Weiterleben mit dem Verrat

Christhard Läpple im Gespräch mit Katrin Heise |
Das System der Stasi beruhte auf einem Heer von Informanten, Zuträgern und freiwilligen Spitzeln. Einige von ihnen stellt der Journalist Christhard Läpple in seinem Buch "Verrat verjährt nicht" vor. Die meisten von ihnen hätten auf Anfragen mit aggressivem Abwehrverhalten reagiert, so Läpple. Bei vielen überwiege die Scham, denn "Verrat ist etwas sehr Unangenehmes".
Katrin Heise: Es war ein Heer von Informanten und Zuträgern, über das die Staatssicherheit der DDR verfügte. Am Arbeitsplatz in der Uni, im Freundeskreis, in der Familie, in der Partnerschaft wurden Informationen gesammelt, ob sie wichtig waren. Gut, darüber urteilte ja nicht mehr der Spitzel, er gab sie ja nur weiter. Das ist auch oft ein Teil der Entschuldigung. Aber es bleibt die Tatsache, es war Verrat, denn der Bespitzelte oder die Bespitzelte wusste ja nichts davon. "Verrat verjährt nicht", so heißt das Buch von Christhard Läpple, Journalist und seit Jahren stellvertretender Redaktionsleiter im ZDF. Ich grüße Sie, Herr Läpple!

Christhard Läpple: Ich grüße Sie auch.

Heise: Sie haben für eine ZDF-Dokumentation über die Stasi Tausende von Stasiakten gelesen. In Ihrem Buch haben Sie dann sechs bzw. sieben Lebensläufe herausgestellt. Da redet zum Beispiel der ehemalige Kunstprofessor, der die Künstlerszene auskundschaftete oder die überzeugte Lehrerin, die ihren Sohn im Ostteil zurückließ, um im Westen zu spitzeln, der Bruder, der seine Schwester bespitzelte. Was hat Sie von diesen ganzen Geschichten am meisten berührt?

Läpple: Am meisten unter die Haut geht dann schon die familiäre Geschichte, Bruder und Schwester, weil das ist fast schon wie in der antiken Tragödie. Der Bruder liebt seine Schwester. Beide wachsen in einem Kinderheim in der Nachkriegszeit auf. Und die Schwester verliebt sich 1961, kurz vor dem Mauerbau, in einen Neuköllner. Und Neukölln war damals in Westberlin. Und sie verlässt per Fluchthilfe '62 die DDR.

Diese Geschichte hat er seiner Schwester nicht verzeihen können. Sie sind gemeinsam aufgewachsen, haben gemeinsame Lieder gesungen, haben gemeinsam ihre Geschichten gehabt. Und als dann die Schwester in den 80er Jahren nach Ostberlin zurückkommt, an der Seite eines Journalisten, als Lebensabschnittsgefährtin, bekommt er den Auftrag, die Schwester auszuspionieren. Und dieser Kampf geht über viele Jahre.

Er geht sogar über die Wende hinaus, denn bei ihm war es dann so, dass er 1994/95 als einer der wenigen Spitzel ein Verfahren bekommt wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit. Das heißt, Bruder und Schwester rangen miteinander. Und in Familien kennt man sich ja sehr gut, weiß man auch, wo die verletzbaren Stellen sind.

Heise: In diesem Fall, in dieser Geschichte geht es quasi, wenn mal in der Terminologie bleiben will, um doppelten Verrat. Und der Bruder hat ja seiner Schwester quasi auch Verrat am "guten" DDR-System vorgeworfen. Und er wiederum begeht natürlich Verrat am Vertrauen der Schwester. Es ist interessant, dieser Verrat. Das ist das, was Sie am meisten auch interessiert hat, wie damit umgegangen wird?

Läpple: Ja, das ist die doppelte Form. Es gibt vielfältige Formen. Wir wissen das ja in der Menschheitsgeschichte seit dem Alten Testament. Judas ist einer der bekanntesten Figuren, in der Weltliteratur bei Shakespeare, Schiller, überall spielt der Verrat eine zentrale Rolle. Was im 20. Jahrhundert, was im Kalten Krieg die besondere Funktion des Verrates war, dass man diesen Verrat legitimiert hatte. Der Staat hatte dazu aufgefordert, die Menschen zu verraten. Das hieß natürlich nicht so, sondern die Republik zu schützen, vor Feinden zu schützen. Das Dumme ist nur, dass der politische Verrat, der gefordert und gefördert wurde, ja immer auch einen persönlichen mit sich zieht. Und das bleibt dann.

Heise: Das bleibt. Und das wollte ich Sie gerade fragen. Wie verkraftet man eigentlich dieses Doppelleben? Sie haben da ja verschiedenste Menschen kennengelernt. Was bedeutet das für das eigene Ich? Da gibt es ja dann im Charakter irgendwann wahrscheinlich so eine Abspaltung?

