Weibliche Gelehrte im Islam

Unbekannte Hüterinnen der Tradition

08:34 Minuten
Eine Frau betet im Schrein von Syed Abdul Qadir Geelani während des ersten Tages des Ramadan.
Muslimin in einem Sufi-Schrein: Die Rolle weiblicher Gelehrter für die Überlieferung traditionellen Wissens im Islam wurde lange unterschätzt. © Imago Saqib Majeed
Von Julia Ley · 30.05.2021
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In der islamischen Geschichtsschreibung kommen nur wenige weibliche Gelehrte vor. Dabei spielten sie eine wichtige Rolle, besonders bei der Überlieferung der Aussprüche des Propheten Mohammed. Eine neue Sammlung zeigt ihre Bedeutung.
Es war das Jahr 1995, als Mohammad Akram Nadwi anfing, altarabische Manuskripte nach Frauennamen zu durchforsten. Nadwi forschte damals in Oxford am Zentrum für Islamstudien und hatte sich über einen Artikel in der London Times geärgert. Der Islam sei schuld daran, dass Frauen in der muslimischen Welt kaum gebildet wären. Nadwi wollte dem etwas entgegensetzen und suchte nach weiblichen Gelehrten. Er hatte gehofft, vielleicht 20 oder 30 Frauen zu finden, erzählt er, aber:
"Ich merkte damals, dass es sehr viele Frauen gab, die sich aktiv um Wissen bemüht haben. Manchmal schrieb ein einzelner Gelehrter: 'Ich habe mit 70 Frauen studiert.' Ein anderer gibt ein Hadith weiter, das von insgesamt 400 Frauen überliefert worden war."

Schriften über das Leben des Propheten

Hadithe sind nach dem Koran die zweitwichtigste Quelle für viele Muslime. Es sind Überlieferungen über das Leben des Propheten Muhammad, über Dinge, die er gesagt oder getan haben soll. Für Muslime sind sie deshalb so wichtig, weil sie die abstrakte Botschaft des Koran in konkrete Lebenspraxis übersetzen. Um einschätzen zu können, ob ein Hadith authentisch ist, betrieben Muslime schon früh Quellenkritik.
Nadwi suchte also nach Frauennamen, in bekannten und weniger bekannten Hadithsammlungen, aber auch in Biografien und Berichten, die Gelehrte über ihre Lehrer – und Lehrerinnen – schrieben. Und fand viel mehr, als er erwartet hatte.
Aus dem Artikel, den er schreiben wollte, wurde ein Buch, aus dem Buch ein Lexikon. Mitte Januar dieses Jahres, nach mehr als 20 Jahren Arbeit, hat er sein Werk vollendet. In 43 Bänden finden sich die Biografien von mehr als 10.000 Frauen. 10.000, das ist eine Zahl, die sogar die islamische Theologin Dina El Omari überrascht hat. Sie forscht an der Universität Münster:
"Dass es da viele gab, war mir bewusst, aber dass es am Ende so viele waren, das war dann doch erstaunlich und das macht das ganze Projekt ja auch megaspannend."

Eine Juristin studiert und betet mit den Männern

Spannend sind auch die Geschichten, die Nadwi erzählt. Da ist etwa Umm al-Darda, eine prominente Juristin im Damaskus des 7. Jahrhunderts. Als junge Frau studierte sie gemeinsam mit den Männern, und sie betete mit ihnen im Männerbereich der Moschee – etwas, das heute in den allermeisten Moscheen undenkbar wäre. Oder Karima al-Marwaziyya, die im 11. Jahrhundert in Mekka lebte. Ihre Abschrift der wichtigsten Hadithsammlung, der Sammlung al-Buhari, gilt bis heute als eine Art Masterkopie.
Insgesamt, schätzt Nadwi, wurde etwa ein Viertel aller Hadithe von Frauen überliefert. Und sie waren offenbar nicht nur fleißig, sondern auch gründlich:
"Bei den Überlieferungen des Propheten finden sich sehr, sehr viele Männer, denen vorgeworfen wurde, sich Hadithe ausgedacht zu haben. Aber alle Hadith-Gelehrten sagen: Es gibt nicht eine einzige Frau in der ganzen Welt, der vorgeworfen wurde, in Bezug auf ein Hadith des Propheten gelogen zu haben. Das ist erstaunlich."

Männer wurden berühmt, Frauen versteckt

Wenn es aber so viele gelehrte Frauen gab und sie so gut waren – wie konnte es dann passieren, dass ihre Namen heute fast vergessen sind? Akram Nadwi erklärt das anhand eines Beispiels:
"Es gibt einen großen Gelehrten im Islam, Ibn al-Sam'ani, er lebte im 13. oder 14. Jahrhundert. Er sagt, er wollte von einer Dame lernen, die Karima hieß: 'Ich habe ihren Bruder so oft gefragt, ob ich bei ihr studieren kann. Aber ihr Bruder hat immer Ausreden gefunden.' Man sieht hier das Problem: Wenn die Leute einen Sohn oder einen Bruder haben, dann wollen sie, dass der berühmt wird. Wenn sie eine Schwester hatten, wollten sie diese verstecken."
Mohammad Akram Nadwi sitzt im Gespräch an einem Tisch mit unteschiedlichen Schriften und Büchern.
Mohammad Akram Nadwi trug die Biografien von mehr als 10.000 weiblichen Islamgelehrten in 43 Bänden zusammen.© Al-Salam Institute
Nadwi hat die Frauen mit viel Energie wieder aus der historischen Versenkung hervorgeholt. Trotzdem ist er nicht das, was man in Deutschland einen liberalen Muslim nennen würde. Im Gegenteil: Nadwi hat auch schon mit dem Europäischen Fatwarat zusammengearbeitet, der der islamistischen Muslimbruderschaft zugerechnet wird. Und als Feminist würde er sich wohl nicht bezeichnen:
"Nein, ich glaube nicht wirklich, dass ich ein Feminist bin. Aber der Feminismus und ich sind uns in einem Punkt einig: Ich glaube auch, dass Frauen unterdrückt wurden und dass wir hart arbeiten sollten, um ihre Rechte zu verteidigen und ihnen die Ehre zu erweisen, die sie verdienen. Was ich nicht mag, ist, dass der Feminismus Männer und Frauen gleichmachen will."

