuchten keinen.
Besonders am Trost ist – so individuell er empfunden wird: Er betrifft immer ein Leid, vermag aber nicht einen Zustand vor dem Trostbedarf wiederherzustellen. Trost nullt nicht. Er scheitert, bleibt aus oder er gelingt. – Trostnovellen. Eine ganz konkrete Annäherung an den Trost als Phänomen.
Marie Luise: "Ich kann mich nicht gut an Trost in der Kindheit erinnern. Trost brauchte ich meist, weil ich zum Beispiel in der Schule nichts sagen konnte. Aber ich kann mich nicht erinnern, mich damit jemandem anvertraut zu haben. Als Jugendliche war es ähnlich, es kamen sicher noch kleine Verliebtheiten dazu, die unglücklich waren – Trost habe ich nicht gesucht. Ich war dann eben 'muksch'."
Erik: "Ich war in einem Schwimmverein, und es sollte dann irgendwann einen Wettkampf geben. Das Problem daran war, dass alle, die da mitmachten, viel älter waren als ich. Ich konnte quasi nix. Als ich gerade so die eine Seite des Beckens erreicht hatte, waren die anderen schon lange fertig. Und dann war das eine ziemlich demütigende Angelegenheit, so als Letzter, die ganze Bahn noch zurückschwimmen zu müssen, während die anderen schon draußen sind. Und dann, Trosthandlung meiner Eltern und auch aller anderen irgendwie beteiligten Personen, war dann quasi mir dem olympischen Gedanken verhandeln zu wollen: Schön, dass du mitgemacht hast, dass man sich das getraut hat. Ich weiß aber noch, es hat nicht geklappt. Es hat mich in der Situation nicht getröstet."
Olli: "Meine ganze Erinnerung an die Kindheit, an Familie, ich habe keine schlechten Erinnerungen. Ja, da hat man seinen ersten Unfall mit dem Roller gehabt, das hat wehgetan. Das meine ich nicht. Ich bin als Kind mal in eine Truhe gefallen. Die ist zugeklappt. Im Lagerschuppen. Und das Schloss ist umgeschlagen. Ich bin da nicht rausgekommen und es war ein großes Grundstück und ich bin dabei total ruhig geblieben und wusste: 'Du musst jetzt sehr laut schreien und rufen, und irgendwann wird Oma kommen, die wird das hören.' – Irgendwann kam Oma und hat die Truhe aufgemacht. Sie hat mich auch in meiner Erinnerung nur ganz kurz im Arm gehalten."
Susann: "Ich hatte einen Tisch und genau, meine Eltern wollten mich überraschen mit einem großen tollen Schreibtisch und haben mir den reingestellt. Und ich habe meinen kleinen Tisch vermisst, mich unter diesen großen, wirklich großen Tisch, wo man sich so drunter verstecken kann, habe mich da druntergesetzt und einfach geweint. Bis ich diesen Schreibtisch auch anders sehen konnte. Bis das rausgeweint war, was da diesen kleinen Schreibtisch betrifft."
Lag dann der Trost in dem Akzeptieren des Abschieds?
"In dem Annehmen von dem, dass da jetzt ein neuer Schreibtisch steht und der andere, ja und der andere weg ist", erklärt Susann. "Das zieht sich so durch. Und das ist mir erst in unserem Gespräch so bewusst geworden, dass ich da dieses Gefühl schon."
Dass du es da kennengelernt hast?
"Ja", sagt Susann, "dass ich es da kennengelernt habe."
"Als Kind und Jugendliche habe ich mich ins Land 'Schwindelig' versetzt", erinnert sich Marie Luise. "Im Land 'Schwindelig' war alles besser. Da waren die Leute netter zu mir, ich hatte Freundinnen und Freunde, vielleicht stand ich auch im Mittelpunkt - und die vermaledeiten Komplikationen des Lebens waren leicht lösbar. Sachlich nennt man das natürlich Tagträumerei."
Erik: "Und eine klassische Jugendsituation wäre ja, man hat die Klassenarbeit verkackt, hat man eine Fünf geschrieben in Mathe, schon wieder ne schlechte Situation. Ich erinnere mich, in solchen Situationen hätte ich getröstet werden wollen. Das gab's aber nicht. Ich hätte mir in solchen Situationen niemals Trost abholen können. Da hätte ich eine Antwort gekriegt. "Ja selber schuld. Biste zu blöd für Mathe, musste halt mehr lernen." Trost im Wortsinne war da überhaupt nicht zu erwarten."
