Pionierarbeit im Norden
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Das Stargarder Land in Mecklenburg ist Deutschlands nördlichstes Weinanbaugebiet. Die alteingesessene Weinbaulobby in Deutschland wehrt sich gegen die Neulinge auf dem Markt. Doch mit List und Lust können sich die Mecklenburger behaupten.
"Der erste Schluck schmeckt immer nicht, weil die Geschmacksknospen noch nicht darauf eingestellt sind, dass jetzt Wein kommt. Deswegen empfehle ich immer als Sommelier des Hauses, dass wir erst mal den Mund mit Wasser spülen, dann den ersten Schluck einfach nur herunterschlucken. Dann sind alle Geschmacksnerven in Alarmbereitschaft versetzt, und dann beginnt man erst mit einer Weinprobe.
Zu Gast im Schloss Rattey: Weinverkostung. So etwas ist auch im norddeutschen Mecklenburg erst einmal nichts Ungewöhnliches. Doch was das hauseigene Restaurant den Gästen an Wein anbietet und was Hotelchef Hardy Eitner nun kredenzt, stammt ausschließlich aus eigenem Anbau und eigener Produktion. Also von den Trauben der Ratteyer Rebstöcke, gekeltert in der Weinkellerei im ehemaligen Marstall nebenan.
Hervorragende Roséweine
"Das ist der Regent-Roséwein Jahrgang 2018. Sehr beliebt geworden, und wir sind ganz stolz, dass unser Herr Schmidt, der Weinbauleiter, so ein schönes edles Tröpfchen hier entwickelt hat."
Auch Stefan Schmidt erhebt sein Glas – ein grauhaariger Winzer mit freundlich-verschmitztem Blick, der seinen leicht anhaltinischen Zungenschlag nicht verleugnen kann, obwohl es ihn schon Anfang der 1980er-Jahre nach Mecklenburg verschlagen hatte.
"Wir haben sehr viele Weinkritiker, die schon über unseren Wein geschrieben haben. Und die haben immer die hervorragende Qualität der Roséweine betont."
Wie und warum begann es vor zwanzig Jahren mit dem Weinanbau in Rattey, das inmitten von Kartoffel-, Rüben- und Getreidefeldern liegt? Stefan Schmidt zieht ein kleines, feines Büchlein hervor, das er verfasst hat: "Weinbau im Schatten von Burgen und Schlössern".
Tausendjährige Weintradition
Es ist ein Streifzug durch die Geschichte des alten und neuen Weinbaus im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Wie sich zeigt, gab es auch hier im Norden schon vor 1000 Jahren Klöster, die ihren Messwein selbst herstellten – unter anderem in Burg Stargard, rund 35 Kilometer von Rattey entfernt gelegen.
"Rattey hatte die nicht unbedingt vordergründig. Aber Burg Stargard hatte von 1508 bis Anfang des 20. Jahrhunderts Weinbau. Dass Burg Stagard mit ins Boot kam, ist eigentlich eine super Sache. Denn man kann in Deutschland Orangen, Bananen und Kartoffeln anbauen, wo man will. Aber Rebstöcke und Wein? Ist verboten grundsätzlich. Man darf nur hundert Rebstöcke selber haben und die müssen dann auch angemeldet sein und damit darf man keinen kommerziellen Weinbau machen. Aber das sollte ja hier gemacht werden! Die Besitzer hatten 1999 die Idee und pflanzten plötzlich 300 Rebstöcke vor dem Schloss, und um das durchzubekommen, musste man nachweisen, dass eine Tradition bestand. Die haben wir natürlich mit Burg Stargard einbringen können in das neue Weinbaugebiet 'Stargarder Land'."
Vorreiter in Norddeutschland
2004 wurde zum ersten Mal überhaupt Weinbau im Norden Deutschlands mit einer geschützten geografischen Angabe genehmigt.
"Mecklenburger Landwein. Zum ersten Mal im Norden Deutschlands überhaupt Weinbau genehmigt! Wir waren die Vorreiter im Norden. Schleswig-Holstein kam 2008 nach und unsere Winzerfreunde in Niedersachsen erst 2016."
Im Winzertraumjahr 2018 ergab die Ratteyer Traubenlese eine Rekordmenge von 25.000 Litern Wein. In diesem Jahr kommen trotz späten Frostes im Mai 18.000 Liter zusammen, denn in Rattey wachsen ausschließlich pilzwiderständige Rebsorten, die auch bis zu minus 20 Grad Celsius überstehen können.
Auf dem Weg vom Schlossrestaurant hinaus zu einem langen, backsteinroten Nebengebäude.
"Im Marstall befinden sich heute eine Festscheune für 120 Gäste von Hochzeitsgesellschaften oder Betriebsfeiern und der Gutsladen", sagt Stefan Schmidt. "Und dann haben wir dort unsere beiden Weinkeller drin. Der eine ist überirdisch. Der wird gekühlt. Und einer ist unter der Erde und da ist unser Fasslager. Das werden wir uns gleich mal anschauen. Jetzt schließen wir auf."
Die Bedingungen lassen das Winzerherz höher schlagen
Stefan Schmidt, der in den 70er Jahren im bulgarischen Plowdiw Weinbauwirtschaft studiert hat, erklärt die Vorzüge des Weinbaus in Mecklenburg. Hier stehe die Sonne im Sommer täglich eine Stunde länger am Himmel als in München. Außerdem müsste das sogenannte Ratteysche Terroir jedes Winzerherz höher schlagen lassen, also die Mischung aus Klima, Lage, Bodenprofil nordöstlich von Neubrandenburg.