Läpple: Es mag sicherlich Menschen geben, die das ganz cool mit sich herumtragen, so Superagenten. Ich habe aber keinen davon getroffen. Die meisten fasst es sehr an. Viele versuchen, hartnäckig und aggressiv zu schweigen, versuchen, das Geheimnis mitzunehmen. Aber es gibt dann immer wieder Botschaften. Der Körper zum Beispiel. Zwei meiner vier oder fünf Informanten, die in dem Buch beschrieben werden, da hat der Körper mit einem Schlaganfall reagiert. Einer sagt offen: Es war die Spaltung meiner Person, ich musste mich ja ständig tarnen. Es ist ja sehr anstrengend, Agent zu sein. Man darf die Namen nicht durcheinanderbringen. Man muss wissen, in welcher Rolle man gerade steckt, welche Rolle man gerade spielt, und das über viele Jahre. Und nach 1990 hatte man immer die Angst vor Entdeckung und Enttarnung.

Heise: Sind Sie eigentlich auch Menschen begegnet, die schon, bevor Sie mit Ihnen gesprochen haben oder bevor irgendein Verfahren an Sie herangetragen wurde, die mit ihrem Doppelleben in die Öffentlichkeit gegangen sind?

Läpple: Nein. Absolut nein.

Heise: Immer muss es von außen oder immer war es von außen die Enttarnung sozusagen?

Läpple: Ja, das liegt sicherlich daran, dass, man sagt ja im Deutschen auch gerne dieses Sprichwort "Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter". Und Verrat ist etwas sehr Unangenehmes. Es ist etwas, was einen selber sehr peinlich berührt. Es mag bei vielen sicher Scham sein, einfach Scham. Es gibt aber auch andere Gründe. Es gibt Motive wie Trotz. Ich habe Leute erlebt, die gesagt haben, die DDR lebt für mich immer noch im Herz. Es war in Ordnung. Es war nicht schön, aber es war in Ordnung. Und dann gibt es natürlich die größte Gruppe, diejenigen, die aus opportunistischen Gründen diesen Job angetreten haben.

Ich sage jetzt mal bewusst Job, weil es hat natürlich Karrieresprünge ergeben und eine meiner Ergebnisse ist auch, dass Verrat sich lohnt. Spitzeln lohnt sich. Man kann damit sozialen Aufstieg nehmen, jedenfalls in den Formen der DDR. Die Reise, das Auto, das Privileg, den Vorsprung vor anderen.

Heise: Wobei zum Beispiel der Bruder und Schwester, die wir ja vorhin erwähnten, der ist weder aufgestiegen, noch sonst irgendwas. Aber das war für ihn trotzdem in Ordnung, weil es ja eben für das System war?

Läpple: Der Staat hat ihn gefordert, hat gesagt, du musst was für dein Land tun und deine Schwester arbeitet für diejenigen, die unseren Staat abschaffen wollen. Deswegen musst du zur Seite stehen. Und dann kam er.

Heise: Der Journalist Christhard Läpple über Spitzeldienste im Namen der Staatssicherheit der DDR. Für manche, das haben wir ja gesagt, war es auch zum Teil das erste Mal, über das Doppelleben zu sprechen, nämlich mit Ihnen zum ersten Mal darüber zu sprechen. Als Beispiel die Lehrerin, die in Leipzig gelebt hat, in den Westen gegangen ist, um dort andere anzuwerben eigentlich für das DDR-System. Sie ist noch zu DDR-Zeiten ausgestiegen, sie ist '88 aus dem Ganzen ausgestiegen, ist damit nicht mehr fertig geworden, aber hat ihr Leben niemals offengelegt, dieses Doppelleben, selbst ihrem Sohn, den sie damals zurücklassen musste, nicht. Wie haben Sie sie zum Sprechen gebracht?

Läpple: Eigentlich hatte ich nur eine einzige Chance. Die einzige Chance bestand darin, dass ich mit einem gewissen Informationsvorsprung, ich hatte in ihrem Fall, bei Tanja, die jetzt in einer norddeutschen Großstadt lebt, die Akte. Die Akte war sehr umfangreich, eine hochspannende Biografie, eine Frau, die aus Überzeugung in die Bundesrepublik wie eine Mata Hari eingeschleust wurde, die in Bonn angedockt hat, mit sehr viel prominenten Menschen zu tun hatte. Die einzige Chance, die ich hatte, war ihr anzubieten, dass sie sich freimachen kann. Denn darüber zu reden, ist der erste Schritte einer Befreiung.