Olli: "Auf jeden Fall das Vertrauen. Ich hatte immer Menschen um mich herum, denen ich absolut vertraut habe. Ich wurde nie von Menschen enttäuscht, von denen ich sage, das sind meine Freunde. Der Gedanke gibt mir Trost, ja."
Erik: "Ich war ein ziemlich misstrauischer Jugendlicher. Ich hatte auch als Kind und Jugendlicher nicht wirklich vertrauensvolle Freunde. Es gab halt die Leute in der Schule, aber das waren keine Freunde. An die hätte ich mich niemals gewandt."
Marie Luise. Unglück und Licht
"Salut, ich bin Marie-Luise. Ich bin 70 Jahre alt. Zunächst dachte ich, dass Trost kein Thema für mich sei – aber dann…
Die Tatsache, dass ich keinen Lebenspartner gefunden habe und auch keine Kinder habe, ist ein Unglück für mich – auch immer wieder. Ich lebe eben mit diesem Unglück. Um Trost zu bekommen, braucht man ja jemanden, der einem nahesteht – das ist bei mir kaum der Fall. Ich glaube für mich, dass dieses Sich-Anvertrauen, um sich Trost zu holen, kaum trainiert ist.
Morgens zum Frühstück brennen bei mir Kerzen, das ist unerlässlich. Kerzenlicht vermittelt mir ein wohliges Gefühl – und ich deute es auch als Trost für mich – als Trost im Alleinsein."
Erik. Information, Autonomie und Gestaltung
"Mein Name ist Erik Gebbert, und ich bin Künstler und Kunstvermittler und lebe in der Spinnerei in Leipzig. Ich hab mir gedacht, vielleicht noch mal diesen Coming-Out-Identitätsfindungs-Prozess zu beschreiben.
Warum konnte ich quasi mit keiner Person über das reden, was mich damals wirklich beschäftigt hat. Und ich glaube, dass die Antwort darin liegt, dass letztendlich, als ich noch Jugendlicher war, in meinem kleinen Dorf, wo ich herkomme, gab es überhaupt keine Vorbilder. Homosexuelle existierten eigentlich gar nicht, nur im Fernsehen. In Hollywood gibt es die. Bei uns auf jeden Fall nicht. Und sollte es sie doch geben, dann wäre es aber irgendwie immer klar, dass es immer was Schlechtes ist.
Mein Elternhaus zur Schulzeit, das war ... Das will ich jetzt nicht als lieblos oder schlechtes Elternhaus oder so beschreiben, es ist gar nicht der Fall. Aber man kann, das glaube ich schon, sehr leistungsorientiert nennen. Und das schafft letztendlich eine Grundsituation, wo man jetzt nicht unbedingt auf die Idee kommt, zu seinen Eltern zu gehen, wenn man sich unsicher ist über seine eigene Identität, was im Zweifelsfalle ja auch als weiteres Versagen gewertet werden könnte.
Man sitzt rum, und man denkt, und man versteht sich selber nicht so richtig. Ok, man weiß schon irgendwie, man ist anders, kann es aber nicht benennen. Man hat erstens keine Wörter, keine Begriffe, nichts dafür und will es auch eigentlich nicht. Das ist ja keine spaßige Angelegenheit, auf die man jetzt so richtig Lust hat. Man weiß, es ist da. Man will das aber eigentlich gar nicht haben. Es geht aber auch nicht weg.
Und was letztendlich die Sache hat kippen lassen, war das Internet. Tatsächlich. Das kam bei uns irgendwie auf, als ich zwölf war. Immer noch Seiten, die sich ewig aufbauten und so in 56 Farben funktionierten und ganz alte Internetseiten. Als ich dann plötzlich merkte, das Problem, was ich habe, das haben offensichtlich auch andere. Das war für mich dann wirklich ein ziemlich großes Erleichterungsmoment, so diese ganzen unlösbaren Aufgaben, gibt es dann auf einmal nicht mehr, weil sich die Vorzeichen geändert haben. Und dann ist plötzlich alles gut, so wie es ist, weil man zum Beispiel keine, ich nenne es mal hetero-normativen Rituale, muss man auf einmal nicht mehr machen. Ist großartig, weil man hat ja in seine eigene Identität eingeschrieben, das bin ich jetzt nicht mehr.
