Weiterleben nach dem Schulmassaker
In rund vier Wochen jährt sich der Amoklauf von Littleton/Colorado, zum zehnten Mal. Damals töteten die 18-jährigen Schüler Eric Harris und Dylan Klebold 13 Menschen an der Columbine Highschool. Die Überlebende Crystal Woodman Miller wählte einen Lebensweg , den sie in einem simpel klingenden Satz so zusammenfasst: "Kümmere Dich um die Not der anderen, dann wird Deine eigene kleiner."
Die 16-jährige Crystal Woodman Miller sitzt nach einer Partynacht verschlafen im Mathe-Unterricht, klickt im Computer das Chatroom-Fenster ihres Freundeskreises an und liest: "20. April 99. Ihr werdet Euch noch wünschen, Ihr wärt heute nicht hier. Eric und Dylan." Ach, die beiden Angeber wieder, denkt Crystal und geht zur nächsten Stunde in die Schulbibliothek.
Plötzlich stürzt eine Lehrerin herein: "Da sind Jungs mit Pistolen!" schreit sie, "los, unter die Tische, sofort, sofort" Ihre Stimme überschlägt sich, ihr Gesicht ist weiß wie ein Laken.
Hinter ihr taumelt ein Schüler in die Bibliothek, der seine rechte Hand gegen die linke Schulter presst. Blut sickert durch sein T-Shirt, er sackt zu Boden, wir schreien auf. Mr. Long steht in der Tür: "Raus hier, raus hier, lauft, lauft!" Na was denn nun, denke ich noch, da schrillt der Feueralarm los, Rauch dringt aus dem Flur herein, ich höre Schüsse, Glas splittern, Kinder schreien. Mein Freund Seth zieht mich zu Boden, wir kauern uns unter den Tisch, da sehe ich die Füße eines Jungen auf uns zukommen. "Alle Sportler, aufstehen !" brüllt er.
Es ist Eric Harris. Er hat eine Art Maschinengewehr dabei. Ich hyperventiliere, der Rauch verursacht Hustenreiz, mir wird übel vor Angst. Ein zweiter Junge, es muss Dylan Klebold sein, beschimpft Isaiah, den besten Footballspieler unserer Klasse. Es knallt furchtbar laut und Eric fragt : "Ist er tot ?" "Ja, tot" sagt der andere. Sie haben eben Isaiah erschossen? Mir wird übel vor Angst. Ein umstürzender Stuhl streift mich. Unter dem Tisch neben uns beginnt ein Mädchen, laut weinend zu beten. Ich hoffe inständig, dass die immer noch gellende Klingel des Feueralarms sie übertönt und die Mörder sie nicht bemerken.
Beide stehen jetzt wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Lieber Gott, mach uns unsichtbar, absolut unsichtbar! bete ich, da rennen beide plötzlich zur Tür, es gibt einen ohren betäubenden Krach, irgendetwas Schweres stürzt um, und dann nichts mehr. Stille. Völlige Ruhe.
"Als wir rausrannten, empfingen uns Polizisten und wollten uns beruhigen : Alles in Ordnung, nein, niemand ist tot, wir haben alles im Griff. Sie holten Papiere raus, protokollierten unsere Zeugenaussagen und korrigierten uns, wie es wirklich gewesen wäre. Mich erfasste eine verzweifelte Wut, denn während sie in kugelsicheren Westen hier draußen herumgestanden hatten, kauerten wir da drinnen hilflos und schutzlos unter den Tischen."
Noch heute, zehn Jahre später, erstaunt es Crystal Woodman Miller, dass nicht zuerst die Trauer, sondern der Zorn, das Schuldgefühl und die Scham ihre vorherrschenden Gefühle waren.
"Ich erlebte Gefühle, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Ärger, dessen ich mich schämte. Warum habe ausgerechnet ich überlebt und meine Freunde wurden ermordet ? Ich empfand Scham und Schuld :Warum bin ich einfach panisch rausgerannt, an Toten und Verletzten vorbei und über sie hinweg, nur um möglichst schnell ins Freie zu kommen? Das ist das schlimmste Schuldgefühl: Warum habe ich nicht geholfen, warum war ich so egoistisch?"