Dieses Angebot hat sie eine Woche lang sich sehr überlegt und dann ist etwas passiert, was sehr untypisch war. Sie hat ihren gesamten Freundeskreis und Verwandtenkreis abtelefoniert und hat ihnen gesagt, ich war bei der Staatssicherheit und hat sich dann auf das Gespräch eingelassen. Sie ist sicherlich die Ausnahme.

Heise: Ja, wollte ich gerade fragen. Ist sie die Ausnahme?

Läpple: Ja. Absolut, absolut, absolut.

Heise: Sie sagen, es ist wie eine Befreiung. Hat sie das auch so empfunden?

Läpple: Ich denke ja, ich kann ja nicht in sie reinschauen. Ich weiß nur, wie sie reagiert hat. Ich habe ja mit vielen zu tun gehabt, und die häufigste Reaktion war ein sehr aggressives Abwehren. Viele haben mit dem Anwalt gedroht oder haben Anwälte sofort eingeschaltet. Das gilt natürlich vor allem für Leute, die noch in hohen Funktionen sind, die auch kennengelernt habe, bei denen überhaupt keine Bereitschaft war zu reden.

Heise: Was sie dann aber auch nicht offengelegt haben. Das würde mich mal interessieren, Sie kommen aus dem Westen, hat das eigentlich eine Rolle gespielt? Der Westler, der uns hier wieder vor Augen führen will?

Läpple: Ja natürlich. Das ist ja ein großes Problem für viele Ostdeutsche und wir haben ja momentan ein Comeback von DDR, das ist unglaublich. Das hängt sicherlich auch für mich mit dem falschen Zungenschlag der Stasidebatte der letzten Jahre zusammen. Das heißt, es ist nicht mehr wichtig, ob jemand, der heute in einer Funktion ist oder heute 50 ist, mit 23 oder 24 gespitzelt hat.

Sondern wichtig ist, warum sich Leute heute mit anderen Spitzeln solidarisieren. Was ist da passiert? Ich wurde natürlich oft damit konfrontiert, dass man mir sagte: Das verstehst du nicht, das war ein anderes Land, das war ein anderes System und es war eine andere Gesellschaft, und dass dadurch erst mal eine gewisse Abwehr erreicht worden ist.

Heise: Was wollten Sie eigentlich? Wollten Sie anklagen oder wollten Sie einfach zeigen, was gewesen ist? Im Untertitel heißt es "Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land". Was wollen Sie damit, mit Ihrem Buch?

Läpple: Auf keinen Fall anklagen, weil dieser Weg der letzten 15 Jahre ist sicherlich kein glücklicher Weg gewesen. Es ist natürlich so bei einer so großen Umgestaltung. Wir dürfen nicht vergessen, über zweieinhalb Millionen Menschen haben inzwischen ihre Akte eingesehen. Das ist praktisch… fast in jede Familie geht dieses Gift hinein.

Wir haben folgende Situation: Die Staatssicherheit ist seit 20 Jahren entmachtet, aber das Gift wirkt weiter. Die Akten sind seit 15 Jahren offen, aber die meisten, die darin vorkommen, sind verschlossen. Das heißt, woran liegt das, das war meine Frage, und außerdem sind es hochgradig spannende Geschichten, wo einem fast sich die Härchen aufstellen, weil so viel an Dramatik da drin ist, Menschen, die versucht haben, etwas zu bewegen oder auch nicht zu bewegen und die dann mit anderen in Konflikte geraten.

Heise: Das heißt, Sie wollen die Chance eröffnen zu sprechen, aber auch zuzuhören?

Läpple: Wir brauchen ganz dringend in diesem Land eine zweite Öffnung. Wir brauchen die Öffnung der Menschen. Wir haben jetzt die Akten geöffnet und wir merken jetzt, dass es nicht mehr so weitergeht, weil die DDR erlebt, wie gesagt, ein großes Comeback. Es ist offensichtlich ein Wunsch, eine Sehnsucht vieler Menschen in Ostdeutschland da, dieses Land als kleines putziges Land mit Vollbeschäftigung zu sehen, das sozial gerecht war.

Heise: Mit sozialem Netz.

Läpple: Aber das ist eben auch nicht die ganze Geschichte. Ich sage, in der DDR war nicht alles Stasi. Aber, und das ist eben auch die traurige Wahrheit, ohne Stasi war alles nichts.

Heise: Das Buch "Verrat verjährt nicht- Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land" ist erschienen bei Hoffmann und Kampe. Dem Autor und Journalisten Christhard Läpple danke ich recht herzlich für Ihren Besuch. Vielen Dank, Herr Läpple!

Läpple: Danke Ihnen!
Christhard Läpple: Verrat verjährt nicht
Christhard Läpple: Verrat verjährt nicht© Hoffmann und Campe
Mehr zum Thema