Was vom Kriege übrig blieb

Von Ulrich Baron |
Ein französischer Theaterkritiker, ein deutscher Historiker und ein hessischer Justizinspektor führten in den 1940ern Tagebuch und schrieben aus ihrer Sicht auf, wie die Nazis in Frankreich einmarschierten und was sie im besetzten Paris so trieben.
Bücher haben ihre Schicksale. So kommen in diesem Jahr die Aufzeichnungen eines misanthropischen französischen Theaterkritikers und eines jungen deutschen Historikers aus dem von Deutschen besetzten Paris der 1940er-Jahre zusammen, und die Tagebücher eines oberhessischen Justizinspektors stellen ihnen die Heimatperspektive aus dem nationalsozialistischen Deutschland gegenüber.

Der 1872 geborene Kritiker Paul Léautaud und der 1913 geborene Felix Hartlaub sind einander nie begegnet. Léautaud ist nicht zuletzt durch Ernst Jünger auch in Deutschland bekannt geworden, während die zunächst in einer Auswahl publizierten Werke Felix Hartlaubs ihn seit den 1950er-Jahren als Stimme eines anderen jungen Deutschlands bekannt gemacht haben.


Vom 1885 geborenen Geschäftsstellenleiter des Amtsgerichts in Laubach, Friedrich Kellner, aber hat die Öffentlichkeit erst im Mai 2005 erfahren, als George Bush Senior in Texas eine Ausstellung eröffnete, in der die Tagebücher des 1970 verstorbenen Nazi-Gegners und Sozialdemokraten vorgestellt wurden.

Kellners Aufzeichnungen sind ein Gegenstück zu den Tagebüchern eines Viktor Klemperer aus der NS-Zeit. Schwebte über dem Dresdner Romanisten Klemperer das Damoklesschwert seiner jüdischen Herkunft, so befand Kellner sich wegen seiner Kritik am Regime in Todesgefahr. Wie Klemperer wertete Kellner nicht nur alltägliche Erlebnisse aus, sondern auch die Verlautbarungen der Nazis.

Voller Häme konfrontierte er etwa vollmundige Erfolgsmeldungen über die 1941 angeblich vor dem Zusammenbruch stehende Sowjetunion mit Berichten über "planvolle" Rückzüge der Wehrmacht, die sich seit 1943 unaufhaltsam den früheren Reichsgrenzen näherten.

In seinen Notizen und kritisch kommentierten Zeitungsausschnitten zeigt Kellner sich als wegen seiner Widerborstigkeit wiederholt mit der Einweisung ins KZ bedrohter Mann, der die Propagandalügen ebenso früh durchschaut wie die Zielrichtung der Judenverfolgung. Aus der Perspektive des subalternen Beamten verfolgt er, wie willig sich die Deutschen übertölpeln lassen.

Nicht aus Gutgläubigkeit, sondern in der Manier von Schnäppchenjägern, die nach den Brosamen der nationalsozialistischen Beutemacherei gieren. In Hinblick auf den bevorstehenden Angriff auf Polen schreibt Kellner im August 1939:

"Wenn es etwas zu ,nehmen' gibt, wird kaum eine Stimme der Vernunft zu hören sein. Welche Tragik der Menschheit offenbart sich da: Raub- und Habgier! Keiner denkt daran, dass er ja morgen mit dem selben ,Recht' von seiner Scholle verjagt werden kann."

Während in Deutschland der Brotkorb "immer höher gehängt" wird, wächst die Gier, sich dafür am Wohlstand anderer Länder schadlos zu halten. Zwei Meinungen müssten hier festgehalten werden, notiert Kellner am 31. Mai 1940, nachdem Belgien kapituliert hat und der Durchmarsch nach Frankreich frei ist:

"Luftschutzgeneral H.: Jetzt fällt die Entscheidung für 1000 Jahre (im günstigen Sinne für Deutschland). Die Ehefrau des Ortsgruppenleiters Pott: Nach dem Kriege ist Deutschland das reichste Land der Erde."

Knapper lassen sich Denken und Motive von Hitlers Parteigenossen und Mitläufern nicht auf den Punkt bringen, aber Kellners moralischer Rigorismus bringt auch giftige Blüten hervor. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris schreibt er am 18. Juli 1940, die Franzosen seien es "nicht wert, dass man vor ihnen ausspuckt."

Kellner, der sich unter Parteigenossen und Opportunisten wie ein Einsiedler vorkam, hatte auf den Widerstand des Auslands gehofft. Dann kam der Hitler-Stalin-Pakt. Die Tschechoslowakei und Polen wurden okkupiert, Norwegen und Dänemark besetzt, ohne dass der Westen direkt gegen Deutschland interveniert hätte. Und Frankreich hatte sich das Gesetz des Handelns aus der Hand nehmen lassen:

"Diese Art ,Kriegsführung' haben sie sicher nicht von Napoleon gelernt. Es ist nur eine Erklärung möglich: Der gesamte französische Generalstab bestand entweder aus Geisteskranken oder Verbrechern. Frankreich war mit der Tschechoslowakei und mit Polen ,verbündet' und hat mit Seelenruhe zugesehen, wie diese Staaten vom Erdboden verschwanden. Für diese Untreue hat es die gerechte Strafe ereilt."

Hier urteilt ein zunächst von seinem eigenen Volk und dann von anderen maßlos Enttäuschter. Plötzlich scheint das ersehnte Ende des "Tausendjährigen Reichs" in unerreichbare Ferne gerückt, und Kellners Zorn entspringt der Wut der Verzweiflung.


