Weißrussland vor dem Staatsbankrott

Von Gesine Dornblüth |
Die Preise steigen, der Unmut in der Bevölkerung wächst. In immer mehr Städten in Weißrussland protestieren Bürger gegen ihre autoritäre Regierung. Doch Präsident Alexander Lukaschenko will die Krise einfach aussitzen.
Ein Markt in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Ein Wellblechdach, darunter, gedrängt, Verkaufsstände mit Hosen, Büstenhaltern, Schuhen, Wollpullovern. Einige Kleidungsstücke kommen aus der Türkei, die billigeren aus Weißrussland. Die Stoffe kratzen, sehen schäbig aus. Die Verkäufer stehen gelangweilt herum. Am Rand gibt es Lebensmittel. Ein alter Mann betrachtet einen Stand mit Dörrobst und Nüssen. Er studiert die Preise, knetet einen 20.000 Rubel-Schein, überlegt. 20.000 Rubel entsprechen zwei Euro.

"Slushaju vas – mne Pflaumen – sauer, mit oder ohne Stein, süß?"

Schließlich entscheidet er sich für getrocknete Pflaumen: dreihundert Gramm für 13.000 Rubel. Der Verkäufer füllt das Obst in eine Plastiktüte.

"Das Volk ist verarmt. Die Preise sind gestiegen, die Löhne aber nicht. Und dementsprechend ist die Kaufkraft gesunken. Nehmen wir die getrockneten Aprikosen. Vor einem Jahr habe ich die noch für 9.800 Rubel das Kilo verkauft. Jetzt muss ich 55.000 nehmen. Oder Rosinen. Die kosten jetzt 35.000 Rubel, vor einem Jahr noch 11.000. Die Preise haben sich verdreifacht."

Wie viele Menschen in dem autoritär regierten Land scheut sich der Verkäufer, seinen Namen zu nennen. Er ist Mitte vierzig und steht jeden Tag hier.

"Ich habe mein Auskommen, aber es ist schwer. Vor der Krise habe ich mehr verdient. Nüsse und Trockenfrüchte sind nun mal keine Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch oder Wodka. Deshalb verkneifen sich das viele. Wenn Lukaschenko abtritt, wird das für mich ein Fest."

Weißrussland steht vor dem Staatsbankrott. Seit Beginn des Jahres hat es seine Währung um mehr als 65 Prozent abgewertet. Die Inflation wird immer stärker. Ein paar Meter weiter verkauft eine Frau Honig.

"Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt. Früher haben die Rentnerinnen bei mir am Stand immer das Loblied auf den Präsidenten gesungen: dass er die Renten pünktlich zahlt. Jetzt sagen alle, dass es noch schlechter wird. Ich denke aber, es kann gar nicht noch schlechter werden. Es ist schon schlimm genug. Wir kommen nur zurecht, weil wir viel arbeiten. Als die Krise begann, haben wir unsere Bienenvölker vermehrt. Wenn ich noch im Kindergarten arbeiten würde, wären wir schon verschuldet."

Die Frau hat ihre Stelle gekündigt, weil sie mit der Imkerei mehr verdient. Ihr Mann ist bereits Rentner. Er war bei der Armee und bekommt daher eine recht hohe Rente, doch mehr als die Hälfte davon geht für die Wohnungsmiete drauf. Außerdem finanzieren sie das Studium ihrer beiden Kinder.

"Lukaschenko hat bei der Wahl im vergangenen Dezember versprochen, allen die Löhne zu erhöhen. Mein Mann bekam auch prompt einen ordentlichen Zuschlag auf seine Rente. Aber nur einmal. Schon im nächsten Monat wurde der Zuschlag wieder gestrichen."

Zwischen drei und vier Millionen Rubel hätten sie im Monat zur Verfügung, sagt die Frau.

"Das klingt grandios: Millionen. Aber die Millionen zerrinnen in den Händen."

Die Krise ist die Folge dessen, dass Weißrussland Jahre lang über seine Verhältnisse gelebt hat. Präsident Alexander Lukaschenko, seit 1994 an der Macht, regiert in sowjetischer Manier. Von freier Marktwirtschaft hält er nichts. Deshalb sind die meisten Großunternehmen in Weißrussland immer noch in Staatsbesitz. Als 2008 die Wirtschafts- und Finanzkrise um sich griff und Betriebe auf der ganzen Welt massenweise Personal entließen, machte Lukaschenko weiter, als sei nichts geschehen. Dabei bekam auch Weißrussland die Folgen der weltweiten Krise zu spüren.

Das Land exportiert Traktoren und Kalidünger. Bedingt durch die Krise sank die Nachfrage nach diesen Produkten. In Weißrussland wurde das Geld knapp. Umso dringender hätte Lukaschenko Teile der Staatsbetriebe verkaufen müssen. Der Philosoph Wladimir Matskjewitsch leitet das internationale Konsortium "Eurobelarus", einen Thinktank, der politische und wirtschaftliche Analysen erstellt. Wie schlimm die Wirtschaftslage wirklich ist, wisse niemand, sagt Matskjewitsch.