"Wir haben eine hügelige Lage hier in den Ausläufern von Brohmer Berge und Hepter Berge. Mit 179 Metern ist es natürlich kein Berg, eher ein Hügel. Aber nichtsdestotrotz fließt Wasser aus diesen kleinen Hügellandschaften. Dieses Wasser sammelt sich im Golmer Bach und der Golmer Bach bildet hier auf dem Gelände des Schlosses ein Teichsystem. Diese unterirdischen Wasserreservoire zapfen unsere Rebstöcke an. Wir haben überhaupt keinen Schlauch, keine Möglichkeit und kein Interesse, die Rebstöcke künstlich zu bewässern."
"Selbst das trockene Jahr 2018, das wirklich sehr, sehr trocken war, hat keinen Stress gemacht. Die Pflanzen sind super durchgekommen. Wir haben den höchsten Ertrag erzielt, den wir jemals hatten, denn die Rebpflanze ist ein Pfahlwurzler. Der sucht sich das Wasser selber. Der Vorteil der Pfahlwurzeln ist natürlich, dass die Pflanze bestrebt ist, vom Boden heraus so viel wie möglich in die Frucht zu übernehmen. Das fließt ja auch in dieses Terroir ein, also in das, was den Wein ausmacht. Wenn ich zum Beispiel in Kalifornien oder in Chile bin und ich muss alles, was die Pflanze braucht, dem Wasser zusetzen, dann machen das ja alle so ähnlich. Deswegen ist es oft, dass die Weine sich kaum noch unterscheiden."
Gegenwind von der Weinlobby
Im Gutsladen hängen zahlreiche Urkunden für Weine aus Rattey. Erst jüngst erhielt das mecklenburgische Schlossweingut sechs silberne und eine goldene Medaille bei einem internationalen Wettbewerb in Neuhaus an der Weinstraße.
Die Winzerkollegen aus den klassischen südlichen Anbaugebieten rollen längst nicht mehr überheblich mit den Augen, wenn sie hören: "Mecklenburger Landwein". Der erfülle sogar alle Kriterien für das höherwertige Prädikat "Qualitätswein", doch man dürfe ihn leider nicht so vermarkten, sagt Stefan Schmidt. Die alteingesessene Weinlobby wehre sich gegen junge Konkurrenz – auch mit Hilfe von gesetzlichen und berufsständischen Vorschriften, die noch mehr Regalmeter Papier füllen als jene zum Bierbrauen. Kopfschüttelnd öffnet der Gutsleiter die schwere Tür zum hinteren Bereich des Marstalls.
"Wir befinden uns hier im oberen Keller, oder wie wir sagen: Im Weißweinkeller. Der wird künstlich gekühlt."
Das hört und spürt man sofort. Die Raumtemperatur hier: nicht wesentlich über zehn Grad Celsius. Jeweils drei blanke Stahltanks stapeln sich zu drei Meter hohen Tanks. Darin gärt die aktuelle Traubenernte.
Rebflächen müssen zum Schloss gehören
Die auf mehreren Flächen im Dorf verteilten Rebstöcke gehören übrigens den Mitgliedern des eigens dafür gegründeten "Vereins der Privatwinzer Rattey". Sie organisierten auch in diesem Spätsommer die Weinlese und füllten die geernteten Trauben in die Weinpresse, die zum Schlossgut gehört.
"Das ist die Voraussetzung, damit man überhaupt ein Schlossweingut haben darf. Das heißt, die Rebflächen müssen zum Schloss gehören. Im Schloss muss gekeltert und gepresst und vergoren werden. Und im Schloss muss auch abgefüllt werden."
Stefan Schmidt öffnet nun den Hahn eines Tanks: "Das ist ein Phoenix. Das ist jetzt ein relativ junger Wein." Dann einen zweiten. In die Gläser läuft jeweils hellgelber Most. "Sie können auch kosten; die Säure wird noch relativ kräftig sein. Aber da sieht man schon ungefähr, wo es hingeht. Das ist ein Solaris."
Mit List und Lust an raffinierten Namen
Wenig später geht es über eine enge Treppe hinab in einen weißgetünchten Gewölbekeller. Hier ist es deutlich ruhiger und angenehm warm. Gut für den künftigen Rotwein.
Die 2019er Ernte gärt in beheizten Stahlbehältern, während der 2018er Jahrgang seit knapp einem Jahr in großen Holzfässern ruht. Im Januar wird Stefan Schmidt diesen Rotwein in Flaschen umfüllen und damit Platz für den 2019er Jahrgang schaffen. "Eikspon" nennen ihn die Ratteyer. Das ist Plattdeutsch für "Eichenspan" und eine listige Umgehung des Verbotes, mit geschützten Begriffen wie "Eichenfass", "holzgelagert" und ähnlichem zu werben. Denn das sei nur bei Prädikaten von "Qualitätswein" aufwärts gestattet.
Zurück zur Weinprobe im Schlossrestaurant, wo Sommelier Hardy Eitner gerade schildert, wie man seine Geschmacksknospen auf der Zunge am besten in Aufnahmebereitschaft versetzt für Wein im allgemeinen und für "Mecklenburger Landwein" aus Rattey im Besonderen.
Schauen, Riechen, Schmecken
Seit vorigem Freitag übrigens herrscht große Erleichterung unter den Angestellten, den Winzern und Weinfreunden. Ein aus privaten Gründen notwendig gewordener Teilungsverkauf von Schloss Rattey samt Weingut endete vor dem Amtsgericht Neubrandenburg mit dem Zuschlag für den Wunschkandidaten unter den 20 Bietern.
Für knapp 1,3 Millionen ging die Anlage an die "Inselmühle Usedom", ein erfolgreiches regionales Obstbau-Unternehmen, das den Weinanbau unbedingt weiterführen will. Es wird ihn wohl also auch künftig geben, den Mecklenburger Landwein aus dem Großen Weingut Schloss Rattey.