Ganz anders sah es zu nächst in Paris aus. Paul Léautaud, der die intellektuelle Elite Frankreichs und dessen "Haute colloboration" bestens kannte, hält die Erleichterung fest, mit der die Pariser erlebten, dass die deutschen Okkupanten keineswegs als unzivilisierte Barbaren auftraten. Zwei Tage nach deren Einmarsch in die Hauptstadt zitiert er am 18. Juni 1940 eine Tabakverkäuferin an der Place de l'Opera:

"'Die Deutschen sind äußerst höflich, benehmen sich sehr gut, keinerlei Herausforderung' (das sind ihre eigenen Worte). Bezahlen alles, was sie kaufen. In allen Kaufhäusern des Viertels sind alle Seidenstrümpfe weggegangen".

Léautaud aber ist sich sicher, dass Hitler Europa kolonisieren will und dass die Kolonialmacht Frankreich bald selbst erleben würde, was es anderen Völkern zuvor angetan hat:

"Ich bin heilfroh, dass ich nicht zu jenen Einfaltspinseln gehöre, die auf die jetzigen guten Umgangsformen hereinfallen. Eines Tages werden wir unter dem Samt die eiserne Hand sehen."

Nur zwei Monate später notiert er am 13. September 1940, in welchem Maße auch die Vertrautheit mit Frankreichs Kultur der Kriegsvorbereitung der Deutschen gedient habe. So hellsichtig und breit angelegt sich Kellner der Propaganda widmet, so pointiert beschreibt Léautaud, was "Aufklärung" in Zeiten des Krieges bedeutet:

"Sie sind auch, und zwar mit Beweisen in der Hand, über alles auf dem Laufenden, was seit 20 Jahren in Frankreich für oder gegen sie geschrieben worden ist, und das in allen Gattungen: Dramen, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen; sie haben es in Bibliotheken, Archiven und Zetteln erfasst."

Das klingt ein wenig paranoid, passt aber zum Homme de Lettre Léautaud. Und der angehende Schriftsteller Felix Hartlaub, der die Besetzung Frankreichs als Mitarbeiter der Historischen Archivkommission des Auswärtigen Amtes erlebte, hielt dazu neben Alltagsskizzen aus dem besetzen Paris auch Szenen aus einer solchen Archivwelt fest.

"Das eroberte Ministerium" ist das Stück betitelt, das wie eine Archäologie der Gegenwart erscheint. Wie durch die noch nicht ausgeräumten Ruinen einer untergegangenen Zivilisation streifen dort uniformierte Wachmannschaften. Zivile Okkupanten suchen vergeblich nach noch funktionstüchtigen Schreibmaschinen oder wühlen in Akten. Ein durchs Geländer eines Treppenhauses geflochtener Streifen Klopapier gibt den Ariadnefaden:

"Die hier aufgestapelten Mengen erstklassigen Papiers dürften für mehrere Jahrhunderte ausreichen. Formulare für Telégrammes à l'arrivée, au départ, minutes, dépèches, Handzettel von Minister zu Minister in übermannshohen Stößen. Couverts vom schmalen Billet-doux-Format bis zu Metergröße und in allen Farbtöne. An der Wand drei große Bilder. Eins zeigt Wasser, Rauch, blaue Luft und eine Menge zylindersteiler Schornsteine. Französischer Flottenbesuch in Kronstadt. Das zweite den Pariser Kongress 1857."

Hartlaub zeigt hier, wie - mitten im Krieg und trotz aller ameisenhaften Geschäftigkeit - die Zeit stehen geblieben ist:

"Ströme von Briefen haben sich zur Erde ergossen, der Zug blättert in Fotoalben, Staub liegt schon einen halben Finger dick. Pompeianische Effekte: Die Kalender zeigen alle den 14.6.40."

Das war der Tag, als die deutschen Truppen in Paris einmarschierten. Felix Hartlaub ist hier gelungen, was einem Ernst Jünger nur allzu oft ins gewollt Bedeutsame, Metaphorische hinein entglitten ist - große Geschichte ist ins Bild gebannt, und die Historienbilder an den Wänden hat die Zeit überholt. Am Ende dann hat sie auch diesen hoffnungsvollen Autor verschlungen.

Paul Léautaud hat die Jahre der Okkupation überstanden. Friedrich Keller hat man nach 1945 für die Behinderung seiner Karriere durch die Nazis entschädigt; doch die ersehnte Abrechnung mit deren Mitläufern hat er nicht erleben dürfen. Die späte Publikation seiner Tagebücher macht nun deutlich, wie groß seine Enttäuschung darüber gewesen sein muss. Felix Hartlaub aber ist im April 1945 bei den Kämpfen um Berlin verschollen. Geblieben sind nur zwei Bände mit Texten, auf die seine nun ausgegliederten Pariser Aufzeichnungen noch einmal nachdrücklich hinweisen.

Felix Hartlaub: "Kriegsaufzeichnungen aus Paris"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011

Friedrich Kellner: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945"
Herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth
Wallstein Verlag, Göttingen 2011

Paul Léautaud: Kriegstagebuch 1939-1945"
Herausgegeben und übersetzt von Hanns Grössel.
Berenberg Verlag, Berlin 2011
Buchcover „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne" von Friedrich Kellner
Buchcover „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne" von Friedrich Kellner© Wallstein Verlag
Buchcover "Kriegstagebuch 1939-1945" von Paul Léautaud
Buchcover "Kriegstagebuch 1939-1945" von Paul Léautaud© Berenberg Verlag
Buchcover "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" von Felix Hartlaub
Buchcover "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" von Felix Hartlaub© Suhrkamp Verlag