Weitergereichte Menschen

Von Tobias Wenzel |
Mit "Mister Pip" wurde der neuseeländische Schriftsteller Lloyd Jones mit einem Schlag international bekannt. Was würde nach diesem von der Kritik wie von Lesern gefeierten Buch kommen? Die Antwort liefert Jones neuer, melancholischer Roman "Die Frau im blauen Mantel".
Lloyd Jones – stopplig geschorene graue Haare, markante Lachfalten auf der sonnengebräunten Haut - hat die Innenstadt von Wellington verlassen und fährt immer weiter bergauf. Eine kleine private Sightseeing-Tour der besonderen Art: Da vorne an der Kreuzung würden tektonischen Platten aufeinandertreffen, hier könnte irgendwann Mal das Epizentrum eines neuen Erdbebens liegen. Dort hinten im Park habe er sich einst als Absolvent der Politikwissenschaften mit den Kommilitonen in die Bewusstlosigkeit getrunken.

"Diese Brücke, die wir jetzt überqueren, war sehr beliebt bei Selbstmördern. Die sind dann von der Brücke gesprungen und auf der darunter liegenden Glenmore Street aufgeschlagen. Als ich Student war, lebte ich gleich gegenüber, und hörte dann manchmal nachts das entsprechende Geräusch und kurz darauf Polizeisirenen."

Mit einem Mal kippt der humorige Ton des 57-Jährigen in jene melancholisch-schlafwandlerische Stimmung, die in "Die Frau im blauen Mantel" herrscht, dem neuen Roman des wohl renommiertesten neuseeländischen Schriftstellers. Die Hauptfigur: eine afrikanische Frau. Niemand kennt ihren richtigen Namen oder ihre genaue Herkunft. Sie tritt von Tunesien ausgehend eine abenteuerliche Reise nach Berlin an, auf der Suche nach ihrem Kind, das der Vater nun mit einer anderen Frau teilt. Das Trampen im Lastwagen wird zur Pein. Der Fahrer nutzt seine Machtposition aus:

"Er nannte mich eine verlogene Hure. Ich war eine Hure. Warum sonst stand ich zu dieser nächtlichen Stunde an der Straße? Er schlug mir seinen Handrücken über den Mund. Er drohte, er würde mich vor einer Polizeistation raussetzen, wenn ich nicht tue, was man mir sagt. Er bot mir an, im Lastwagen zu bleiben, wenn ich meine Hand auf seinen Schoß legte." ("Die Frau im blauen Mantel", Seite 210)

Lloyd Jones legt seinen neuen Roman zur Seite. Am Rand eines Parks im Stadtteil Karori hat er haltgemacht. Von hier aus hat man einen grandiosen Blick ins Tal und auf die sinnlich geschwungenen Wälder. Jones sitzt im Gras, in seinem Rücken wuchernde Vegetation. Er müsste nur zwanzig Meter gehen – und stände im Urwald. Stattdessen erinnert er sich, wie ihm die Idee zu seinem neuen Roman kam:

"Das war einer dieser Augenblicke, in denen eine Romanfigur einfach aus der Zeitung hervortritt. Ich las einen Artikel über 26 afrikanische Flüchtlinge, die im Mittelmeer mit ihrem Boot gekentert waren. Ein Trawler hat sie dann aus dem Wasser gefischt. Der Besitzer des Boots wollte sie nicht haben, stattdessen nach Spanien bringen. Aber von dort wurde er wieder aufs Meer zurückgeschickt. Letztlich landeten die Menschen auf Lampedusa, im Flüchtlingslager. Und ich dachte beim Lesen: Was für eine Geschichte! Und dann sah ich plötzlich diese Frau vor meinem geistigen Auge, eine Frau, die nach Europa schwimmt."

Am Wasser beginnt die Geschichte: In einem Hotel in Tunesien arbeitet "Die Frau im blauen Mantel" als Zimmermädchen, hier wird sie von einem Mann geschwängert, der ihr später das Kind wegnimmt.

"Ich kannte diese Frau nicht. Aber da kam mir der Gedanke, ich könnte sie aus der Warte jener Menschen beschreiben, die auf sie treffen. Und diese Frau wäre dann eine Art Geheimcode über die Vorurteile und Gedanken der Menschen um sie herum. Und sie wäre die Verbindung zu all diesen unterschiedlichen Menschen, die sich aber wiederum gar nicht unbedingt kennen. Diese Frau würde also von einer Person zur nächsten gereicht und auch die Geschichte würde von einem Erzähler zum nächsten weitergereicht."

Der englische Originaltitel "Hand me down world" spielt auf dieses reale und erzählerische Weiterreichen der Afrikanerin an. Später im Roman kommt sie selbst zu Wort. Doch lange sieht sie der Leser nur durch die Augen anderer. "Die anderen sind die Hölle", schrieb Sartre einst und meinte: Wir sind verdammt zu dem Bild, das unser Umfeld in uns sieht. Geschickt hat Jones ganz im Sinne Sartres die Fäden seines neuen Roman gesponnen und macht aus dem naiven Leser einen immer vorsichtigeren Herantaster an die wahre "Frau im blauen Mantel". So wie die Frau lieblos herumgereicht wird in der Welt, scheint auch sie einen ihr zur Last gewordenen Papagei einfach nur weitergeben zu wollen. Da das nicht klappt, ertränkt sie ihn im Meer. Jedenfalls erzählt das ein anderes Zimmermädchen über sie:

"Als sie das Ruderboot hinausschob, blickte der Papagei sie augenrollend an, als hätte er ihren Entschluss wohl verstanden, sich aber entschieden, seine Würde über die Angst zu stellen. In der Nacht frischte der Wind auf. (...) Auch sie wurde von den klatschenden Wellen am Strand geweckt, döste aber wieder ein, ohne einen Gedanken an den Papagei. Beim zweiten Wachwerden war es noch früh. Kein Mensch war auf, als sie über das Hotelgelände ging. Sie fand das Ruderboot oben auf den Strand gezogen. Der Käfig war verschwunden. Etwas höher noch fand sie den klammen Körper des Papageis auf einer Schicht glimmender Palmblätter." ("Die Frau im blauen Mantel", Seite 13/14)

Ein Papagei stirbt bei stärker werdendem Wind. Auch am Rande des Urwalds auf einem der höchsten Punkte Wellingtons wird der Wind immer stärker. Der Radiojournalist bangt um die Aufnahmequalität. Lloyd Jones dagegen reagiert wie immer stoisch gelassen:

"Menschen empfinden den Wind als störend. Ich glaube, der Wind empfindet uns als störend."

Service:
"Die Frau im blauen Mantel" des neuseeländischen Autors Lloyd Jones erscheint am 1.8.2012 in der Übersetzung von Grete Osterwald im Rowohlt Verlag. Der Roman hat 316 Seiten und kostet 19,95 Euro. Im Oktober kommt Lloyd Jones nach Deutschland, wenn dann Neuseeland das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist.