Teure Bagatelldelikte
Der 38-jährige Daniel möchte nicht beim Nachnamen genannt werden, denn seine beiden Kinder sollen nicht erfahren, dass er im Gefängnis sitzt. „Ich sitze wegen tausend Euro Strafe, ich bin schon das achte Mal im Gefängnis wegen Schwarzfahren." © Paul Welch Guerra
Wenn Armut ins Gefängnis führt
29:20 Minuten
Rund zehn Prozent aller Häftlinge in Deutschland sitzen ein, weil sie eine verhängte Geldstrafe nicht bezahlt haben. Die Kosten der Inhaftierung sind oft höher als der verursachte Schaden. Ein System, das sogar die Gefängnisverwaltungen kritisieren.
Das Fahren ohne Fahrschein und der Diebstahl von Lebens- und Genussmitteln, das sind die Hauptgründe, weshalb jedes Jahr in Deutschland rund 52.000 Menschen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen. Eigentlich werden für solche Delikte Geldstrafen fällig, aber nicht alle können die bezahlen.
Alex erinnert sich: „Du kriegst ja immer nur Post: 40 Euro, dann Extrazinsen, Extrazinsen, Mahnung, Mahnung, Mahnung. Und dann habe ich halt einen Brief bekommen, was war das? Zweieinhalb tausend Euro, die soll ich jetzt in 25-Euro-Monatsraten zahlen.“
Modell "Arbeit statt Haftstrafe" scheitert
Rund sieben Jahre würde das dauern, aber ob Alex das durchhält, ist fraglich. Er ist nicht nur arm, er hat zahlreiche Probleme. Vor fünf Jahren war er bereits wegen einer Geldstrafe, die er nicht bezahlen konnte, im Gefängnis. Es kam einiges zusammen: kleinere Drogendelikte, Hehlerei, Fahren ohne Ticket. Das schlimmste Problem aber war Alex‘ Alkohol- und Kokainsucht. Er hätte die Geldstrafe mit gemeinnütziger Arbeit abarbeiten können. Aber das ist gescheitert.
„Ich wollte die Geldstrafe abarbeiten, hab auch langsam gemacht, aber dadurch, dass ich viele Probleme hatte und auch auf Therapie gegangen bin, gab es eine Pause, sagen wir mal so. Das hat aber der Staat nicht verstanden und irgendwann nach einem Jahr habe ich einen Brief bekommen, dass ich mich innerhalb von sieben bis vierzehn Tagen selber stellen soll oder die Höhe von 1300 Euro sofort zahlen soll. Natürlich hatte ich das Geld nicht, weil ich ja nur 400 Euro Arbeitslosengeld damals bekommen habe. Ja, da musste ich meine Sachen packen und mich dann selber stellen.“
Drei Monate saß Alex dann in einer Zelle in der JVA Berlin Plötzensee auf Kosten des Staates. War ein bisschen wie Urlaub, findet er im Nachhinein. Zurück will er trotzdem nicht. Die Ratenzahlungen sind ihm lieber.
Die allermeisten sind arbeitslos
Rund 10 Prozent der Insassen in deutschen Gefängnissen verbüßen wie Alex eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe: Sie sitzen nach § 43 StGB ein, weil sie eine Geldstrafe weder bezahlen noch abarbeiten können. Die Höhe der Geldstrafe richtet sich nach einem Tagessatz, der sich wiederum am Einkommen der Täter orientiert. Aber die allermeisten sind arbeitslos oder haben nur ein minimales Einkommen.
In der Politik und bei Gefängnisverwaltungen sind Ersatzfreiheitsstrafen schon länger umstritten. Die Haftkosten für den Staat sind meist viel höher als die eigentliche Geldstrafe. Die Resozialisierungsmöglichkeiten der Gefangenen sind sehr beschränkt.
Uwe Meyer-Odewald ist seit 30 Jahren im Justizvollzug tätig, seit sechs Jahren leitet er die JVA Plötzensee. Das Thema Ersatzfreiheitsstrafen ist ihm ein Anliegen. 250 der 670 Haftplätze in der JVA Plötzensee sind für Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafe vorgesehen.
„Wir sprechen von Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Offensichtlich, da muss man kein Psychologe sein. Diese Menschen gehören hier eigentlich nicht her.“
Mit Kanonen auf Spatzen schießen
Für den Gefängnisleiter ein absurdes System. Das Fahren ohne Ticket zu entkriminalisieren, sei ein erster Schritt. Die Ersatzfreiheitstrafe vollständig abzuschaffen, wie es ein Protest-Bündnis gegen Ersatzfreiheitstrafe fordert, ginge für Meyer-Odewald jedoch zu weit.