Irgendwann kam natürlich dann so Internet 2.0, die sozialen Netzwerke dazu, die natürlich diese kommunikative Reichweite extrem erhöht haben. Dann wird alles sehr viel leichter. Was hat geholfen? Natürlich Kommunikation mit anderen Leuten und letztendlich intellektuelle Beschäftigung mit dem Thema, Theoretikern dazu. Man kann seine Identität halt wirklich formen. Es ist kein Ausgeliefertsein. Es geht. So ein 'Yes, we can', glaube ich, das ist auch ein tröstlicher Satz!"
Olli. Beziehung und Unabhängigkeit
"Mein Name ist Olli. Und ich habe ... lebe mit MS. Wie viele Jahre sind das jetzt? Acht Jahre knapp. Ich bin Rentner, Zeitmillionär, kümmere mich immer noch um irgendwelche Bands, was aber aus dem alten Beruf noch ... "
Was hast du gemacht, beruflich?
"Beruflich Tour-Manager. Traumjob durch Zufall. Ich war total gerne unterwegs.
Trost wird mir, glaub ich, erst bewusst, wenn er schon passiert ist und ich wieder für mich bin. Im Endeffekt gibt es mir auch Trost, dass ich sage, es hätte mich zu einer anderen Lebenssituation zu einem anderen Zeitpunkt erwischen können. Ich habe keine Verantwortung irgendjemandem, einer Familie, einer Frau, einem Job – finanziell gesehen – gegenüber. Ich habe genug Leute auf der Reha kennengelernt, die gerade ein Haus bauten, drei Kinder haben, die Frau zu Hause ist, der Mann selbst einen gut bezahlten Job hat. Und jetzt weiß, er hat diesen Job nicht mehr. Wie geht es überhaupt weiter? Das hatte ich alles nicht.
2010 habe ich Anne kennengelernt, und wir sind zusammengekommen. Und Anne ist die einzige Person gewesen zu der Zeit, außer Micha, die mich begleitet hat von davor mit ein bisschen Rückenproblemen, sage ich jetzt mal, über die Diagnose, über alles, was danach passiert ist. Also, die praktisch mein Leben bis in den Rollstuhl begleitet hat.
Allein wenn ich an diese Beziehung denke, die bis heute anhält, gibt mir das eine Menge Trost, dass ich einen Menschen kennengelernt habe, der das vielleicht im ersten Moment emotionaler, den es härter getroffen hat, als mich selbst. Die Diagnose und was das bedeutet, bedeuten kann, am Ende und es trotzdem komplett durchgezogen hat.
Da habe ich dann eigentlich so vielleicht doch Trost darin gefunden, wie sie damit umgegangen ist und wir beide in irgendeiner Form Pragmatiker sind und uns aus pragmatischen Gründen getrennt haben. Wir sind heute noch die besten Freunde.
Trost ist auch körperliche Zärtlichkeiten, streicheln, einfach nur miteinander da sein. Kuscheln. Das ist Trost. Zu jeder Zeit, in meinem Leben, würde ich das als Trost bezeichnen."
Susann. Empathie und Zeit
Susann ist Erzieherin in Ausbildung. Sie ist 40 Jahre alt. Im ersten Beruf war sie als Wissenschaftlerin tätig, bis sie nach einer einschneidenden Erfahrung entschied, ihr Leben ganz neu zu ordnen.
"Standard-Trost, den die Kinder in der Kita oft verlangen. Es sind Pflaster und Kühl-Packs. Wenn da auch keine offene Wunde ist, klebe ich kein Pflaster. Ich gebe ja zuerst die Zuwendung und meistens verschwindet dieser Wunsch dann dadurch."
Und wenn du Zuwendung gibst, wie machst du das?
"Der Kontakt ist direkt. Sprache ist da zu viel in dem Moment, wo ja jemand um Atem ringt oder mit seinen Gefühlen ringt. Wenn die Atmung schnell geht, dann atme ich langsam. Fast so reflexhaft ist das bei mir, dass ich langsam atme. Die Kinder atmen meistens dann mit, so tief und ruhig.
