Chinas digitaler Vorsprung
Ob chatten oder einkaufen, ob bezahlen oder Sprachen lernen: Keine App beeinflusst den Alltag in China mehr als das soziale Netzwerk WeChat. Landesweit nutzen immer mehr Menschen den Dienst. Das lässt den Konkurrenten Weibo alt aussehen.
Eins haben die Schülerinnen und Schüler hier alle gemeinsam: Als sie geboren wurden, hatte Revolutionsführer Mao Zedong noch nicht mal die Volksrepublik China ausgerufen. Sie sind jenseits der 70 Jahre alt, haben einen Becher Tee vor sich und drücken gemeinsam die Seminarbank, um sich für den digitalen Alltag in China fit zu machen.
Dozentin Ren Haifang begrüßt die knapp 20 älteren Damen und Herren in einem Gemeindezentrum im Pekinger Stadtteil Tuanjiehu. Heute geht es um WeChat: in China das wichtigste soziale Netzwerk im Internet. WeChat hat im Jahr 2011 als reiner Messengerdienst begonnen. Mittlerweile nutzen etwa 600 Millionen Menschen die App – das sind rund 90 Prozent aller Smartphone-Nutzer in China.
Ren Haifang: "Gerade ältere Leute machen einen Großteil derer aus, die in unsere WeChat-Kurse kommen. 70- und 80-jährige lernen hier, wie man die App nutzt. WeChat wird immer mehr zum Kommunikationsmittel für jedermann in China. Wir bringen hier zunächst die Chat-Funktionen bei, damit die Leute sich mit ihren Kontakten austauschen können. Wir lehren erst mal nichts Kompliziertes – nur wie man Kurznachrichten einspricht oder Botschaften versendet und postet. Es soll das Leben der älteren Menschen bereichern."
Chatten gegen die Demenz
Liu Guifeng ist 71 Jahre alt und Rentnerin, sie hat jahrzehntelang in einer Fabrik in Peking gearbeitet. Jetzt hat sie ein großes Smartphone einer chinesischen Marke vor sich liegen, ihr erstes überhaupt. Und sie sieht sich die Unterlagen an, auf denen Dozentin Ren verschiedene Screenshots der App WeChat mit Hand auf Papier gemalt hat. Eine spezielle Bedienungsanleitung für Senioren:
"Für mich ist es gut, diese Dinge zu lernen. Allein, um nicht senil oder dement zu werden. Meine Kinder haben keine Geduld, mir das beizubringen. Hier kann ich mehr lernen, die Lehrerinnen und Lehrer sind geduldig. Meine Kinder haben mir ein Smartphone gekauft. Als ich ihnen die erste WeChat-Kurznachricht gesendet habe, waren sie richtig glücklich. Sie haben gesagt: Toll! Unsere Mutter kann Kurznachrichten mit WeChat verschicken. Aber das reicht mir nicht. Ich will noch mehr lernen."
Einen Computer hat Liu Guifeng nie besessen. Wie viele in China hat sie diesen Schritt übersprungen – und ist gleich mit dem Smartphone in die digitale Welt eingestiegen. Der Anteil der über 60-jährigen Smartphone-Nutzer hat sich in China von 2014 auf 2015 verdoppelt. Man nennt sie die Silber-Surfer.
WeChat ist durch die Funktion der "WeChat Brieftasche" bei den meisten Nutzern mit dem eigenen Bankkonto verbunden. Man kann Geld auf andere WeChat-Konten überweisen, sein Handyguthaben aufladen – oder auch einfach nur mit dem Smart-phone an einer ganz normalen Supermarkt-Kasse bezahlen.
Eine Verkäuferin auf dem Gemüsemarkt im Pekinger Stadtteil Hepingli. Sie steht in einer leuchtend gelben Schürze hinter einem Verkaufsstand, an dem es verschiede-ne Sorten von Porridge gibt. Körner, Nüsse und Trockenfrüchte werden zu einem Pulver gemahlen, das man dann nur noch mit kochendem Wasser aufgießen muss – ein beliebtes Frühstück in China.
Gemahlenes Porridge-Pulver – ein ganz normales, traditionelles Alltagsprodukt für die Chinesen. Aber der Verkauf, die Werbung, die Kundenbindung – alles funktioniert heute über WeChat, erklärt die Verkäuferin Zhao Na:
"Man kann mit WeChat bezahlen – und auf unserer Internetseite bestellen. Man kann unsere Produkte auch direkt in unserem WeChat Shop kaufen. Wer uns mit WeChat folgt und seine Mobilnummer verlinkt, kann die Schüttelfunktion von WeChat nutzen und an einem Gewinnspiel teilnehmen. Jeden Tag hat man dreimal die Chance, sein Handy zu schütteln und etwas zu gewinnen."
