Das Milliardengeschäft mit der Intimität
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Die Tourismusbranche in Kolumbien liegt brach. Viele satteln in der Not auf Webcam-Modelling um und verkaufen im Livestream ein Stück Intimität. Manche verdienen dabei sogar mehr als früher - doch auf ihnen lastet ein enormer Leistungsdruck.
In einer Videoübertragung für Erwachsene sitzt eine junge Frau mit großen Goldohrringen im durchsichtigen Negligé vor einem bügelglatten Bett. Sie masturbiert mit einem Vibrator, 1.455 User schauen zu und lassen virtuelles Trinkgeld klingeln. Cybersex im Livestream. Webcam-Angebote in Echtzeit sind seit einiger Zeit innerhalb des pornografischen Angebots im Internet auf der Überholspur.
Die Engländerin Rachel Stuart forscht zu dem Thema an der Universität von Kent: "Der Unterschied zwischen Pornos und Webcams ist, dass Webcams interaktiv sind. Webcam-Models verkaufen nicht nur eine sexuelle Performanz, sondern auch Intimität."
Live-Erlebnis statt raubkopierter Ware
Nicht immer explizit sexualisiert, sondern auch vollbekleidet und äußerst gesprächig präsentieren sich auch just in diesem Moment wohl online 10- bis 15.000 Models, wie die Webcammer und Webcammerin auch genannt werden. Ein Milliardengeschäft, das der Branche gerade gelegen kam.
"Webcamming war auch aus dem Umstand entstanden, dass die etablierten Pornoproduzenten große Probleme hatten, ihr Material vor Raubkopien zu schützen. Dieselben Leute, die vorher viel Geld mit Pornografie verdient haben, sind auf Webcams umstiegen. Denn dort verkauft man ein Live-Erlebnis."
Mit der Pandemie und der mancherorts monatelangen Quarantäne wurden Intimität und Sex im realen Leben für viele Menschen schwierig. Der endgültige Durchbruch der Webcam-Industrie. Auch in Deutschland sind derzeit drei der 20 meistaufgerufenen Internetseiten Live-Streaming-Plattformen. Noch vor den etablierten Pornoportalen.
Aus der Tourismusbranche ins Streaminggeschäft
Und am anderen Ende der Leitung? Auch dort hat die Pandemie vieles verändert.
"Ich bin vor einem Jahr mit meiner Mutter aus Venezuela nach Kolumbien gekommen und habe in einem Hotel in der Verwaltung gearbeitet. Eine sehr schöne Erfahrung. Als mein Vertrag auslief, habe ich in dieser Welt der Webcams angefangen", erzählt die 21-jährige Yara in einem Straßencafé in der kolumbianischen Millionenmetropole Medellín.
Sie ist modisch geschminkt, hat ihre Haare blondiert und trägt eine große Brille. Mit der Notwendigkeit, ihr Fernstudium zu finanzieren, landete sie über Annoncen in sozialen Netzwerken ziemlich unerfahren vor der Kamera.
"Es gibt viele Dinge aus der Welt der Sexualität, von denen ich vorher niemals gedacht hätte, dass ich sie machen würde. Aber wenn man sich entscheidet, vor die Kamera zu gehen, muss man bereit sein, Neues auszuprobieren."
Über ein Drittel der jungen Frauen in Kolumbien war mit Beginn der Pandemie arbeitslos. Gerade in der Tourismusbranche standen, wie Yara, viele beruflich mit leeren Händen da.
"An erster Stelle stehen immer finanzielle Bedürfnisse"
Auch Gabriela kommt aus Venezuela und arbeitete früher in einem Hostel für Rucksackreisende. "Viele Frauen beginnen aus Verzweiflung. Aber danach entdecken sie, dass es ihnen gefällt. Sie fühlen sich frei. Es ist für sie ein Ort der Unabhängigkeit."
Die 30-jährige hat Sozialwissenschaften und Psychologie studiert, sich dabei auf sexuelle Aufklärung spezialisiert und bezeichnet sich als Feministin. Sie spricht über die erotische Selbstdarstellung.