Gerade heute hatte ich eine Situation, wo jemand gefallen ist und sich hingestellt hat und noch ganz aufgeregt war und geweint hat. Und dann war so ein Impuls, den ich hatte, meine Hand aufs Herz zu legen. Und dann hat das Kind einfach selbst auch seine Hände über meine gelegt. Dann haben wir eine Weile so gestanden, und es gab gar keine Worte, sondern diese Berührung."
Wie wichtig ist es in deinen Augen, dass das Trösten von Empathie begleitet ist. Ist das wichtig?
"Ja. Für mich ist es wichtig."
Glaubst du, für die Wirksamkeit von Trost ist es auch wichtig?
"Für die langfristige Wirksamkeit von Trost ist es wichtig. Kurzfristig lassen sich Dinge auch anders wegtrösten. Wegtrösten ist unter anderem für mich ablenken, ein standardisiertes Trost-Mittel verwenden."
Guckt mal, da fliegt es?
"Ja, das ist für mich ablenken. Zumeist greift er nicht gleich, und daher denke ich, ist es ein Weggehen von dem Gefühl, was da eigentlich gerade ist. Ich habe noch nie beobachtet, dass das gleich funktioniert. Ich denke, langfristig ist es gut, da durchzugehen, begleitet durch diese Gefühle zu gehen. Zu merken, dass diese Gefühle auch wieder weggehen. Und ich danach noch da bin. Und die Welt ist da – und das, denke ich, ist ein gutes Rüstzeug.
Ein Kind, in der Kita – Das war das, was ich beobachten kann. Nach dem Weggang – in dem Fall seiner Mutter. Sehr traurig. Sehr, sehr, sehr lange. Es kamen Kinder, Erwachsene, haben nachgefragt, und es war der Vogel nicht. Es war nichts, es war Weinen. Es war durchaus 'Sich auf den Schoß setzen.' Es war durchaus auch an der Hand laufen dann, bei mir als Pädagogin. –– Und dann irgendwann war es wie ein Schnipsen – und es war weg. Und mir schien, als wenn dieses Kind, das dann da stand, mit einer Hand in der Hosentasche - 'So und jetzt hab ich aber echt Hunger.', als wenn es so einen richtigen Wachstumssprung gemacht hätte. Also als wenn da enorm was passiert wäre."
Erik. Stimmen und die Kunst
"Ich glaube, dass, je größer tatsächlich das Leid ist, desto eher muss man versuchen, diesen Trost in sich selber zu finden. Es kann auch ne gute Stimme in einem selbst geben, die sagt: 'Das war gut!'. Oder: 'Du bist gut!' Wenn man das ummünzt auf die Frage: Kann man, wo kann man Trost finden? Ja, man kann. Oder sagen wir mal so: Ich kann darin Trost finden, wenn ich diese gute innere Stimme frage.
Es hat mal eine Kommilitonin von mir den wunderschönen Satz gesagt: 'Die Kunst macht mich krank und wieder gesund.' So ein bisschen kann man sich den künstlerischen Prozess vorstellen. Ein Grund, an der Kunst krank zu werden, dass man so ein konzeptionelles, intellektuelles Problem an der Sache nicht lösen kann."
Auch an den "Team-Boys" ist Erik ein bisschen krank geworden und letztlich gesund: Erstes Projekt nach dem Meisterstudium. Möglichkeiten, Materialien und Diskursraum der Kunsthochschule fehlen. Stattdessen empfindet er Erwartungsdruck. Bis er mit seiner Arbeit an den Holzschnitten beginnt und beschließt, dass es wenigstens Spaß machen solle, wenn sich schon niemand dafür interessiere.
Die "Team-Boys" sind eine Serie von Holzschnitten, die männliche Akte zeigen und explizit pornografische Szenen zweier oder mehrerer Personen. Die Materialität des Holzschnitts, könnte man sagen, bricht das Harte, Nackte, Objekthaft-Pornografische auf. Es scheint als spende diese alte Technik durch ihre Form der Darstellung fast zärtlich, einen Schutzraum. – Irgendwie Tröstlich.
