Das Wort als Schlüssel zur Welterfahrung
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Die allererste weibliche Literatin könnte vor 4.300 Jahren die mesopotamische Hohepriesterin En-hedu-anna gewesen sein. Wie künstlerisch sie mit Sprache umging, erklärt die Göttinger Altorientalistin Annette Zgoll.
Andrea Gerk: Eine Frauenwoche haben wir in der "Lesart" ausgerufen, und da haben wir nicht nur nachgefragt, ob es so etwas wie weibliches Schreiben gibt, sondern wir stellen natürlich auch schreibende Frauen vor. Und heute ist das quasi die Urahnin aller Autorinnen, sie könnte den ersten literarischen Text geschrieben haben, der einer konkreten Person zuzuordnen ist, vor etwa 4.300 Jahren in Mesopotamien. Annette Zgoll ist Professorin für Altorientalistik an der Universität Göttingen und forscht dort über die Hohepriesterin En-hedu-anna. En-hedu-anna, habe ich nachgelesen, heißt "führender Schmuck des Himmels". Was war denn das für eine Frau?
Annette Zgoll: Das war eine ganz außergewöhnliche Frau. Sie bekleidete das höchste Amt in religiöser Hinsicht, wenn man es populärwissenschaftlich ausdrücken würde, würde man sagen, sie war die Päpstin ihrer Zeit.
Sie nennt sich zugleich Tochter des herrschenden Königs und Dynastiegründers, und lebt dann auch noch sehr lange, überlebt die zwei nachfolgenden Herrscher – und sie war in der religiösen Perspektive der damaligen Menschen in bestimmten Ritualen sogar Göttin.
Gerk: War das normal, dass damals Frauen in hohe Ämter kamen? War das eine matriarchale Gesellschaft?
Göttin für Liebe, Fruchtbarkeit und Krieg
Zgoll: Jein, es war keine matriarchale Gesellschaft in dem Sinne, dass Frauen die politische Macht in den Händen gehabt hätten, aber Frauen konnten tatsächlich in den sumerischen Gesellschaften wirklich hohe und teils höchste Positionen bekleiden.
Aber es waren eben nicht die eigentlichen und einzigen politischen Machthaber, deswegen würde ich sagen: kein Matriarchat, aber Frauen – so wie auch auf Götterebene Göttinnen – in ganz zentralen, ganz wichtigen Positionen.
Die höchste Göttin dieser sumerischen Kultur ist eine Göttin für Liebe, Fruchtbarkeit und Krieg zum Beispiel, das ist die Göttin Inanna, oder auch, wenn wir in den Bereich der Kunst schauen, der Literatur, die Göttin, die das Schreiben praktisch erfindet in einem Mythos.
Gerk: En-hedo-anna hat Tempelhymnen und Gedichte verfasst in Keilschrift. Worum geht es in diesen überhaupt?
Zgoll: Das spannendste Lied ist eine Hymne oder ein Lied, was in einer ganz grässlichen Situation um Leben und Tod, Sein oder Nicht-Sein kämpft. Da geht es darum, dass Bürgerkrieg ist und dass sie selbst von ihrem Kultort, von ihrem Tempel vertrieben ist und dass man ihr sagt, bring dich um.
Sie sagt das natürlich poetisch viel, viel schöner: Man hat mir einen Dolch in die Hand gedrückt und hat zu mir gesagt, dies ist nun dein Schmuck, das ist eine Anspielung auf ihren Namen, der, wie Sie schon sagten, "Schmuck des Himmels" bedeutet, und sie kämpft jetzt mit ihrem Lied darum, dass die Göttin eingreifen soll und die politische Situation rumreißen soll.
Und es stand alles dagegen. Und in genau dieser Situation sieht alles so aus, dass es zu spät ist, dass nichts mehr zu retten ist. Und da tritt sie auf an einem anderen Ort, an den sie sich geflüchtet hat, und sagt, ich bin immer noch die Hohepriesterin, ich habe dieses Lied hier geboren in der Mitte der Nacht, das ist natürlich nicht wörtlich gemeint, sondern es ist eine Metapher, also eine Bildrede, und das, was ich jetzt hier vortrage, was ich hier jetzt geboren habe, das soll dann, wenn es wieder strahlender Tag ist, wiederholt werden durch Sänger.
Gerk: Würden Sie sagen, das ist Literatur? Oder ist das nicht vielmehr ein religiöser Text?
Das Beste ist gerade gut genug
Zgoll: Das kann man überhaupt nicht als Gegensatz sehen. Sie müssen sich vorstellen, für Menschen der Antike – und zwar in verschiedenen antiken Kulturen, gar nicht nur in Mesopotamien –, da ist das Beste, was man hat, für die schlimmsten Situationen und für die höchsten Leute, mit denen man es zu tun hat, gerade gut genug.
Das bedeutet, wenn ich mich an die höchsten Mächte meiner Zeit wende, und das sind die Götter, dann brauche ich die beste Literatur, die ich zur Verfügung habe. Und da lege ich meine ganze Wortmacht, meine ganze Bildersprache, meine ganze Überredungskunst rein. Das ist eindeutig Literatur. Wir haben ein sehr enges Literaturverständnis.
Gerk: Und es steckt ja, so, wie Sie es beschrieben haben, schon alles drin, was gute Literatur ausmacht, nicht?
Zgoll: Absolut. Es ist rhythmisch, es ist eindringlich, es hat Bildersprache. Diese Kultur war eine Kultur des Wortes. Wir leben praktisch in einer Kultur der Zahl, des Zählens, Messens, Wiegens. Für die Leute damals war das Wort der eigentliche Schlüssel zur Welterfahrung. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen mal ein ganz kleines Stückchen Übersetzung vorlesen, um einen Eindruck von dieser Literatur zu geben.
Gerk: Ja, gerne!
Zgoll: Mitten aus diesem Lied: "In meinem Schicksal bestimmenden Teil des Tempels war ich zu dir, oh Göttin, eingetreten, ich, die Hohepriesterin, ich, En-hedu-anna. Während ich den Korb für das Ritual trug, während ich gerade den Festjubel angestimmt hatte, da hat man die Totenopfergaben aufgestellt, als hätte ich aufgehört zu leben. Dem Licht kam ich nahe, da wurde das Licht mir sengend heiß. Dem Schatten kam ich nahe, nachdem auch der Schatten mir durch Sturmeswüten verhüllt wurde, da wurde mein süß klingender Mund ekelerregend. Alles, womit ich sonst Freude bewirke, wurde mir zu Staub."
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