"Weisse Bescheid?"
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, sagte Michail Gorbatchow und hat völlig recht. Die neuen Eigentümer von ProSiebenSat.1 haben sich daran erinnert und sind nun ganz vorne an der Medienfront des Zeitgeistes. Denn sie haben es am radikalsten gemacht und gleich die ganzen Fernsehnachrichten abgeschafft. Zumindest so gut wie. Zeit ist Geld, Sendezeit noch viel mehr, und halbwegs seriöse Nachrichten bringen eben keine Werbeeinnahmen.
Punktum.
Ganz so einfach können es sich die anderen nicht machen, schon gar nicht die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands. Aber auch hier, wie überall in den Massenmedien, regiert der Druck der Zeit, am banalsten, aber wirkungsvollsten als gemeiner Zeitdruck spürbar. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.
Wer heute nicht zwanzig Minuten nach einer Großkatastrophe seinen "Mann vor Ort" hat, der wird später zum Intendanten zitiert. Während die Fernsehanstalten ihre rasenden Reporter auf gepackten Koffern irgendwo zwischen Bonn, Bagdad und Bombay parken, beobachten zappende Fernsehkritiker vom Sessel aus, welcher Sender zuerst am Feuerball war.
Minutengenau wird am nächsten Tag in der Zeitung protokolliert, dass im Programm X noch die "Biene Maja" lief, während Programm Y schon auf Live-Schalte zum Katastrophenort war und einen Experten im Studio hatte.
Zwar wusste der Reporter auch nicht mehr als die Agenturmeldungen berichteten, aber es sieht eben viel authentischer aus, wenn sich hinter dem Kopf des Mannes mit dem riesigen Mikrophon in der wind- und wettergestählten Berichterstatterhand gigantische schwarze Rauchwolken abzeichnen.
"Weiß man denn schon etwas über die Zahl der Opfer?" fragt die blonde Moderatorin im Studio mit professionell banger Stimme.
Nein, weiß man nicht. Aber deren Zahl wird sich gewiss "stündlich erhöhen". Jedenfalls ist das zu befürchten. Bis zur nächsten Live-Schalte.
Dann ist auch der Feuilletonist in der warmen Bürostube mit seiner kritischen Glosse fertig, in der nicht nur über die Katastrophe selbst philosophiert wird, sondern auch über ihre "mediale Inszenierung" und die "Faszination des Schreckens".
Was aber dem Fernsehen die Live-Schalte und der Qualitätszeitung die rasch hingeworfene Glosse, das ist den Online-Auftritten großer Presseorgane die sich jagenden Eilmeldungen, gelb, rot oder blau markiert. Weil es hier gar keine "Deadline" mehr gibt, nicht einmal die festgesetzten Zeiten der Nachrichten zur vollen Stunde, regiert der rasende Zeitfluss im Sekundentakt. Praktisch ununterbrochen können echte oder vermeintliche Neuigkeiten blitzschnell veröffentlicht werden, und prinzipiell gibt es weder Platz- noch Zeitbeschränkung. Nur das journalistische Kalkül und die publizistische Linie begrenzen den Overkill an Informationen.
Nachrichten, Reportagen, Kommentare, Interviews und Kurzmeldungen werden "getaktet" – nicht zufällig ein Begriff aus der Welt des Fließbandes. Nach bestimmten Kriterien von Wichtigkeit, Leserstruktur und Einschalt-, besser: Klickquote werden die Texte platziert, bis sie, spätestens nach einigen Stunden, nach unten durchrutschen, in Richtung Archiv.
Zu den jüngsten Errungenschaften im Wettlauf mit der Zeit gehört der "Live-Ticker", die praktisch zeitgleiche Berichterstattung nach dem Motto "Passiert, notiert". Was bei Spielen in der Fußballbundesliga schon gang und gäbe ist, setzt sich nun auch bei kulturellen Großereignissen wie glamourösen Filmpreisverleihungen durch. Kaum ist die "Lola" übergeben, kaum hat sich die Preisträgerin bei ihrer Mutter, dem Produzenten, dem Regisseur, der Catering-Firma und ihrem kleinen Sohn Sven-Oliver bedankt, da steht es auch schon online: "21.12 Uhr. Katrin Mauerspecht erhält die Silberne Lola als beste Seiteneinsteigerin 2007".
Da bleibt keine Sekunde Zeit mehr für Bewertung oder einen abgewogenen, gar distanziert-ironischen Kommentar. Im Live-Ticker ist alles gleich wichtig. Die Fünf-Sekunden-Terrine. Manchmal aber überholt man sich selbst vor lauter Tempo Tempo. So etwa, wenn sich vermeintliche Flugzeugentführungen oder Terroranschläge binnen Stunden in Luft auflösen, die alarmierenden Eilmeldungen aber schon um die ganze Weltgeschickt worden sind.
Da hat es die gute alte Tageszeitung dann wieder viel besser. Sie kann in einiger Ruhe das Geschehen abwarten und dann entscheiden: Aufmacher oder Kurzmeldung. Mit oder ohne Kommentar.