„Ein Vorteil der Ersatzfreiheitsstrafe ist natürlich, sie sichert die Wirksamkeit der Geldstrafe. Wenn es das System nicht gäbe, würde wahrscheinlich niemand mehr seine Geldstrafe bezahlen. Aber gerade bei diesen absoluten Bagatellstraftaten ist es wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.“
Der Kritik, Ersatzfreiheitsstrafen würden letztlich Armut bestrafen, widerspricht er nicht. „Zum Teil ist das durchaus sicher richtig. Wir haben ja hier eine Klientel, die durch alle Raster gefallen ist. Es sind Menschen, und dagegen richtet sich auch meine Kritik seit vielen Jahren, die letztlich zahlungsunfähig sind.
Viele Probleme führen in die Armut
Einer von ihnen ist der 38-jährige Daniel. Er möchte nicht beim Nachnamen genannt werden, denn seine beiden Kinder sollen nicht erfahren, dass er im Gefängnis sitzt. „Ich sitze wegen tausend Euro Strafe, ich bin schon das achte Mal im Gefängnis wegen Schwarzfahren. Und ich konnte mir eben meine Fahrkarte nicht leisten, Sozialticket, 27,50, weil ich Alkoholiker bin, genau.“
Zahlungsunfähigkeit kann viele Gründe haben. Suchtkrankheiten gehören auf alle Fälle häufig dazu.
Tatsächlich haben einige Landesjustizministerien inzwischen erkannt, dass Haftstrafen für Bagatelldelikte eine schwere Belastung für Gefangene, Gefängnisse und die Staatskasse bedeuten. Doch eine Abschaffung wäre nur bundesweit machbar.
Mehrere Versuche im Bundestag und Bundesrat, das Gesetz zu reformieren, blieben in den letzten Jahrzehnten erfolglos. Eine Bund-Länder-Gruppe wurde schließlich beauftragt, die Ersatzfreiheitsstrafe und ihre Reformierung eingehend zu prüfen. Sie kam 2019 zu folgendem Schluss: „Die Arbeitsgruppe spricht sich im Ergebnis für eine Beibehaltung der Ersatzfreiheitsstrafe als Druckmittel und als letztmögliches Mittel zur Vollstreckung von Geldstrafen aus.“
Widerstand aus der Zivilgesellschaft
Alle Bundesländer hatten im März 2020 angesichts der sich rasch ausbreitenden Corona-Pandemie die Ersatzfreiheitsstrafe ausgesetzt. Im Mai 2022 war damit Schluss. Nun werden wieder täglich neue Häftlinge aufgenommen. Dagegen formiert sich in der Zivilgesellschaft Widerstand.
Im Dezember 2021 wurde in Berlin der sogenannte Freiheitsfond gegründet. Dieser hat seither 550 Gefangene frei gekauft, die wegen Fahrens ohne Fahrschein in Haft saßen. Ein Coup, der viel mediale Aufmerksamkeit erregt und die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe öffentlich macht.
Im Dezember 2021 wurde in Berlin der sogenannte Freiheitsfond gegründet. Dieser hat seither 550 Gefangene frei gekauft, die wegen Fahrens ohne Fahrschein in Haft saßen. Ein Coup, der viel mediale Aufmerksamkeit erregt und die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe öffentlich macht.
Für eine Entkriminalisierung von Bagatelldelikten plädiert auch Nadine aus Nürnberg. Sie saß selbst einmal im Gefängnis – ebenfalls wegen Fahrens ohne Fahrschein. Heute ist sie 36 Jahre alt und hat ihr Leben im Griff. Obwohl seit ihrer Haftzeit schon 14 Jahre vergangen sind, hat diese nachhaltige Spuren hinterlassen, sagt sie heute.
„Ich fand‘s einfach krass, dass man ja mit Verbrechern jeglicher Art zusammenlebt. Ich war dann auf einer Fünf-Mann-Zelle mit Schwerstdrogenabhängigen, Schwerstkriminellen, Menschen, die Menschen umgebracht haben. Und da habe ich mir nur gedacht, wenn das eine andere Person als mich treffen würde, die würde da mit einem richtigen Schaden rausgehen.“
Nadine ist keine Aktivistin, aber sie will, dass sich etwas verändert. Und sie hat ein starkes soziales Umfeld, das sie ermutigt über ihre Erfahrungen zu sprechen.
„Es ist doch wirklich ein Problem, dass Gefängnisse voll sind wegen Ersatzfreiheitsstrafen. Ich weiß jetzt auch nicht, wie man das System verändern kann, aber so ist es einfach krass. Man muss erzählen, dass es immer auch einen Weg rausgibt. Vielleicht nicht für jeden, aber für viele.“