"Unabhängige Experten haben leider keinen Zugang zu aktuellen Statistiken. Wir haben auch keine Indikatoren wie Börsenkurse, weil es in unserem Land ja keine privaten, börsennotierten Unternehmen gibt. Die Lage ist äußerst angespannt. Im Sommer hatte der Staat nicht mal genügend Geld, um den laufenden Betrieb der Fabriken zu gewährleisten. Anfang des Jahres brauchte Weißrussland noch 2 bis 3 Milliarden Euro, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Heute sprechen wir schon von 9 bis 10 Milliarden. Gut möglich, dass es im nächsten Jahr 15 bis 20 Milliarden sind. Wohl gemerkt nur, um die Lage zu stabilisieren. Um die Wirtschaft anzukurbeln, bräuchten wir noch mehr Geld."

Die große Frage ist, woher das Geld kommen soll. Russland ist bereit, Weißrussland billiges Öl und Gas zu liefern – jedoch nur, wenn Weißrussland im Gegenzug sein Pipeline-Netz an die russische staatlich-kontrollierte Gasprom verkauft. Im Sommer hat Russland Weißrussland – gemeinsam mit vier zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken – Kredite in Höhe von gut zwei Milliarden Euro zugesagt. Auch dafür verlangt Russland, dass Weißrussland Staatsbetriebe verkauft – und zwar vorzugsweise an russische Unternehmen. Lukaschenko jedoch hat jüngst statt russischer Unternehmer Investoren aus China ins Land geholt. In Minsk zum Beispiel bauen Chinesen das Fünfsternehotel "Peking". Lukaschenko wolle um jeden Preis Weißrusslands Unabhängigkeit gegenüber Russland wahren, meint Wladimir Matskjewitsch von "Eurobelarus".

"Lukaschenko hat lange davon geträumt, als Oberhaupt einer neuen Staatenunion in den Kreml einzuziehen. Er hat das als seine Mission gesehen: Eine Art Sowjetunion wieder herzustellen. Jetzt hat Putin diese Mission für sich entdeckt. Für Lukaschenko ist da kein Platz mehr. Deshalb hat er kein Interesse mehr an einer politischen Union, und er hat auch große Angst vor einer wirtschaftlichen Dominanz Russlands auf dem weißrussischen Markt. Denn er will die Kontrolle über die weißrussische Wirtschaft nicht verlieren."

Um sich gegenüber Russland zu behaupten, braucht Lukaschenko die Unterstützung der Europäischen Union. Die EU vermittelte Weißrussland im Jahr 2009 einen Kredit des Internationalen Währungsfonds über 3,5 Milliarden US-Dollar. Vorausgegangen war eine vorübergehende, leichte politische Liberalisierung in Weißrussland. Die EU stellte damals sogar weitere drei Milliarden Dollar für 2011 in Aussicht. Die Bedingung: Lukaschenko solle demokratische Wahlen zulassen. Das tat er aber nicht: Die Ergebnisse der Präsidentenwahl im Dezember 2010 wurden manipuliert. Bei anschließenden Massenprotesten wurden Hunderte Anhänger der Opposition verhaftet und Dutzende zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Zwei Präsidentschaftskandidaten sitzen bis heute im Gefängnis.

Von der EU braucht Lukaschenko so lange kein Geld zu erwarten, wie er sein Regime nicht lockert. Das haben die Staats- und Regierungschefs der EU Ende September bei ihrem Ostgipfel in Warschau klar gemacht. Sie fordern von Lukaschenko, alle politischen Gefangenen freizulassen. Wladimir Skworzow leitet die Analyseabteilung im weißrussischen Außenministerium. Sichtlich unter Druck bemüht er sich, die Linie seiner Regierung zu verteidigen.

"Das ist schon eine Frage der Terminologie. Was dort unter politischen Häftlingen verstanden wird. Bei uns sind diese Leute, die an diesen, sagen wir, Zuständen teilgenommen haben, an diesen Demonstrationen und so weiter, die eigentlich illegal waren und waren ziemlich spontan, obwohl da einige Organisationsarbeit vorbereitet wurde, deswegen werden die auch nicht als politische Häftlinge betrachtet."

Gleichwohl deutet Skworzow Gesprächsbereitschaft an.

"Auf jeden Fall soll das uns nicht daran hindern, zusammenzuarbeiten und Kontakte aufzubauen. Und wir sind natürlich über verschiedene Problemfälle bereit zu sprechen, wenn wir eigentlich als Partner angesehen werden."

Offenbar versucht Lukaschenko, den Preis für die Freilassung seiner politischen Gegner hochzutreiben.

Einer von denen, die kürzlich aus der Haft entlassen wurden, ist Alexander Atroschenkau. Der 30-Jährige wohnt in einer Minsker Hochhaussiedlung nicht weit vom Stadtzentrum. Vor den Häusern leuchten Blumen in kräftigen Herbstfarben, blau, gelb, violett. Alexander Atroschenkau war im Wahlkampf 2010 Pressesprecher des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Andrej Sannikau. Am Tag nach der Wahl wurde er verhaftet und zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach neun Monaten kam er frei.