Währenddessen haben die Online-Leser die ausgefallene Katastrophe längst vergessen und widmen sich schon dem nächsten "Homepage-Aufmacher", diesmal aus dem Ressort Wissenschaft. Überschrift: "Australische Forscher entdecken: Sex mit Seeigeln fördert die Durchblutung und beugt der Altersdemenz vor".
Na bitte.
So holt man sich die verlorene Zeit wieder zurück.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.
Ganz so einfach können es sich die anderen nicht machen, schon gar nicht die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands. Aber auch hier, wie überall in den Massenmedien, regiert der Druck der Zeit, am banalsten, aber wirkungsvollsten als gemeiner Zeitdruck spürbar. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.
Wer heute nicht zwanzig Minuten nach einer Großkatastrophe seinen "Mann vor Ort" hat, der wird später zum Intendanten zitiert. Während die Fernsehanstalten ihre rasenden Reporter auf gepackten Koffern irgendwo zwischen Bonn, Bagdad und Bombay parken, beobachten zappende Fernsehkritiker vom Sessel aus, welcher Sender zuerst am Feuerball war.
Minutengenau wird am nächsten Tag in der Zeitung protokolliert, dass im Programm X noch die "Biene Maja" lief, während Programm Y schon auf Live-Schalte zum Katastrophenort war und einen Experten im Studio hatte.
Zwar wusste der Reporter auch nicht mehr als die Agenturmeldungen berichteten, aber es sieht eben viel authentischer aus, wenn sich hinter dem Kopf des Mannes mit dem riesigen Mikrophon in der wind- und wettergestählten Berichterstatterhand gigantische schwarze Rauchwolken abzeichnen.
"Weiß man denn schon etwas über die Zahl der Opfer?" fragt die blonde Moderatorin im Studio mit professionell banger Stimme.
Nein, weiß man nicht. Aber deren Zahl wird sich gewiss "stündlich erhöhen". Jedenfalls ist das zu befürchten. Bis zur nächsten Live-Schalte.
Dann ist auch der Feuilletonist in der warmen Bürostube mit seiner kritischen Glosse fertig, in der nicht nur über die Katastrophe selbst philosophiert wird, sondern auch über ihre "mediale Inszenierung" und die "Faszination des Schreckens".
Was aber dem Fernsehen die Live-Schalte und der Qualitätszeitung die rasch hingeworfene Glosse, das ist den Online-Auftritten großer Presseorgane die sich jagenden Eilmeldungen, gelb, rot oder blau markiert. Weil es hier gar keine "Deadline" mehr gibt, nicht einmal die festgesetzten Zeiten der Nachrichten zur vollen Stunde, regiert der rasende Zeitfluss im Sekundentakt. Praktisch ununterbrochen können echte oder vermeintliche Neuigkeiten blitzschnell veröffentlicht werden, und prinzipiell gibt es weder Platz- noch Zeitbeschränkung. Nur das journalistische Kalkül und die publizistische Linie begrenzen den Overkill an Informationen.
Nachrichten, Reportagen, Kommentare, Interviews und Kurzmeldungen werden "getaktet" – nicht zufällig ein Begriff aus der Welt des Fließbandes. Nach bestimmten Kriterien von Wichtigkeit, Leserstruktur und Einschalt-, besser: Klickquote werden die Texte platziert, bis sie, spätestens nach einigen Stunden, nach unten durchrutschen, in Richtung Archiv.
Zu den jüngsten Errungenschaften im Wettlauf mit der Zeit gehört der "Live-Ticker", die praktisch zeitgleiche Berichterstattung nach dem Motto "Passiert, notiert". Was bei Spielen in der Fußballbundesliga schon gang und gäbe ist, setzt sich nun auch bei kulturellen Großereignissen wie glamourösen Filmpreisverleihungen durch. Kaum ist die "Lola" übergeben, kaum hat sich die Preisträgerin bei ihrer Mutter, dem Produzenten, dem Regisseur, der Catering-Firma und ihrem kleinen Sohn Sven-Oliver bedankt, da steht es auch schon online: "21.12 Uhr. Katrin Mauerspecht erhält die Silberne Lola als beste Seiteneinsteigerin 2007".
Da bleibt keine Sekunde Zeit mehr für Bewertung oder einen abgewogenen, gar distanziert-ironischen Kommentar. Im Live-Ticker ist alles gleich wichtig. Die Fünf-Sekunden-Terrine. Manchmal aber überholt man sich selbst vor lauter Tempo Tempo. So etwa, wenn sich vermeintliche Flugzeugentführungen oder Terroranschläge binnen Stunden in Luft auflösen, die alarmierenden Eilmeldungen aber schon um die ganze Weltgeschickt worden sind.
Da hat es die gute alte Tageszeitung dann wieder viel besser. Sie kann in einiger Ruhe das Geschehen abwarten und dann entscheiden: Aufmacher oder Kurzmeldung. Mit oder ohne Kommentar.
Währenddessen haben die Online-Leser die ausgefallene Katastrophe längst vergessen und widmen sich schon dem nächsten "Homepage-Aufmacher", diesmal aus dem Ressort Wissenschaft. Überschrift: "Australische Forscher entdecken: Sex mit Seeigeln fördert die Durchblutung und beugt der Altersdemenz vor".
Na bitte.
So holt man sich die verlorene Zeit wieder zurück.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.