Als sich sieben Monate später ihr Mitschüler Greg Barnes in der Garage erhängte, weil sein Basketballtrainer und Sportlehrer Dave Sanders vor seinen Augen verblutet war, ohne dass er es verhindern konnte - da entschloss sich Crystal Woodman Miller zu einem radikalen Schritt:
Sie durchlief eine dreijährige Trauma-Therapie, hielt ihre Erinnerungen an jenen Tag minutiös schriftlich fest, wurde Schulsprecherin, blieb auch nach ihrem Abitur Tutorin für jüngere Schüler und - reiste im September 2004 mit einer kirchlichen Hilfsorganisation nach Beslan im Kaukasus, wo tschetschenische Islamisten 1200 Kinder als Geiseln genommen und 396 von ihnen getötet hatten.
"Ich habe in Beslan unsagbaren, unvorstellbaren Horror gesehen. Menschen, die in Schmerz, Armut und Krankheit weiterleben müssen, und deren Leid wir nur materiell lindern konnten. Meine eigene Tragödie dauerte siebeneinhalb Minuten in der Schulbücherei. Die Tragödie der Eltern von Beslan dauert an. Dagegen ist meine therapeutische Reise durch den Verlustschmerz ein Klacks, auch wenn ich jahrelang mit Albträumen zu tun hatte."
Im Januar 2005 flog Crystal Woodman Miller als Katstrophenhelferin nach Aceh in Indonesien zur Erstversorgung von Tsunami-Opfern. Heute, mit 26, ist sie verheiratet, lebt in Egmont/Oklahoma, hält Vorträge in Schulen und Kirchen gegen das liberale Waffengesetz der USA, gegen Killerspiele im Kinderzimmer und für mehr gemeinsame Verantwortung in Familien, Schulen und Nachbarschaften. Ja, sagt sie, das Schulmassaker von Columbine hat sie zu einer Sozial-Aktivistin gemacht, deren innerer Heilungsprozess durch ihren christlichen Glauben sehr gefördert wurde. Auch wenn der Schrecken vom 20. April 1999 noch lange wieder hochkommen konnte:
"Gewehre nur zu sehen, Feuerwerkskracher und Schüsse in Filmen zu hören oder auch nur der Geruch, wenn jemand eine Kerze anzündet oder ausbläst – alles konnte bei mir sofort diese Angst auslösen. Es riecht für mich immer wie damals in der Bibliothek und macht mir Angst, der Heilungsprozess gehe wieder ganz von vorne los."
Plötzlich stürzt eine Lehrerin herein: "Da sind Jungs mit Pistolen!" schreit sie, "los, unter die Tische, sofort, sofort" Ihre Stimme überschlägt sich, ihr Gesicht ist weiß wie ein Laken.
Hinter ihr taumelt ein Schüler in die Bibliothek, der seine rechte Hand gegen die linke Schulter presst. Blut sickert durch sein T-Shirt, er sackt zu Boden, wir schreien auf. Mr. Long steht in der Tür: "Raus hier, raus hier, lauft, lauft!" Na was denn nun, denke ich noch, da schrillt der Feueralarm los, Rauch dringt aus dem Flur herein, ich höre Schüsse, Glas splittern, Kinder schreien. Mein Freund Seth zieht mich zu Boden, wir kauern uns unter den Tisch, da sehe ich die Füße eines Jungen auf uns zukommen. "Alle Sportler, aufstehen !" brüllt er.
Es ist Eric Harris. Er hat eine Art Maschinengewehr dabei. Ich hyperventiliere, der Rauch verursacht Hustenreiz, mir wird übel vor Angst. Ein zweiter Junge, es muss Dylan Klebold sein, beschimpft Isaiah, den besten Footballspieler unserer Klasse. Es knallt furchtbar laut und Eric fragt : "Ist er tot ?" "Ja, tot" sagt der andere. Sie haben eben Isaiah erschossen? Mir wird übel vor Angst. Ein umstürzender Stuhl streift mich. Unter dem Tisch neben uns beginnt ein Mädchen, laut weinend zu beten. Ich hoffe inständig, dass die immer noch gellende Klingel des Feueralarms sie übertönt und die Mörder sie nicht bemerken.