Kontaktaufnahme mit der Schüttelfunktion
Die Schüttelfunktion – auch eine Erfindung von WeChat. Man schüttelt sein Smartphone und kann sich Nutzer anzeigen lassen, die gerade in der eigenen Umgebung das Gleiche tun. Ein Mittel der Kontaktaufnahme – zum Beispiel abends in einer Bar, wenn man gelangweilt am Tresen steht. Aber die Schüttelfunktion wird auch für Gewinnspiele genutzt, die Unternehmen anbieten. Das Ziel ist immer das gleiche: Der Kunde soll der Profilseite des Unternehmens möglichst folgen. Dieser veranstaltet dann über die App Gewinnspiele, schickt Angebote oder Rabattmarken, die der Kunde gleich beim nächsten Einkauf über einen QR-Code einlösen kann – zum Beispiel für sein Lieblings-Porridge-Pulver. WeChat integriert ein ganzes System für mobilen Online-Handel und bietet damit Unternehmen attraktive Geschäftsmodelle.
Auch deshalb steht WeChat für eine neue Ära des mobilen Internets, sagt Experte Qiao Xiuquan, Professor für digitale Kommunikation an der Peking Universität:
"Durch die ganzen Funktionen und Mechanismen wächst die Zahl der WeChat Nutzer immer weiter. Zunächst einmal macht es die App möglich, in Echtzeit und via Video mit jemandem zu kommunizieren. Aber es dient außerdem als Plattform für alles Mögliche, was die Leute im Internet machen. Die Menschen nutzen die App bevor sie schlafen gehen und nachdem sie aufwachen. WeChat verbindet alles – und das ist genau das Ziel. Und weil es jeder nutzt, werden immer mehr Dienstleistungen aus dem Alltag integriert."
Der chinesische Internetkonzern Tencent hat WeChat 2011 auf den Markt gebracht. Ursprünglich war WeChat ähnlich wie What's App: Zentral war die Chat-Funktion mit Einzelpersonen oder Gruppen. Dazu die Zeitleiste, auf der man sogenannte Momente posten kann. Bilder, Videos, Links oder Text. Vergleichbar mit Facebook.
Die Echtzeit Chat-Funktion nutzt auch das kleine Pekinger Start-Up Bread English. Das Unternehmen liegt in einem weißen, neu gebauten Hochhaus im Pekinger Stadtteil Sanlitun in der 27. Etage – und bietet Englisch-Kurse via WeChat an.
Englischkurse im Echtzeit-Chat
Englisch-Lehrerin Emma Gong sitzt in einem kleinen Seminarraum auf einem Stuhl mit Ausklapptisch. Sie guckt und spricht in ihr Smartphone. Durch die bodentiefen Fenster hat sie einen weiten Blick über Peking und sieht hinunter auf den dichten Feierabendverkehr auf den Straßen. Via WeChat versucht sie, einem Studenten in der nordchinesischen Provinz Heilongjiang Englisch beizubringen.
Der junge Mann belegt einen von rund 2000 Englisch-Kursen, die das Unternehmen Bread English in gut einem Jahr verkauft hat. Gründer Liu Xue hat vorher für Microsoft gearbeitet – und sich dann mit der Idee selbständig gemacht, Sprachkurse über WeChat anzubieten:
"Wir haben uns ernsthaft überlegt, ob wir WeChat nutzen oder eine eigene App entwickeln sollen. Aber wir dachten uns: In Kern geht es ja nicht darum, ob wir nun eine eigene App haben – sondern ob wir es schaffen, Schüler und Lehrer zusammen zu bringen. Und dafür eignet sich WeChat hervorragend. Wir wurden auch vom WeChat-Unternehmen Tencent dazu ermutigt, die Plattform zu nutzen. Also haben wir keine eigene App entwickelt. Unser Werkzeug ist WeChat, damit können wir Bilder, Worte, Audios und Videos senden."
In kurzer Zeit vom Nachmacher zu Vorreiter
Bread Englisch ist eines von vielen Unternehmen in China, die komplett auf WeChat setzen. Die offene Schnittstelle der App bietet die Möglichkeit, sich leicht mit ihr zu verbinden. WeChat hat sich innerhalb weniger Jahre vom Nachmacher zum Vorreiter entwickelt. Funktionen von WhatsApp, Facebook, Twitter, Amazon und anderen werden kombiniert. Es geht nicht mehr nur darum, das eigene Sozialleben zu organisieren. WeChat ist in Chinas Alltag allgegenwärtig, sagt Start-Up-Unternehmer Liu Xue:
"Soweit ich weiß, gibt es neben China kein zweites Land, indem so stark soziale Netzwerke im Internet genutzt werden. Das liegt auch daran, dass WeChat nicht nur dazu da ist, sozial zu interagieren oder zu kommunizieren. Sondern man kann mit der App seine Kinokarten kaufen, andere Dinge einkaufen, seine Rechnungen zahlen – oder auch Straftickets, die man im Verkehr bekommen hat."
