Mandy Schielke: Wie bist Du auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?
Kerstin Schweighöfer: Durch Mathilde, die Schwarzwaldbäuerin aus dem ersten Kapitel – mit ihr bin ich quasi aufgewachsen. Als ich hörte, dass sie 100 wird… Dann hat das Alter auf einmal einen magischen Klang.
Mandy Schielke: Was macht es denn so magisch?
Kerstin Schweighöfer: Weil sie Träger von Zeit sind, weil sie eine Brücke schlagen in eine weit zurückliegende Vergangenheit: Fritz aus Jena zum Beispiel, Jahrgang 1914, ein ehemaliger Berufsschullehrer und Ingenieur, hat die große Inflation 1923 mitgemacht: Seine Mutter und die Frauen aus der Umgebung haben sich mit Häkelarbeiten über Wasser zu halten versucht, die haben sie im Nachbarort verkauft, sind mit dem Leiterwagen zu Fuß dorthin gegangen. Die Mutter mahnte auf dem Rückweg zur Eile: "Lauft schneller, sonst ist das Geld nichts mehr wert, wenn wir ankommen."
Klopfen und Kaltwasser gegen die Falten
Annemarie aus München, "meine" Älteste, Jahrgang 1910 – sie ist im letzten Juli 108 geworden: Annemarie weiß noch, wie Vater in den Ersten Weltkrieg zog, der Bahnsteig voller Frauen und Kinder, die Soldaten in brechend vollen Zügen, Blumen schwenkend. Das kannte ich nur von holprigen Schwarzweiss-Bildern, auf einmal bekommen die Farbe, auf einmal ist man mittendrin.
Mandy Schielke: Heute jagen alle der Jugend nach – was halten diese uralten Menschen davon?
Kerstin Schweighöfer: Oh, ich glaube, die sind oder waren genauso eitel wie wir. Annemarie aus München: Klopfen und Kaltwasser gegen Falten. Mach ich seitdem auch.
Und die waren auch genauso verliebt, hatten genauso viele Schmetterlinge im Bauch wie heute ihre Enkel und Urenkel. Und wollten sich genauso schön machen. Der Einmarsch der Deutschen 1940 in Paris hat zum Beispiel Jeanne – Unternehmergattin aus Paris und klassische Hausfrau, Jahrgang 1914 – nicht davon abgehalten, die Stadt nach schönen Stoffen für ihre Kleider abzugrasen.
"Das Verb 'klagen' kannten sie nicht"
Der Punkt aber ist, dass sie nicht allzuviel Zeit hatten für solche – um es mal so zu sagen – Bagatellen. Sie hatten Wichtigeres zu tun – Kinder großziehen, Essen auf den Tisch bringen, überleben, trauern, Abschied nehmen. Für die Hundertjährigen war der Tod nichts Ungewöhnliches: Sie haben ihre Eltern oder Grosseltern durch die spanische Grippe verloren, ihre Väter bei Verdun und ihre Brüder und Männer bei Stalingrad. Sie kannten Entbehrungen, Krankheiten und Kriege.
Mariska ist dafür ein Beispiel. Eine ungarische Künstlerin. Sie wuchs in einem kleinen Dorf auf, rund 30 Kilometer von Budapest entfernt. Sie hat mir erzählt, wie sie ihren Vater verloren hat, mit acht Jahren:
"Wir sind sonntags nach dem Gottesdienst wie immer in die Hügel gelaufen, dort hatten mein Vater ein kleines Stück Grund mit Weinreben und Obstbäumen geerbt. An diesem Sonntag entdeckte ich eine grosse Birne, die ganz oben im Baum hing. "Die hol’ ich dir!" versprach mir der Vater. Er kletterte nach oben, doch dann brach der Ast ab. Mein Vater fiel direkt auf einen Rebstock, das Holz durchbohrte ihn in der Leistengegend. Der Dorfdoktor hat die Wunde zwar gereinigt, aber ein grosser Splitter blieb stecken. Drei Tage später war mein Vater tot. Blutvergiftung. Und meine Mutter war mit 26 und drei kleinen Kindern Witwe."
Mariskas Mutter hat es nicht geschafft, die Kinder durchzubringen. Die drei überlebten nur, weil sie nach dem Ersten Weltkrieg mit einem der Hungerzüge des Roten Kreuzes in die Niederlande gebracht wurden, wo sie bei Pflegefamilien aufwuchsen. Sie konnten nicht mehr nach Ungarn zurückkehren, denn die Mutter wurde krank und starb ein Jahr später alleine in ihrem Bett. Kurz zuvor hatte eine Nachbarin noch bei ihr vorbeigeschaut, konnte der Sterbenden aber nicht mehr helfen. Das ist heute alles unvorstellbar.