Beide stehen jetzt wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Lieber Gott, mach uns unsichtbar, absolut unsichtbar! bete ich, da rennen beide plötzlich zur Tür, es gibt einen ohren betäubenden Krach, irgendetwas Schweres stürzt um, und dann nichts mehr. Stille. Völlige Ruhe.
"Als wir rausrannten, empfingen uns Polizisten und wollten uns beruhigen : Alles in Ordnung, nein, niemand ist tot, wir haben alles im Griff. Sie holten Papiere raus, protokollierten unsere Zeugenaussagen und korrigierten uns, wie es wirklich gewesen wäre. Mich erfasste eine verzweifelte Wut, denn während sie in kugelsicheren Westen hier draußen herumgestanden hatten, kauerten wir da drinnen hilflos und schutzlos unter den Tischen."
Noch heute, zehn Jahre später, erstaunt es Crystal Woodman Miller, dass nicht zuerst die Trauer, sondern der Zorn, das Schuldgefühl und die Scham ihre vorherrschenden Gefühle waren.
"Ich erlebte Gefühle, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Ärger, dessen ich mich schämte. Warum habe ausgerechnet ich überlebt und meine Freunde wurden ermordet ? Ich empfand Scham und Schuld :Warum bin ich einfach panisch rausgerannt, an Toten und Verletzten vorbei und über sie hinweg, nur um möglichst schnell ins Freie zu kommen? Das ist das schlimmste Schuldgefühl: Warum habe ich nicht geholfen, warum war ich so egoistisch?"
Als sich sieben Monate später ihr Mitschüler Greg Barnes in der Garage erhängte, weil sein Basketballtrainer und Sportlehrer Dave Sanders vor seinen Augen verblutet war, ohne dass er es verhindern konnte - da entschloss sich Crystal Woodman Miller zu einem radikalen Schritt:
Sie durchlief eine dreijährige Trauma-Therapie, hielt ihre Erinnerungen an jenen Tag minutiös schriftlich fest, wurde Schulsprecherin, blieb auch nach ihrem Abitur Tutorin für jüngere Schüler und - reiste im September 2004 mit einer kirchlichen Hilfsorganisation nach Beslan im Kaukasus, wo tschetschenische Islamisten 1200 Kinder als Geiseln genommen und 396 von ihnen getötet hatten.
"Ich habe in Beslan unsagbaren, unvorstellbaren Horror gesehen. Menschen, die in Schmerz, Armut und Krankheit weiterleben müssen, und deren Leid wir nur materiell lindern konnten. Meine eigene Tragödie dauerte siebeneinhalb Minuten in der Schulbücherei. Die Tragödie der Eltern von Beslan dauert an. Dagegen ist meine therapeutische Reise durch den Verlustschmerz ein Klacks, auch wenn ich jahrelang mit Albträumen zu tun hatte."
Im Januar 2005 flog Crystal Woodman Miller als Katstrophenhelferin nach Aceh in Indonesien zur Erstversorgung von Tsunami-Opfern. Heute, mit 26, ist sie verheiratet, lebt in Egmont/Oklahoma, hält Vorträge in Schulen und Kirchen gegen das liberale Waffengesetz der USA, gegen Killerspiele im Kinderzimmer und für mehr gemeinsame Verantwortung in Familien, Schulen und Nachbarschaften. Ja, sagt sie, das Schulmassaker von Columbine hat sie zu einer Sozial-Aktivistin gemacht, deren innerer Heilungsprozess durch ihren christlichen Glauben sehr gefördert wurde. Auch wenn der Schrecken vom 20. April 1999 noch lange wieder hochkommen konnte:
"Gewehre nur zu sehen, Feuerwerkskracher und Schüsse in Filmen zu hören oder auch nur der Geruch, wenn jemand eine Kerze anzündet oder ausbläst – alles konnte bei mir sofort diese Angst auslösen. Es riecht für mich immer wie damals in der Bibliothek und macht mir Angst, der Heilungsprozess gehe wieder ganz von vorne los."