"Ich finde, da ist auf jeden Fall was dran. Nicht, dass ich das jetzt bewusst und absichtlich genauso gemacht hätte, genau aus diesem Grund. Aber es hat sich dann doch irgendwie eingeschlichen. Dieser Begriff der Schutzmauer und daraus letztendlich so einen tröstlichen Gedanken abzuleiten, das wäre quasi die positivste Auslegung dieses Materialtransfers. So eine Überlegung führt mich natürlich direkt zu diesem, zu diesem Punkt vom Krank- und Gesundwerden."
Marie Luise. Das Weiche und die Nichte
"Ich fuhr auf der Autobahn A 36, nahe Besançon. Viele Gedanken beschäftigten mich. Plötzlich war ich zu nah dran und konnte nicht mehr verhindern, dass ich gegen diesen Wagen fuhr. Ich vermute, dass Sekundenschlaf für einen Moment aufgetreten war und ich mit meinem Wagen schneller wurde, weil es bergab ging. So passierte es dann. Ich stellte mich ein auf 'schlimme Realität'. Ich riss das Lenkrad herum, touchierte wohl das andere Auto noch einmal, krachte gegen eine Begrenzungsmauer. Das Auto hatte sich wohl schon umgedreht, sodass das Dach unten war, und so rutschte ich noch circa 50 Meter auf Motorhaube und Windschutzscheibe. Ich hockte vor den Sitzen, meine Hände waren auf der – gesplitterten – Windschutzscheibe, darunter der Asphalt. Ich war froh, als das Auto nicht mehr rutschte. Ich konnte den Sicherheitsgurt lösen, die Tür öffnen und krabbelte raus. Mit mir zusammen fiel mein kleiner Rucksack heraus, in dem alle Papiere waren, und ein Kissen, das immer im Auto ist. Ich lief bergauf zu den anderen Unfallbeteiligten und rief:'Je m'excuse, je m'excuse!'
Später kam ein Krankenwagen und ich stieg ein. Ich war in Sorge um meine Geige, – wenn Unerfahrene das Auto umdrehen, um es dann abzuschleppen. Ein "pompier', ein Feuerwehrmann, in voller Montur und brachte mir meine Geige, in den Krankenwagen. Kleine Abschürfungen an der Hand wurden behandelt. Man wollte mich ins Krankenhaus bringen, das lehnte ich ab. So saß ich nun da – meinen kleinen Rucksack bei mir, die Geige neben mir – und auf den Knien das Kissen. Das Kissen, dessen Weichheit mir unheimlich gut tat. Darüber war ich richtig erstaunt, wie wohltuend so ein weicher Gegenstand in solch einer Situation sein kann. Weich und tröstend.
Das Abschleppunternehmen kam mit einem großen Pickup. Wir drei Unfallbeteiligten saßen nebeneinander. Ich mit dem Kissen auf meinen Knien und der Geige neben mir. Ich musste Abschied nehmen von meinem schönen grünen Peugeot 206. Mir wurde ein Taxi geschickt, das mich in ein Hotel brachte. In vielen meiner Taschen waren Glassplitter, aber es war sonst nichts kaputt gegangen. Die Geige war ok und auch die Flasche Rosé, bei Aldi gekauft für den ersten Abend in Südfrankreich, war – unbeschädigt. Ich habe sie an den nächsten beiden Abenden ausgetrunken.
Dann stand die Frage im Raum: 'Wie komme ich wieder weg?' Bei meinen vielen Gepäckstücken kamen Bahn und Flugzeug nicht infrage. Meine Nichte und ihr Freund fuhren nach Basel, um dort am Flughafen, also in der Schweiz, ein vom ACE bereitgestelltes Mietauto abzuholen. Sie kamen dann nach Besançon, um mich mit all meinen Dingen nach Berlin zu fahren. Und ich spürte, dass sie das gerne taten. Das war sehr tröstlich für mich."
Olli. Freundschaft und Trost im Rückblick
"Die meisten Situationen kann man ja abstellen oder ändern. Meine MS, die kann ich nicht abstellen. Das ist so ein Faktum. Das ist so. Lern, damit umzugehen, das kann ich auch einfach akzeptieren. Ich sage jetzt einfach, die ersten drei Jahre waren anstrengender als die letzten sechs für mich. Das zu lernen, und okay, jetzt geht das nicht mehr."