Mandy Schielke: Was hat Dich am meisten überrascht?
Kerstin Schweighöfer: Wie zäh diese Menschen sind, sie haben sich nie als Opfer gesehen, das Verb 'klagen' kommt in ihrem Wortschatz nicht vor, in der Opferrolle gefallen sie sich nicht. "Du musst dir schon selbst helfen, sonst hilft dir niemand", haben sie erkannt und sich Zeit ihres Lebens daran gehalten. Auch wenn sie manchmal hart gegen sich selbst sein mussten, auch wenn es ihnen noch so schwerfiel, einen Schlussstrich zu ziehen, loszulassen und nach vorne zu schauen.
Sie waren Hunger gewöhnt, Kälte, hartes Arbeiten. "Je bequemer es sich der Mensch macht, desto unnatürlicher lebt er", meinte der alte Fritz.
"Unsere Freiheiten sind noch sehr jung - und kostbar"
Als Mathilde, die Schwarzwaldbäuerin, 1936 heiratete, stand sie den ganzen Tag in der Bauernwirtschaft in der Küche, um die Hochzeitsgäste zu versorgen. Sie hatte kein weisses Brautkleid:
"Nein, das war schwarz. Ein weißes, das war für die ganz Reichen, die habbet denn ä weißes gehätt. Und so reich war ich ja nicht, und deshalb han ich ä schwarzes gehätt."
Die Hundertjährigen haben die Einführung des Wahlrechts für Frauen miterlebt und Charles Lindberghs Flug über den Atlantik. Sie waren dabei, als Kutschen durch Autos ersetzt wurden und Penicillin, Kugelschreiber, Nylonstrümpfe und das Telefon erfunden wurden. Man konnte nicht einfach mal anrufen, man musste lange warten auf Briefe.
Beatrice aus London, die Grand Old Lady der britischen Archäologie, sagt: "Wenn ich damals bei meinen Ausgrabungen ein Handy gehabt hätte! Ich hätte alles gleich fotografieren können….unvorstellbar!"
Mandy Schielke: Welche Einsichten und Erkenntnisse hast Du gewonnen?
Kerstin Schweighöfer: Vor allem die, wie jung unsere Freiheiten sind – wie kostbar und wie immens groß. Wir schwimmen zumindest in diesem Teil der Welt in einem Ozean an Freiheiten – vor allem wir Frauen. Wir dürfen selbst entscheiden, an was wir glauben, wen wir lieben, wie wir unser Leben finanzieren und mit wem wir es wie und wo verbringen. Sie sind so unvorstellbar jung, unsere vielen Freiheiten! Vor noch nicht einmal hundert Jahren bestimmten Kirche, Eltern und Lehrer unser Leben, das waren Autoritäten, gegen die man nicht aufzubegehren wagte.
"Es gibt kein Recht auf Glück"
Annemarie durfte kein Abitur mache, weil ihr Vater das nicht für nötig befand. Es wurde die Haushaltsschule. Agnes, die Schreinerstochter aus St. Gallen, durfte erste Liebe nicht heiraten, weil er protestantisch und nicht katholisch war! Mathilde, die Schwarzwaldbäuerin, wurde sozusagen zwangsverheiratet, damit sie unter der Haube und versorgt war. Weil ihre Mutter und der Pfarrer, damals noch unantastbare Autoritäten, es so wollten. Sie erzählte mir, wie der Pfarrer sie vor dem Traualtar fragte:
"Ist des Ihr freier und ungezwungener Wille? Jo, des isch doch gar nicht mein freier und ungezwungener Wille. Und denn hat der Trauzeug’ geflüstert: Sagget Se ja! Und dann habe ich Ja gehaucht, gehaucht habe ich es, alle haben ja auf dieses Ja gewartet. Und ich hab bloß ja gezeit."
Mathilde hat mir auch anvertraut, dass sie mit 15 vergewaltigt wurde, von einem Bauernsohn aus der Umgebung. Sie hat es niemandem zu erzählen gewagt, sie schämte sich zu sehr. Letztendlich hat sie es dem Pfarrer gesagt. Der überlegte kurz und meinte dann: "Gott und ich, wir verzeihen Dir. Sorge dafür, dass es in Zukunft nicht mehr so weit kommt."