"Weißrussland ist ein seltsames Land. Mir haben sie im KGB direkt gesagt: Sie sind lebende Ware, Sie sind unsere Geisel, wir werden Sie gegen Investitionen, gegen Kredite eintauschen. Der Westen ist mehrere Male in diese Falle getappt: Lukaschenko lässt einige politische Gefangene frei, bekommt dafür Geld, und sobald das Geld alle ist, nimmt er andere politische Gefangene."

Seine Frau Darja greift nach seiner Hand. Sie arbeitet für eine Menschenrechtsorganisation und hat all die Monate auf Atroschenkaus Freilassung hingewirkt. Sie erinnert an die Tage nach den Massenverhaftungen.

"Viele Leute kamen in das Büro unserer Organisation und brachten Geld, Zahnbürsten, Lebensmittel, Trinkwasser für die Gefangenen. Als ich auf dem Markt warme Kleidung für meinen Mann gekauft habe, haben mir die Verkäufer Preisnachlässe gewährt, als sie erfuhren, dass die Sachen für einen politischen Gefangenen sind. Einige haben mir die Sachen sogar geschenkt."

Es scheint: Je größer die wirtschaftliche Not, desto stärker wird auch die Solidarität mit den politischen Gefangenen und der Mut zum Protest. Im Sommer verabredeten sich Tausende Menschen via Internet zu Schweigekundgebungen.

"Die Aktionen im Sommer haben gezeigt, dass sich der Protest nicht mehr auf die politische Opposition beschränkt. An den Schweigekundgebungen haben Menschen teilgenommen, die früher niemals auf die Straße gegangen wären: junge Fabrikarbeiter, Rentner, Behinderte, einfache Leute. Sie protestierten nicht nur in Minsk, sondern in vielen Städten. Selbst in solchen, in denen es noch nie irgendwelche Aktionen gegeben hatte. Das macht mir große Hoffnung."

Die Hoffnung scheint - zumindest in Teilen - begründet.

"Rufe 'Zhivi belarus'"

Witebsk am 8. Oktober. Die Stadt mit etwa 300.000 Einwohnern liegt drei Autostunden östlich von Minsk nahe der russischen Grenze. Rund hundert Menschen haben sich in einem Innenhof zu einer Volksversammlung zusammengefunden. Sie fordern höhere Löhne, ein Ende der Inflation, Arbeitsplätze, die Freilassung der politischen Gefangenen. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass sich Unzufriedene in Witebsk versammeln. Dutzende Mitarbeiter der Staatsorgane umringen die friedliche Versammlung, filmen die Menschen. Beim Weggehen wird ein prominenter Teilnehmer verhaftet, angeblich wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung. Ähnliche Versammlungen finden an diesem Tag in 25 weiteren Städten statt, auch in Minsk. Insgesamt gehen mehrere Tausend Menschen auf die Straße.

Irina Jatskewitsch hat die Versammlung in Witebsk organisiert. Nun steht sie in ihrer Küche und belegt Weißbrotscheiben mit Salami. Auf dem Herd stapeln sich Pfannen und Töpfe, daneben Einmachgläser und Brottüten. Irina Jatskewitsch hat keine Zeit zum Aufräumen. Sie betreibt eine kleine Schneiderei. Schon seit drei Jahren versucht sie, eine Gewerkschaft für Einzelunternehmer zu gründen. Seit drei Jahren wird ihr das aus fadenscheinigen Gründen verwehrt.

"Wir sind ehemalige Ärzte, Produktionsleiter, Näher. Wir alle sind in den 90er-Jahren arbeitslos geworden. Uns wurde damals erlaubt, selbst für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Im letzten Jahr haben viele von uns ihr Geschäft verkleinert, und etwa ein Drittel hat dichtgemacht. Wegen der Krise."

Einige Organisatoren der Volksversammlungen am 8. Oktober wurden anschließend zu mehrtägigen Haft- beziehungsweise. Geldstrafen verurteilt. Trotzdem sollen am 12. November die nächsten Volksversammlungen stattfinden, im ganzen Land. Irina Jatskewitsch geht es nicht um einen Sturz der Regierung. Aber sie beklagt die Abgehobenheit der Volksvertreter. Die würden sich nicht im geringsten um ihre Wähler und Wahlbezirke kümmern.

"Unsere Abgeordneten müssen auf den Boden herunter kommen und sich die Höfe angucken, in denen sie gewählt wurden. Sie müssen Bürgersprechstunden einrichten, damit die Leute nicht die letzte Hoffnung verlieren, die sie noch haben: dass es einen Kompromiss und Dialog geben muss."

Lukaschenko indes ignoriert die Krise einfach. Anfang Oktober ließ er die Öffentlichkeit wissen: Ende des Jahres werde niemand mehr von der Krise sprechen.
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