Die Karriere eines politischen Arguments
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Ob es um die Frage der Wiederbewaffnung ging oder die Einführung von Volksentscheiden: Die Angst vor "Weimarer Verhältnissen" war stets ein gewichtiges Argument in der politischen Debatte. Der Aufstieg der AfD hat diese Angst wieder genährt. Zu Recht?
Bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags am 9. November 2018 hält Frank Walter Steinmeier eine Rede, die vor 20, 30 Jahren für einen Bundespräsidenten undenkbar gewesen wäre. Darin sagte er:
"Der 9. November 1918 ist ein Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte. Er steht für die Geburt der Republik in Deutschland. Er steht für den Durchbruch der parlamentarischen Demokratie. Und deshalb verdient er einen herausragenden Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes."
Weimar als positives Geschichtsbild, der Fokus auf die Anfänge von Weimar und die Fortschritte durch die erste demokratische Verfassung in Deutschland. Einhundert Jahre nach ihrer Ausrufung konnten diese Aspekte, die die Forschung schon in den 1980er-Jahren zu diskutieren begann, auch in der deutschen Erinnerungskultur mehr in den Vordergrund rücken. In der jungen Bundesrepublik der 1950er-Jahre, galt Weimar hingegen als Konstruktionsfehler, der den Nationalsozialismus verursachte. Das Grundgesetz als Neuanfang und Weimar als Negativfolie wurde zum Stabilitätsausweis, zu einem Argument, wie der Historiker Andreas Wirsching es nennt, mit dem sich die Bonner Bundesrepublik eine neue Identität aufbaute.
"Zu einer Zeit in den 1950er-Jahren, als man noch nicht wusste, was aus der jungen Bundesrepublik eigentlich wird, war die Selbstvergewisserung, wir machen es anders, als die Weimarer Republik es getan hat, glaub ich, schon nicht ganz unwichtig", betont er.
"Das sagt gar nicht so viel über die Realgeschichte der jungen Bundesrepublik aus wie über das Bewusstsein, was man hat - und über das Bemühen und die Sehnsucht geradezu, diesmal muss es anders laufen."
Adenauers Kanzlerdemokratie als Antwort auf Weimar
"Bonn ist nicht Weimar", wie der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 sein vielzitiertes Buch über die junge Bundesrepublik nannte. Argumentiert wurde hier hauptsächlich verfassungspolitisch. Es ging darum, die repräsentative Demokratie zu legitimieren, und damit auch die Parteien, die diese parlamentarische Demokratie ausfüllen sollten, sagt Historiker Wirsching:
"Deswegen ist im Grundgesetz auch der Satz eingebaut, die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit, etwas, was Weimar nicht hatte. Und dass man, das kommt auch noch dazu, auch eine relativ starke Exekutive braucht, also die Idee der Adenauerschen Kanzlerdemokratie, die sich so seit Mitte der 1950er-Jahre damals durchgesetzt hat, die kommt eben auch daher und wird mit sozusagen Anti-Weimar-Argumenten auch unterstützt."
Die Frage, wie mit dem Willen der Bevölkerung umgegangen werden soll, erreichte 1957 einen ersten Höhepunkt. In der Bundesrepublik begann ein Streit darüber, ob die Bundeswehr mit atomaren Sprengköpfen ausgestattet werden soll. Während die Regierung unter Konrad Adenauer für die Wiederbewaffnung war, gab es einen breiten außerparlamentarischen Protest. Die Opposition forderte eine Volksbefragung. Eine Entwicklung, die der emigrierte Politikwissenschaftler und Jurist Ernst Fraenkel scharf kritisierte. In einem vielbeachteten Aufsatz argumentiert er, dass die Weimarer Verfassung daran gescheitert sei, dass sie sich für kein demokratisches Modell entschieden habe: Direkte, präsidiale und repräsentative Demokratie - alles sei miteinander vermischt worden.