"An erster Stelle – und da gibt es nichts zu diskutieren – stehen immer finanzielle Bedürfnisse. Nichts Anderes ist hier wichtiger. Danach merken aber auch viele, wie gefragt sie sind. Dass sie begehrt werden, dass sie angehimmelt werden. Und dass lässt dann das Selbstbewusstsein steigen. Gerade hier in Kolumbien und Venezuela mögen wir Frauen es, gesehen und begehrt zu werden. Wir werden nun mal so erzogen."
Gabriela hat auch schon gestreamt, aber sie arbeitet jetzt als Beraterin und Chat-Moderatorin. Sie beaufsichtigt Übertragungen virtuell, verhandelt mit Kunden Privatshows oder gibt Haltungstipps.
"Ich helfe den Models. Sie tun so, als ob sie schreiben würden und ich chatte für sie. Einerseits, weil ich Englisch kann und andererseits, damit sie sich auf ihre Darstellung vor der Kamera konzentrieren. Es ist schwierig, gleichzeitig zu lesen, zu übersetzen und eine Show zu machen. Deshalb hilft eine Aufseherin."
Leerstehende Hostels satteln um
Ihr Arbeitsplatz ist ein "Webcam Studio". In Kolumbien arbeiten die wenigsten Models von zuhause, sondern in dekorierten Räumlichkeiten eines Dienstleisters. Auch leerstehende Hostels stiegen mit der Pandemie in das Geschäft ein und investierten pro Kameraplatz etwa 2.000 bis 3.000 Euro in technische Ausrüstung.
So auch der Studiobetreiber Shaggo: bunt tätowiert, zerrissene Jeans, lackierte Fingernägel. "Es gibt sehr, sehr viele Studios in Medellín. Aber sie sind quasi versteckt, denn keins hat ein Schild an der Tür. Die meisten sind in der Handelskammer als irgendetwas anderes eingetragen. Als Hostel oder Callcenter. Denn diese wirtschaftliche Aktivität existiert noch nicht."
Im Oktober gab es einen ersten Vorschlag im Senat, das Webcam-Streaming zu regulieren und zu besteuern ‒ bisher ohne Fortschritte. Schätzungsweise mehrere hundert Studios mit bis zu 20 Zimmern sind in Kolumbien in Betrieb, viele in Drei-Schichten-Belegung rund um die Uhr. In Medellín gibt es gar eine Messe für die Porno-Streaming-Industrie, Fortbildungen zur Intimhygiene oder dem neuesten Sexspielzeug.
Ein Viertel des Umsatzes landet bei den Models
Die Plattform "Chaturbate", einer der drei Giganten auf dem Markt, wird weltweit am häufigsten aus Kolumbien gegoogelt. Das unauffällige Unternehmen aus Kalifornien behält die Hälfte der von den Millionen Nutzern gezahlten Trinkgelder ein. Die andere Hälfte teilen sich Studio und Model:
"Das Geld landet auf einem Konto des Studios. Dann schaut man, wie viele der virtuellen Münzen das Model verdient hat, rechnet den Gewinn in kolumbianische Pesos um und zahlt davon 60 Prozent dem Webcam-Model aus."
Den Darstellern und Darstellerinnen ‒ in Kolumbien zu 90 Prozent Frauen ‒ bleibt also etwa ein Viertel des von ihnen generierten Umsatzes.
Der Leistungsdruck ist enorm
Das Erotikmodel Yara verdient so 600 bis 900 Euro im Monat. Doppelt so viel wie früher im Hotel. Dafür muss sie mindestens 36 Stunden in der Woche übertragen. Manchmal ist sie zwölf Stunden am Stück vor der Kamera. Die Plattformen positionieren nur langatmige Streamer auf den vorderen Seiten.
"Es ist auf gar keinen Fall leicht! Man kann nicht sagen, dass man nur dieses oder jenes machen muss und dann Geld bekommt. 'Einfach' ist das nicht."