Im Namen der Tradition werden Frauen ausgebremst

Für muslimische Frauen ist seine Arbeit trotzdem wichtig: Weil sie ihnen Argumente liefert, die sie brauchen im Kampf um mehr Mitsprache. Denn noch heute verweisen manche muslimische Männer auf "die Tradition", um Frauen von Machtpositionen fernzuhalten, sagt Gönül Yerli.
Die Vizedirektorin der islamischen Gemeinde Penzberg ist eine der ganz wenigen Frauen an der Spitze einer Moschee in Deutschland. Und nicht alle in der bayerischen Gemeinde konnten das zu Beginn akzeptieren, erzählt Yerli:
"Einer hat gesagt: 'Weißt du, es gibt doch einen Hadith: Wenn eine Frau an eine Spitze einer islamischen Gemeinschaft kommt, dann ist diese Gemeinschaft verflucht, und sie wird nie ihr friedliches Ziel erreichen.'"

Manipulation mit religiösen Argumenten

Auch Dina El Omari kennt Fälle, in denen Männer religiöse Argumente nutzen, um Frauen zu manipulieren:
"Wir haben da eine Überlieferung, die auch dem Propheten in den Mund gelegt wird: Dass, wenn ein Mann eine Frau in sein Bett bittet und diese sich verweigert, dann würden die Engel sie die ganze Nacht verfluchen. Und das ist natürlich ein ganz hartes Beispiel, das zeigt, wie Frauen auch mittels Religionen gedrängt werden etwas zu tun, was sie eigentlich gar nicht wollen."
Gönül Yerli im Porträt.
Gönül Yerli, Vizedirektorin der islamischen Gemeinde im bayerischen Penzberg, versucht, den frauenfeindlichen Hadithen etwas entgegenzusetzen.© Feryat Yilmaz
Dass solche Aussagen so weit verbreitet sind, hat laut Gönül Yerli auch einen ganz praktischen Grund: Sie seien viel eingängiger als der Koran:
"Der Koran hat ja eine komplexe Sprache, und der Koran bietet ja eben auch nicht für jede Frage eine Antwort. Eigentlich gar nicht, muss man sagen."

Frauenfeindliche Überlieferungen hinterfragen

Beide, Gönül Yerli und Dina El Omari, versuchen, den frauenfeindlichen Hadithen in ihrer Arbeit etwas entgegenzusetzen, in der Lehre und in der Seelsorge. El Omari erklärt dann zum Beispiel, dass es gerade bei diesen sehr unsicher sei, ob Mohammed sie jemals gesagt hat. Denn ausgerechnet in den ältesten Sammlungen fänden sie sich nicht.
"Was ja schon auffällig ist, und dann muss man wirklich sagen: Diese frauenfeindlichen Überlieferungen, die da sind, die stehen in so einem krassen Kontrast zur Biografie des Propheten, dass die einfach irgendwie nicht reinpassen."
Solange Frauen mitreden konnten, sagt El Omari, hätten sie frauenfeindliche Überlieferungen auch korrigiert. Aisha etwa, eine der Lieblingsfrauen des Propheten, hat sich nach dem Tod ihres Mannes öfter mit Abu Huraira gestritten, einem der Gefährten des Propheten.

Korrektur durch die weibliche Sicht

Abu Hureira erzählte zum Beispiel, das rituelle Gebet eines Mannes werde ungültig, wenn eine Frau in seiner Gebetsrichtung vorbeiläuft, so Omari:
"Und da hat Aisha dann eben ein Votum eingelegt und ganz klar gesagt, das hätte der Prophet so nie gesagt."
Aisha selbst berichtet in verschiedenen Hadithen, dass der Prophet auch dann in seinem Zimmer gebetet habe, wenn sie vor ihm im Bett lag. Es sind Beispiele wie dieses, die zeigen, warum es wichtig ist, dass weibliche Gelehrte endlich wieder wahrgenommen und anerkannt werden. Das sieht auch Mohammad Akram Nadwi so:
"Denn wenn Frauen nicht repräsentiert sind, dann vertritt sie auch niemand. Dann werden sich falsche Ideen über Frauen durchsetzen und niemand kann sie verteidigen."

Mohammad Akram Nadwis Lexikon ist unter dem Titel "al-Wafā' bi asmā' al-Nisā'" im saudi-arabischen Dar al-Minhaj-Verlag erschienen. Eine deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht. 2007 erschien eine englische Zusammenfassung der ersten Teile unter dem Titel "Al-Muhaddithat: The Women Scholars in Islam" bei Interface Publications. Das Buch hat 336 Seiten und kostet etwa 20 Euro.

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