Mandy Schielke: Was halten diese uralten Menschen denn vom Glück? Wir jagen heutzutage ja nicht nur der Jugend hinterher, sondern auch dem Glück.
Kerstin Schweighöfer: Das war meine zweite wichtige Einsicht: Das Leben ist nicht gerecht, und wir haben kein Recht auf Glück, weil Glück kein Dauerzustand ist. Wir dürfen vom Leben allerhöchstens einzelne Momente echten Glücks erwarten. Und wenn wir so viele Momente haben, dass wir sie wie Perlen auf eine Schnur reihen können, dann haben wir Glück. Wie oft aber sagen wir - ganz automatisch, ohne weiter darüber nachzudenken - zu unseren Freunden und zu unseren Kindern: "Hauptsache, du wirst glücklich, mein Schatz." Es ist ein unerfüllbarer, ein unerreichbarer Wunsch. Wir sind nicht auf diese Welt gekommen, um dem Glück nachzujagen. Sondern um Erfüllung zu finden. Und wenn wir ein erfülltes Leben leben, dann leben wir ein gutes Leben.
Freiheit, Freundschaft, Unvoreingenommenheit
Mandy Schielke: Und was braucht es dazu?
Kerstin Schweighöfer: Nach den Gesprächen mit diesen uralten Menschen konnte ich sechs Kernwerte herausfiltern: Es sind zum einen – wie gesagt - Freiheit. Und dann Freundschaft: "Freunde sind kein Ersatz für Partner oder Kinder. Aber mindestens genauso wichtig", hat Agnes gesagt. Dank ihrer Freunde ist sie seit dem Tod ihres Mannes 1988 nicht einsam – allein ja, aber nicht einsam. Was sie nicht ihrer Verwandtschaft zu verdanken hat, sondern ihren Freunden. Freunde können mehr sein als Familie, Freunde kann man sich aussuchen, die Familie nicht. Freunde sind füreinander da, die Familie nicht unbedingt. Deshalb über Job und Familie nie den Fehler machen, die Freunde zu vernachlässigen.
Mandy Schielke: Aber Freunde sterben und es ist so schwer, neue zu gewinnen, oder nicht?
Kerstin Schweighöfer: Es sei denn, man ist so wie die Menschen in meinem Buch sein Leben lang offen und neugierig geblieben, unvoreingenommen. Das ist der dritte Wert nach Freiheit und Freundschaft: Unvoreingenommenheit. Und wer dem Leben unvoreingenommen begegnet, gewinnt schneller Freunde, der hat überhaupt viel bessere Aussichten auf ein erfülltes Leben, als diejenigen, die misstrauisch sind, vorschnelle Schlüsse ziehen und die Arme vor dem Leben verschränken.
Mariska zum Beispiel, die kleine ungarische Malerin, hat immer alle gleich behandelt. "Lump ist Lump, und Mensch ist Mensch", lautet ihre Devise. Ich habe sie gefragt, was sie jungen Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben, raten könne:
"Warte nicht drauf, dass ein anderer freundlich zu dir ist. Sei selbst freundlich und schenke ihm als erste dein Lächeln! Wetten, dass ein Lächeln zurückkommt? Hab nicht an allem etwas auszusetzen, sieh die guten Dinge! Und denke nicht, dass der eine mehr wert ist als der andere, nur weil er eine höhere Ausbildung hat oder mehr verdient! Ich schenke dem Müllmann das gleiche Lächeln wie dem Professor um die Ecke! Glaub mir – durch diese Einstellung lebt man länger – und froher!"
Beatrice, die Archäologin aus London, hat ein unglaublich modernes Leben hinter sich, sie war emanzipiert, noch bevor es dieses Wort gab. Eine englische Zeitung hat ihr einst den Beinamen "weiblicher Indiana Jones" verpasst. Weil sie in ihrem Jeep durch Steppen und Wüstenlandschaften in Afghanistan, Pakistan oder den Emiraten bretterte, nachts im Zelt dem Heulen der Wölfe lauschte und tagsüber mit Steinen wilde Hunde vertrieb. Das tat sie zusammen mit einem ungebildeten kleinen Pakistaner, der war ihr Fahrer. Das war für eine Lady aus der upper class damals absolut not done – inappropriate. Aber Beatrice scherte sich um Ränge, Stände und Konventionen einen Teufel. Und machte so ihre schönsten Ausgrabungen.
