Obdachlosigkeit

„Die Gefahr, dass jemand halb tot geschlagen wird, ist sehr hoch“

10:57 Minuten
Ein Obdachloser liegt in einen Schlafsack gehüllt morgens im Bahnhof Tempelhof mit einem Becher für Spenden vor sich und schläft auf dem Boden.
Die Zahl der Obdachlosen ist in Berlin hoch. In keiner anderen deutschen Stadt leben so viele Menschen auf der Straße. © picture alliance / Matthias Tödt
Sven Müller im Gespräch mit Katja Bigalke · 03.09.2022
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Obdachlosigkeit bekämpfe man am besten, indem man den Betroffenen Wohnraum zur Verfügung stellt, meint Sven. Mit anderen Obdachlosen hat er in Berlin ein Haus besetzt. Nun fürchten sie die Räumung.
Sven lebt in Berlin und ist 53 Jahre alt. Früher hatte er eine Kurierdienst-Firma, war verheiratet und hatte Kinder. Dann kam 1999 die Scheidung. Später ein Gefängnisaufenthalt.
„Das war es halt. Dann ging es nur noch steil bergab. Die Firma ist kaputtgegangen“, erinnert sich Sven, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. „Und dann habe ich viele Schulden aufgebaut, und mit Schulden bekommst du keine Wohnung mehr heutzutage.“ Ein Strudel negativer Ereignisse, bis er auf der Straße landete. Beständigkeit gab es in seitdem in seinem Leben kaum.
Seit neun Monaten hat er nun endlich wieder eine Bleibe: In einem Hausprojekt in der Habersaathstraße in Berlin. Das ehemalige Schwesternwohnheim der Charité wurde von ihm und anderen Obdachlosen besetzt. „Kochen kann ich. Ich kann mich waschen. Das Wichtigste: Hygiene“, sagt Sven.

Das Leben auf der Straße ist härter geworden

Doch wie lang er noch in seiner Einzimmerwohnung bleiben kann, ist ungewiss. „Da streitet sich der Bezirk mit dem Eigentümer, und wir können jederzeit gehen müssen. Die Situation ist sehr, sehr anstrengend für uns.“
Zimmer, in dem eine Matratze, Stuhl und Tisch stehen.
Zimmer in dem ehemals leerstehenden Haus in der Habersaathstraße: Nun ist es von Obdachlosen und Aktivisten besetzt.© picture alliance / dpa / Christoph Soeder
Auch das Leben auf der Straße ist härter geworden. „Früher konntest du dich wenigstens noch mit den Leuten vernünftig unterhalten, heutzutage werden sie angegriffen“, sagt Sven. „Die Gefahr, dass jemand halbtot geschlagen wird, ist sehr hoch. In den 80er-Jahren konntest du irgendwo auf einer Parkbank pennen, da ist nichts passiert, heutzutage kannst du das nicht mehr. Die Gefahr, dass uns die Gesellschaft immer weiter verdrängt, uns nicht sieht und uns immer mehr angreift, ist sehr, sehr hoch.“

Wohnungen für Obdachlose

Deswegen sieht Sven ganz klar den Berliner Senat in der Pflicht: „Man müsste mehr machen für die Obdachlosen.“ Vor ihrer Wahl zur Bürgermeisterin versprach Franziska Giffey (SPD), die Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden. Davon sei aber bisher nichts zu merken, meint Sven. „Wo? Wir sehen nichts. Wo sind die Versprechungen. Was tut sie für die Obdachlosen? Nichts.“

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Obdachlosigkeit bekämpfe man am besten, indem man den Betroffenen Wohnraum zur Verfügung stellt, da ist sich Sven sicher. „Wenn man eine Wohnung hat, sind viele, die drogensüchtig oder alkoholabhängig waren, runter davon, haben eine Therapie gemacht. Die engagieren sich mehr, gehen arbeiten. Das sind die Ansätze, die eine Wohnung bringt.“
Selbst in Berlin gebe es genug leerstehende Häuser, um Obdachlose unterzubringen, ist Sven überzeugt. Wenn die Politik wolle. Doch: „Die haben den Arsch nicht in der Hose, um gegen die Immobilienhaie vorzugehen und die Renditen zu beschneiden.“ Leerstehende Häuser „direkt beschlagnahmen“, fordert Sven deswegen. „Bis sie gelernt haben, dass Wohnungen zum Vermieten sind und nicht zum Leerstehenlassen. Anders geht es heutzutage nicht mehr.“
(lkn)
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