Für alles, was nicht mehr geht oder nicht mehr allein, sind immer wieder Freunde da, die ohne großes Aufhebens Ollis Lebenssituation begleiten. Micha ist Ollis Freund, Mitbewohner – auch schon vor der Erkrankung. Er wird sein fester Begleiter im Alltag. Egal, ob es um Einkaufen, Fahrdienste, den Weg zur Physiotherapie oder um Konzerte geht.
"Über das persönliche Budget arbeitet er für mich, aber auf der Selbständigen-Basis. Teilhabe am öffentlichen Leben. Rückwirkend betrachtet: Wie krass, dass es Micha ist. Und nicht irgendwer, den man erst kennenlernen muss und nicht genau weiß, wie.
Kennengelernt haben wir uns Mitte der 90er. Er spielte in einer Punkband, ich spielte in einer Punkband. Und dann ist daraus halt eine Freundschaft geworden, und ich behaupte bis heute, es ist wahrscheinlich – ich spreche jetzt nur von mir, wir reden da auch nicht drüber, haben es nie – die beste, tiefste, längste Freundschaft, die ich je hatte.
Ich würde wahrscheinlich nie zu Micha sagen: Es tröstet mich total, wenn ich darüber nachdenke, dass aus einer so guten Freundschaft dieses Verhältnis geworden ist. Ich denke einfach zurück an das, was passiert ist, und das gibt mir Trost."
Erik. Zufallstrost
"Neulich ist mir passiert: Ich gehe die Straße entlang. Ich fahre zur Arbeit. Es ist Winter, richtig kalt, und ich habe überhaupt keine Lust, dahin zu fahren. Und dann sitze ich auf meinem Fahrrad, und auf einmal kommt mir irgendwas entgegen. Okay, das ist ein Typ, der hat vier Hunde. Zwei rechts, zwei links und er steht auf einem Skateboard und fährt mit denen rum. Wie verrückt! Und schon hatte ich wieder vergessen, dass ich zur Arbeit fahre und dass das ziemlich doof ist, was ich hier gerade mache. Eine zufällige Begegnung, hat mich sofort davon abgebracht. Für so einen kleinen Trostbedarf ist das sehr schön, und man muss sich, glaub ich, auch erlauben, das zu sehen."
Olli. Unterwegs
"Dieses auf Tour sein, jeden Tag woanders sein, das ist das, was ich vermisse. Auch wenn ich hier sehr, sehr gerne bin.
Ingo ist einer meiner längsten Freunde. Der war auch immer da, der hat den gleichen Job gemacht und macht den immer noch. Jetzt ist es so. Wir planen gerade, zusammen so etwas wie einen Kurzurlaub zu machen. Da haben wir noch nie drüber gesprochen. Nicht in 20 Jahren. Er ist von sich aus auf die Idee gekommen. Da er auch immer diese tollen Mercedes Sprinter fährt, die ich liebe als Fahrzeug, aber ich sehr schwer einsteigen kann. Ich brauche Hilfe, weil der Einstieg viel zu hoch ist. Da hat er gesagt: 'Also ich habe schon eine Rampe, für hinten. Und ich schiebe dich mit dem Rollstuhl erst mal hinten rein und kann doch vorher die beiden Rückbänke ausbauen. Dann musst du praktisch nur noch auf den Beifahrersitz. Du musst gar nicht mehr den Schritt machen.' Ich so: 'Das klingt nach einem Plan. Machen wir das doch.'
Trost - Wahrscheinlich sind es Beziehungen zu anderen Menschen. Die geben mir Trost."
Trost in der Musik
Marie Luise: "Viele Komponisten haben tröstende Musik komponiert. Zum Beispiel Johann Sebastian Bach am Ende der Johannespassion, der letzte Choral ist so zärtlich und tröstend geschrieben, dass mir diese Musik – zu einer Zeit, in der es meinem Vater sehr schlecht ging – beim Spielen Tränen in die Augen getrieben hat."
Erik: "'Dieses 'Musik – Zitat – Textbaustein, und dann schaue ich mir das an und bin getröstet.' Das Konzept ist mir sehr fremd. Ich habe mir auch vorgestellt, wieso Leute irgendeinen Song im Radio hören, und dann geht es ihnen schlagartig besser, weil der gerade kommt. Das passiert mir nicht."