Immer das Beste daraus machen
Mandy Schielke: Jetzt haben wir Freiheit, Freundschaft, Unvoreingenommenheit, was noch?
Kerstin Schweighöfer: Lebensmut. Trotz allem, was einem widerfährt – immer zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Das ist keine Floskel, das ist ein sehr sehr hoher Anspruch! Immer das Beste daraus zu machen versuchen – Tag für Tag, ein ganzes Leben lang.
Agnes, die Schreinerstochter aus St. Gallen, hat den Lebensmut auch nach dem Tod ihres Mannes nicht verloren. Dreimal habe ich sie inzwischen in Cannes besucht. Und jedesmal vor dem Mittagessen gab es, wie es sich gehört, einen angemessenen Aperitif – Champagner. Mit 103 Jahren!
Die Schwarzwaldbäuerin Mathilde sagte mir: "Das Leben bleibt ein Geschenk". Obwohl sie einen Mann heiraten musste, den sie nicht nur nicht liebte, sondern ablehnte – und den Sex über sich ergehen liess. Nach der Geburt ihres ersten Kindes lief ihr Mann enttäuscht aus dem Haus:
"Eine schwere Geburt war das, hier im Haus. Und dann sagt mein Mann: Ooooh, jetzt ist des auch noch ä Mädle!"
Am allerallerschlimmsten aber war der Selbstmord ihres jüngsten Kindes: Mit 15 erhängte er sich in der Scheune – warum, weiss sie bis heute nicht:
"Und wisset Sie, wenn? Am Heiligen Abend. Oh! Stell dir des mal vor! Des geht mir heut noch und des wiederholt sich doch jedes Jahr. Jedes andere Datum kannscht überbrücken, aber der Heilige Abend kommt doch jedes Jahr."
Den Lebensmut hat sie dennoch nicht verloren. "Das Leben bleibt ein Geschenk."
Mandy Schielke: Und wo bleiben Liebe und Leidenschaft?
Kerstin Schweighöfer: Das sind die letzten beiden Kernwerte. Wobei es nicht so sehr um die sexuelle Leidenschaft geht. Fast alle haben betont, dass sich Leidenschaft viel besser für Talente und Berufungen eigne. Es geht um jene kleine Flamme, die in uns allen brennt, und die wir bestensfalls zum Lodern bringen können – es kann die Familie sein, der Beruf. Für Mariska war es die Malerei, für Beatrice die Archäologie. Hauptsache, es gibt etwas, für das wir uns im Leben einsetzen können. "Wer nichts will im Leben, der wurde eigentlich schon tot geboren", hat Mariska gemeint. Das klingt ganz schön hart, aber es stimmt.
Sexuelle Leidenschaft werde "total überbewertet"
Mandy Schielke: Und was ist mit der sexuellen Leidenschaft?
Kerstin Schweighöfer: Die werde - und da sind sich Mariska, Beatrice und alle anderen rührend einig - heutzutage total überbewertet. "Ohne Sex geht ja gar nichts mehr!" Wer seine Sache gut mache, brauche doch nicht dauernd darüber zu reden, oder?
Angesichts der Scham-und Tabulosigkeit unserer total sexualisierten Gesellschaft können sich die Hundertjährigen nur darüber wundern, dass andererseits das Ideal der einzigen großen und wahren Liebe so hoch wie nie gehalten wird. Wir haben es hoffnungslos romantisiert und damit unerreichbar gemacht. Dass es auf der weiten Welt nur einen geben soll, der zu uns passt. Die fehlende Hälfte, die perfekte Projektionsfläche. Auf die erheben wir dann den Alleinanspruch. Weil wir erst dann komplett sind und, so will es das Hollywoodideal, richtig zu leben anfangen.
Natürlich sei Liebe wichtig und unglaublich kostbar, man müsse gut drauf aufpassen, wenn man sie gefunden habe. Aber mit Romantisieren komme man nicht viel weiter, vielmehr sei es harte Arbeit.
Und da gibt es eine weitere Einsicht, die ich gewonnen habe - nämlich, dass man sich vom Partner vieles wünschen kann, aber dass man es nicht erwarten sollte – das ist ein himmelweiter Unterschied: Wünsche und Erwartungen. Und wenn man sich den einmal klargemacht hat, dann nimmt das viel Druck weg und viele Enttäuschungen.
Das Buch "100 Jahre Leben – welche Werte wirklich zählen" ist als hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen und kostet 20 €. Das Buch ist jetzt auch als Taschenbuch bei Piper erschienen und kostet 11 Euro.