Wein für die Waisen
Immer wenn Ko Un den Nationalfriedhof des 19. April in Seoul besucht, geht er zu ganz besonderen Gräbern. Die der Waisenkinder, die 1960 am Tag der Revolution ihr Leben verloren haben. Ihr Schicksal liegt dem südkoreanischen Schriftsteller ganz besonders am Herzen.
"Hier: keine Familie!"
Als wäre er ein junger Sportler und kein alter Mann im Cord-Sakko springt Ko Un flink wischen zwei Reihen hügeliger Gräber hin und her und tippt mit der Hand auf einen grauen Betonstein nach dem anderen. Seine Frau Lee Sang-Wha, die dolmetscht, und ich, haben Probleme, mit Ko Un Schritt zu halten:
"Hier: keine Familie! Und auch hier!"
Der koreanische Dichter und Essayist, Jahrgang 33, bleibt sich treu. Kein Besuch auf dem Friedhof der Revolution vom 19. April, der sich im äußersten Norden Seouls an eine Berglandschaft anschmiegt, ohne bei den Gräbern der Waisenkinder vorbeizuschauen.
"Hier rufe ich mir die Waisenkinder ins Gedächtnis, als gehörten sie zu mir. Ich möchte ihnen eine Familie sein. Oft habe ich hierher Wein mitgebracht und ihn den Waisen in den Gräbern angeboten. Dann haben wir alle gemeinsam getrunken."
Die Waisenkinder starben am 19. April 1960, dem Tag der Revolution. Damals marschierten vor allem Studenten und Intellektuelle zum Palast des Präsidenten in Seoul, um gegen die Wahlmanipulationen und die korrupte Regierung zu demonstrieren. 115 Demonstranten und Polizisten starben an diesem Tag. Der Präsident erklärte seinen Rücktritt. Zwei Jahre darauf wurde der Friedhof der Revolution vom 19. April eingeweiht. Heute liegen hier die Opfer des Aufstandes begraben und all jene Menschen, die in irgendeiner Form daran beteiligt waren. Ko Un bekam erst gar nichts von der Revolution mit.
"Während des Koreakriegs Ende der 50er-Jahre musste ich zwei Wochen lang sehr viele Leichen bergen. Ich wurde gezwungen, die Leichen auf meinem Rücken zu tragen. In dieser Zeit kam es mir vor, als atmete ich unaufhörlich den Tod. Deshalb bin ich in die Berge gegangen, um buddhistischer Mönch zu werden. Erst die Revolution vom 19. April hat mich zurück in diese Welt geholt."
Ko Un war mit einem Mal ein politischer Mensch geworden und entwickelte sich später zu einer wichtigen Figur der Demokratiebewegung. Der Dichter läuft im Halbkreis um weiße Stelen, die hoch in den Himmel ragen:
"Vor diesen Stelen hier haben sich die Menschen am 19. April jedes Jahr versammelt. Und meistens habe ich die Erklärung verlesen. Und da hinten, am Ende der Menschenmenge, standen Polizisten in einer Reihe."
Als wäre er ein junger Sportler und kein alter Mann im Cord-Sakko springt Ko Un flink wischen zwei Reihen hügeliger Gräber hin und her und tippt mit der Hand auf einen grauen Betonstein nach dem anderen. Seine Frau Lee Sang-Wha, die dolmetscht, und ich, haben Probleme, mit Ko Un Schritt zu halten:
"Hier: keine Familie! Und auch hier!"
Der koreanische Dichter und Essayist, Jahrgang 33, bleibt sich treu. Kein Besuch auf dem Friedhof der Revolution vom 19. April, der sich im äußersten Norden Seouls an eine Berglandschaft anschmiegt, ohne bei den Gräbern der Waisenkinder vorbeizuschauen.
"Hier rufe ich mir die Waisenkinder ins Gedächtnis, als gehörten sie zu mir. Ich möchte ihnen eine Familie sein. Oft habe ich hierher Wein mitgebracht und ihn den Waisen in den Gräbern angeboten. Dann haben wir alle gemeinsam getrunken."
Die Waisenkinder starben am 19. April 1960, dem Tag der Revolution. Damals marschierten vor allem Studenten und Intellektuelle zum Palast des Präsidenten in Seoul, um gegen die Wahlmanipulationen und die korrupte Regierung zu demonstrieren. 115 Demonstranten und Polizisten starben an diesem Tag. Der Präsident erklärte seinen Rücktritt. Zwei Jahre darauf wurde der Friedhof der Revolution vom 19. April eingeweiht. Heute liegen hier die Opfer des Aufstandes begraben und all jene Menschen, die in irgendeiner Form daran beteiligt waren. Ko Un bekam erst gar nichts von der Revolution mit.