Olli: "Ich habe immer melancholische Musik gehört. Texte in Musik sind für mich sehr wichtig. Desto schlechter es mir geht, desto trauriger ich bin oder Weltschmerz-behafteter ich gerade bin, desto trauriger und melancholischer ist die Musik, die ich höre. Und das ist immer eine Art von Trost. Es ist wie ein Ventil, das Gefühl zu haben, jemand hat das wohl schon mal erlebt, was ich gerade erlebe, dann ist es besser danach."
Susann. Sein und Zeit
Im Sommer 2017 wird Susann vergewaltigt. Danach: Ohnmachtsgefühle, Ängste, monatelange Schlaflosigkeit, Flashbacks. Ihre Entscheidung, eine Ausbildung als Erzieherin zu machen, ist Teil eines Neuanfangs.
"Am Anfang war es, dass es erst mal Zeit brauchte, rein körperlich zu gesunden. Dann das andere, die Seele, die Psyche, es brauchte ein Jahr insgesamt. Und in dieser Zeit wurde mir immer klarer, dass es da etwas gibt, was unbeschädigt ist, und dieses Unbeschädigte war auf jeden Fall ganz stark in Verbindung mit meinen Kindern und mit anderen Kindern. Und das ist etwas, was ich schon so lange trug: Mit der Geburt meiner Kinder – dass ich sehr, sehr glücklich war, wenn ich mit Kindern zusammen war und sie mit mir. Irgendwann war klar, dass ich das lernen will und in dem Beruf arbeiten will. Aber das kam da noch viel klarer, bedeutsamer auf den Tisch. Das Thema: Was will ich jetzt danach machen.
Während der Vergewaltigung, ich hatte da eine Nahtoderfahrung. Und die war aber so, dass ich mich da total beschützt und sicher gefühlt habe. Dass in dieser Hässlichkeit ein Schutz versteckt war, aus dem ich dann gestärkt wieder in die Situation bin, in der ich ja war."
Haben für dich andere Personen und Beziehungen zu anderen Personen eine Rolle gespielt in Bezug auf das Heile-Werden-Können?
"Meine Kinder waren ganz bedeutsam. Einfach, dass sie da sind."
Freunde, Partner?
"Die waren da. Dass sie da waren letztlich, immer dabei geblieben sind und da waren. Wo es so schwierig war und schmerzhaft und schrecklich und so, da hab ich mich dann einsam gefühlt und hätte mir gewünscht, dass es irgendwie fruchtet.
Und doch wusste ich, bei allem, was sie tun und machen, ist es das nicht. Das Fühlen kann ich nur alleine irgendwie machen. Es ist kein Ende absehbar. Es ist untröstlich, es ist schmerzhaft, es ist gar keine Perspektive in irgendeine Zukunft. Ja, das Wort ist bedeutungslos an der Stelle.
Das Untröstliche kann erst den Trost geben so, finde ich. Die Versuche des Tröstens, die sind bedeutungslos in dem Sinne. Es fühlt sich untröstlich an. Und dann stellt sich der Trost ein.
Ich bin ja in diese Gefühle sehr reingegangen, ich habe diese Gefühle sehr da sein lassen. Eh, wie geht das, die ganze Welt dreht sich weiter. Dabei ist doch so was passiert. Unvorstellbar und schrecklich. Und das tat so weh, und was auch alles dann noch kam. Nach diesem Durchfühlen stellte sich das ein, was wirklich gefühlt ein großer Schatz in meinem Innern ist: Dieses 'Oh ja, es dreht sich weiter! Es geht ja weiter!' Über Körperempfindungen verschiedenster Art, die dann teils von Bildern begleitet waren. Da habe ich erst gelernt, was es heißt, Dinge zu durchfühlen. Das macht mich mutig und gewiss, dass alles durchfühlbar ist.
Trost ist für mich etwas, was sich einstellt. Das ist nichts Gebbares für mich. Nichts von Menschen Gebbares. Trost ist, was kommt, wenn die Zeit gewirkt hat. Trost ist danach, ja. Und es gibt Trost fördernde Bedingungen. Der Trost kommt von woanders."
Das Thema des Features wurde inspiriert von einem Forschungsprojekt zum Thema Trost an der FH Potsdam unter der Leitung von Professorin Karin Borck.
Erstsendedatum: 29.04.2019