Wednesday Martin: "Untrue. Warum fast alles, was wir über weibliche Untreue zu wissen glauben, unwahr ist"
Übersetzt von Nina Frey
Berlin Verlag, 2019
432 Seiten, 22,00 Euro
Eine Pflichtlektüre – auch für Männer
06:12 Minuten
Die Anthropologin Wednesday Martin räumt in "Untrue" mit moralinsauren Klischees über die Sexualität von Frauen auf, besonders über weibliche Untreue. Das Buch ist frech, vielseitig und aufregend.
Eins fällt auf: Wenn ein älterer Mann eine jüngere Geliebte hat, dann sagen viele, das hat er toll hinbekommen. Wenn sich dagegen eine ältere Frau einen jüngeren Mann zulegt, dann ist das vielen suspekt: Warum betrügt sie ihren alten Ehemann, wie soll das denn gutgehen, und hat der junge Typ denn einen Mutterkomplex? Mit diesen und anderen Vorurteilen über die Sexualität von Frauen setzt sich die New Yorker Anthropologin Wednesday Martin in ihrem Buch "Untrue – Warum fast alles, was wir über weibliche Untreue zu wissen glauben, unwahr ist" auseinander.
Plädoyer wider die Doppelmoral
In "Untrue" räume Wednesday Martin mit sämtlichen moralinsauren Klischees in Sachen weiblicher Untreue auf, so Kindermann. Und das mache sie so frech, so umfassend und so vielseitig, dass es eine wahre Freude sei. Das Buch sei Aufruf, Streitschrift und wissenschaftliche Anthropologie in einem, sagt Kindermann: "Ein großartiges Buch." Und Pflichtlektüre, gerade auch für Männer. Die Autorin stelle sich klar gegen jede Doppelmoral, die es im Zusammenhang mit weiblicher Untreue gibt. Sie zeige, dass sich das Gebot der Monogamie für Frauen in Partnerschaft ganz anders darstelle als für Männer – gerade auch, wenn sie Mütter sind. "Letzteren wird Triebhaftigkeit geradezu als Statussymbol zuerkannt, während Frauen, die Lust auf mehr als einen Sexualpartner haben, als Schlampe oder schlimmeres tituliert werden", fasst Kindermann zusammen.
Die Suche nach den Ursprüngen dieser Doppelmoral führt Wednesday Martin weit in die Forschungen und Studien über die Geschichte der weiblichen Sexualität und Selektion. Wie halten es Naturvölker? Was hat es mit dem Orgasmus und der Klitoris auf sich? Welche Bilder und Selbstbilder beherrschen uns bis heute? Und was haben die Sesshaftwerdung und der Ackerbau mit der Anschauung von weiblicher Sexualität zu tun?
Mit dem Ackerbau kam das Patriarchat
An diesem letzten Beispiel beschreibt Kindermann, wie Wednesday Martin argumentiert. Mit dem Ackerbau und mit dem Pflug, so schreibe die Anthropologin, kam das Patriarchat. Das schwere Gerät war Männerarbeit und löste eine Hierarchie der Geschlechter aus: Die Frauen wurden ins Haus verbannt, aus der Öffentlichkeit genommen, der Mann hatte plötzlich die alleinige Deutungshoheit. Besitz zog Sittsamkeit nach sich. Im Grunde, so zeige die Autorin, wurden Lasttiere und Frauen Schicksalsgenossen – beide wurden zum Schmuck- und Luxusstück des Mannes, die zur Schau gestellt wurden. Und als erst einmal Besitz da war, sei es auch wichtig geworden, den Stammbaum und die Erbfolge zu sichern. Also mussten Frauen sittsam sein.
Diese Ursprünge mit der Gegenwart zu verbinden, sei eine Stärke des Buchs. Denn, so meint Kindermann: "Das ist immer noch tief ins uns allen verankert: Wir alle wollen Bauerntöchter sein." So erkläre Wednesday Martin auch den heutigen Trend zur "nachgerüsteten Jungfräulichkeit", die von immer mehr Arztpraxen angeboten werde, bei der es einzig um erhöhte Straffheit der Vagina gehe – besonders nach Geburten. "Angeblich dient das dem gesteigerten Lustempfinden. Aber man kann sich fragen: Wem eigentlich? Nämlich dem des Mannes."
Netzwerken auf Sexpartys
Wednesday Martin beschreibt aber auch, wie es heute anders gehen kann, so Kindermann. "Das ist großartig, wenn sie etwa auch über Sexpartys schreibt, die Frauen organisieren, und zu denen nur Frauen eingeladen sind." Dies seien hocherotische, freizügige Events, bei denen es aber nicht ausschließlich darum gehen, sich sexuell auszuprobieren, sondern es stehe oft die schnöde Kontaktpflege für den Job im Vordergrund. Da stünden Frauen den Männern in nichts nach.
Eine zentrale Erkenntnis formuliert Kindermann deshalb so: "Erst wenn Frauen echte sexuelle Autonomie genießen, ist das ultimative Maß der Geschlechtergerechtigkeit erreicht. Erst wenn für beide Geschlechter dasselbe gilt, Frauen nicht mehr beschimpft und herabgewürdigt werden, wenn sie Lust auf mehrere Sexualpartner im Leben haben, dann ist Geschlechtergerechtigkeit erreicht."
Eine zentrale Erkenntnis formuliert Kindermann deshalb so: "Erst wenn Frauen echte sexuelle Autonomie genießen, ist das ultimative Maß der Geschlechtergerechtigkeit erreicht. Erst wenn für beide Geschlechter dasselbe gilt, Frauen nicht mehr beschimpft und herabgewürdigt werden, wenn sie Lust auf mehrere Sexualpartner im Leben haben, dann ist Geschlechtergerechtigkeit erreicht."