"Während des Koreakriegs Ende der 50er-Jahre musste ich zwei Wochen lang sehr viele Leichen bergen. Ich wurde gezwungen, die Leichen auf meinem Rücken zu tragen. In dieser Zeit kam es mir vor, als atmete ich unaufhörlich den Tod. Deshalb bin ich in die Berge gegangen, um buddhistischer Mönch zu werden. Erst die Revolution vom 19. April hat mich zurück in diese Welt geholt."
Ko Un war mit einem Mal ein politischer Mensch geworden und entwickelte sich später zu einer wichtigen Figur der Demokratiebewegung. Der Dichter läuft im Halbkreis um weiße Stelen, die hoch in den Himmel ragen:
"Vor diesen Stelen hier haben sich die Menschen am 19. April jedes Jahr versammelt. Und meistens habe ich die Erklärung verlesen. Und da hinten, am Ende der Menschenmenge, standen Polizisten in einer Reihe."
Ko Un auf dem Nationalfriedhof des 19. April, Seoul (Bild: Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag)
1980, nach einem Militärputsch, saß Ko Un zwei Jahre im Gefängnis. Durch Folter nahm sein bis dahin noch gesundes Trommelfell bleibenden Schaden. Das andere hatte er selbst zerstört, als er sich, unter den traumatisierenden Eindrücken des Koreakriegs, Gift ins Ohr kippte, um sich das Leben zu nehmen. Drei weitere Selbstmordversuche sollten folgen. Anfang der 60er-Jahre betrat er mit einem schweren Stein und einem Seil das Boot nach Jeju-do, der größten Insel des Landes, um sich so über Bord in den Tod zu stürzen. Aber er brach vorher betrunken zusammen, arbeitete schließlich auf der Insel als Lehrer und schlief oft auf dem dortigen Friedhof:
"Immer wenn ich ein neues Grab entdeckte, habe ich den Neuankömmling begrüßt. Im Gegensatz zu westlichen Ländern liegen Friedhöfe in Korea meistens abseits der Städte und Dörfer. Koreaner besuchen nicht gerne Friedhöfe. Ich habe mich dagegen seltsamer Weise immer geborgen und zu Hause gefühlt, wenn ich auf dem Friedhof war."
Die abergläubischen Koreanern auf der Insel hatten Angst vor Ko Un, dachten, ein Geist habe von seinem Körper Besitz ergriffen.
"Ich lebe. Also gehöre ich auch zum Leben. Aber ich glaube, Menschen kommen mit ihrem Tod nicht an ihr Ende. Die Toten haben immer etwas zu sagen. Und ich fühle mich verpflichtet, die Geschichten dieser Toten aufzuschreiben und sie so wieder in die Realität zurückzuholen. Meine Literatur ist eine Literatur des Trauerns."
Über Lautsprecher werden die Besucher daran erinnert, dass der Friedhof schließt. Ko Un, seine Frau und ich gehen zum Ausgang.
Ein Mitarbeiter des Friedhofs schiebt hinter uns das stählerne Rolltor zu. Eigentlich der perfekte Augenblick, um das Interview zu beenden. Wenn da nicht noch eine Frage wäre, die sich während des gesamten Friedhofsganges aufgedrängt hat: Wie ist es möglich, dass sich Ko Un nach diesem hochdramatischen und traurigen Leben heute so froh und leichtfüßig über den Friedhof bewegt. Die lapidare Antwort des Dichers:
"Als mein Leben vom Tod bestimmt war, kannte ich meine Frau noch nicht. Die habe ich erst 1983 geheiratet. Seit ich sie kenne, bin ich ein sehr glücklicher Mensch."
Während Lee Sang-Wha die Liebeserklärung ihres Mannes übersetzt, schiebt sie zärtlich den herausgerutschten Hemd kragen unter das Revers seines blauen Sakkos.
Ko Un: "Die Lebenden neigen manchmal dazu, der Nichtexistenz mehr Bedeutung beizumessen als der Existenz. Es gibt zum Beispiel sehr viele Liebesgedichte, die nach dem Ende einer Liebe entstanden sind. Damit versuchen die Dichter, allem wieder Leben einzuhauchen."
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Tobias Wenzel ist um die Welt gereist, um Schriftsteller auf Friedhöfen zu treffen - SerieFriedhofsbesuche