"Da die Weimarer Verfassung einer Antwort auf die Frage auswich, ob die Republik ein Parteienstaat sein solle, erzeugte sie eine Art politische Schizophrenie", so Fraenkel damals. "Die Weimarer Republik litt an einem Geburtsfehler, an dem sie zugrunde gegangen ist"
Das Bundesverfassungsgericht entschied in den 1950er-Jahren gegen die Volksbefragungen. Aber die Debatte darüber kehrte spätestens mit der Friedensbewegungen in den 1980er-Jahren, den Massenprotesten gegen Mittelstreckenraketen und den NATO-Doppelbeschluss zurück.
"Versaille" als Argumentationsfigur der Rechten
Aber nicht nur bei der Frage "Wieviel Partizipation braucht die Demokratie?" spielte Weimar eine Rolle. Implizit nutzten spätestens seit den frühen 1970er-Jahren auch Rechtsextreme, Nationalisten und Konservative "Weimar" als Argument. In der Diskussion um die Ostverträge, bei denen es vor allem um Gewaltverzicht und die gegenseitige Anerkennung von Grenzen ging, wurde nicht direkt mit Weimar, sondern mit dem Frieden von Versailles argumentiert.
"Was, wie ich finde, eine ziemliche Infamie gewesen ist", meint der Historiker Andreas Wirsching. "Also, die Ostverträge wurden als schlimmer als der Versailler Vertrag dargestellt. Vor allem aus der Richtung der äußeren Rechten, sei es äußere Union, sei es äußere CSU oder auch außerhalb der Parteien, also so ein Vorwurf des Ausverkaufs deutscher Interessen. Das richtete sich natürlich gegen die Regierung Brandt/Scheel. Und das ist auch immer nochmal wiederholt wurden. Das Argument Versailles kommt noch einmal, wenn es um den Vertrag von Maastricht geht."
Vor allem von den Republikanern im Aufwind unter ihrem Vorsitzenden Franz Schönhuber: "Ein Versailles ohne Krieg" nannte Franz Schönhuber die Maastrichter Verträge Anfang der 1990er-Jahre, so Wirsching. Ein Verweis auf die Reparationszahlungen Deutschlands für den Ersten Weltkrieg in einer Zeit, in der die Pläne für eine europäische Geld- und Währungspolitik immer weniger Menschen begeisterten.
Die Regierungsbildung könnte künftig schwieriger werden
Wie tauglich ist also ein Argument "Weimar", das je nach Partei oder gesellschaftlicher Gruppierung politisch gedreht werden kann? Gerade in der Gegenwart, in der die einen für eine Lesart von Weimar als Aufbruch plädieren und andere vor "Weimarer Verhältnissen" warnen, also dem Erstarken rechter Parteien? Dass die AfD 15 bis 20 Prozent auf Bundesebene erreicht, sei aushaltbar, sagt Wirsching.
"Die größeren Risiken sehe ich in den Rückwirkungen, die diese Machtposition von rechts auf die anderen Parteien, die demokratischen Parteien ausübt. Und die sind ja nicht unerheblich, wenn man das Jahr 2017 und vor allem 2018 sich anguckt, dann ist ja aufgrund des Wahlergebnissen der AfD auch so ein Agendasetting durch die AfD erfolgt."
"Weimarer Verhältnisse" im Sinne eines Parlamentes mit vielen Parteien und schwierigen Mehrheitsverhältnissen - für Wirsching ist das die bundesrepublikanische Zukunft:
"Meines Erachtens haben die Deutschen da die Aufgabe, sich daran zu gewöhnen. Das heißt, die Regierungsbildung wird schwieriger, die Koalitionsverhandlungen werden komplexer und auch problematischer und es gibt möglicherweise auch eine Tendenz zu einer leichten Instabilisierung der Regierungen, was wir aus der alten Bundesrepublik eigentlich überhaupt nicht kennen."