Ein Café im Pekinger Viertel Beixingqiao. Das Licht ist schummrig, die Wände schwarz, überall im Raum sitzen junge Menschen auf durchgesessenen Sofas vor ihren Laptops oder Smartphones. Auch Alec Ash arbeitet mehrmals die Woche in diesem Café. Er lebt seit acht Jahren in Chinas Hauptstadt Peking – als Schriftsteller und Blogger. Und er beobachtet, wie sich das digitale Karussell in China immer schneller dreht:
"Das passiert überall auf der Welt: Neue Technologien haben eine gewisse Lebensspanne und werden dann von der nächsten Technologie abgelöst. Und das ist auch in China so. Nur dass es viel schneller passiert, in einem viel kürzeren Zeitraum. Mitte der 2000er Jahre kamen die Blogs auf. 2010/2011 war Weibo dann das neue soziale Netzwerk und jetzt – nachdem Weibo immer heftiger zensiert und kontrolliert wurde – ist WeChat die Plattform, auf der junge Chinesen kommunizieren – und auch ihre Nachrichten bekommen."
Ash ist selbst Teil der Blogger-Szene. Er sagt: Auch die strenge Überwachung und Zensur führen in China dazu, dass immer wieder neue Trends geschaffen werden. Die Kommunikation über digitale Plattformen wie WeChat hat Diskussionsräume und Freiräume geschaffen, die es vor einigen Jahren so noch nicht gab. Weibo war das erste soziale Netzwerk in China, das es in großem Stil geschafft hat, die Internetnutzer an sich zu binden. Aber die strenge Kontrolle der chinesischen Zensurbehörden hat dazu geführt, dass sich immer mehr Leute von Weibo abwenden.
Alec Ash: "In den vergangenen zwei Jahren nutzen immer weniger Leute das soziale Netzwerk Weibo sondern stattdessen WeChat. Die App verbindet eine ganze Generation von jungen Menschen, die damit versuchen herauszubekommen, was in China passiert. WeChat ist ein Beispiel für die Transformation der Technologie in China."
Im Visier chinesischer Zensoren
Aber Chinas Zensoren haben mittlerweile auch WeChat fest im Blick. Im Rahmen der Regierungskampagne gegen Pornografie und Gerüchte im Internet haben chinesische Behörden innerhalb von wenigen Tagen 20 Millionen Nutzerkonten auf WeChat gelöscht. Trotzdem: Weil der Konkurrent Sina Weibo noch viel drastischer zensiert wird, sind viele – gerade kritische Blogger – zu WeChat gewechselt. WeChat ist beides: Ein Raum für kritische Diskussion, der von der chinesischen Zensur attackiert wird – und gleichzeitig die größte digitale Mainstream-Plattform, die es in China gibt. Es betrifft daher jeden, sagt Internet-Experte Qiao Xiuyuan von der Peking-Universität:
"Nachdem WeChat auf der Bildfläche erschienen ist, hat es alle Gruppen im Markt irgendwie integriert: Jugendliche, Geschäftsleute, mittlere und ältere Jahrgänge. Wichtig war, dass die Kontakte simpel und einfach funktionieren. Die App nutzt einfach das Telefonbuch auf dem Smartphone. Man braucht keine Nutzernamen zu suchen, sondern mobile Kontakte werden zu WeChat-Kontakten – und die Kommunikation kann losgehen. Auch darum hat sich WeChat so rasant entwickelt."
Als Service-Plattform allgegenwärtig
WeChat ist eine Service-Plattform, die einem im chinesischen Alltag überall begegnet. Selbst in Chinas Restaurants hat WeChat das soziale Verhalten der Menschen verändert. Früher gab es regelmäßig Streit darum, wer die Rechnung zahlt. Jeder hat den Kassenzettel mit Nachdruck für sich proklamiert. Heute bilden die Menschen, die zusammen essen gehen, innerhalb von Sekunden eine WeChat-Gruppe. Einer zahlt, der Betrag wird eingetippt – und die anderen überweisen automatisch ihren Anteil mit der Funktion der WeChat Brieftasche.
In einer Fernsehwerbung für WeChat organisiert und bezahlt ein junger Mann alles in seinem Leben mit der App. Du kannst alles mit WeChat erledigen, so die zentrale Botschaft.
Und alle machen mit. Da es viele günstige, chinesische Smartphone-Anbieter auf dem Markt gibt, haben auch die meisten Wanderarbeiter ein Smartphone – und nutzen die App WeChat. Internetstudien warnen bereits: Gerade junge Menschen in China verbringen einen Großteil ihres Tages mit dem Smartphone in der WeChat-Welt. Und WeChat ist kein rein chinesisches Phänomen mehr. Die Zahl der ausländischen Nutzer ist zwar noch übersichtlich, aber für den Markt in Südamerika hat man keinen geringeren als Weltfußballer Lionel Messi als Werbeträger verpflichtet.
In der Werbung unterhält sich Lionel Messi in seiner Küche mit seiner Mutter – sie ist über die WeChat Video-Funktion auf seinem Smartphone zugeschaltet. Die WeChat App gibt auch bereits auf Deutsch. Der chinesische Internet-Konzern Tencent drängt mit seinem Produkt auf den internationalen Markt. Nicht nur in Chinas digitalem All-tag soll WeChat Allheilmittel sein. Der zentrale Werbeslogan ist simpel und soll möglichst überall gelten, er heißt kurz und knapp: WeChat, lifestyle.