Welche Religion braucht die Gesellschaft?

Von Reinhard Kreissl |
Die "Umwelt" wird zunehmend zur Ersatzreligion des modernen Menschen. Aus ihr werden ethisch-moralische Glaubenssätze abgeleitet. Das Ökologische droht mit Weltuntergang im Falle von Übertretung der Gebote, es ermöglicht den Ablasshandel an der grünen Tonne im Hinterhof, es erleichtert die Identifikation von Freund und Feind.
Ein großer Spötter hat einmal gesagt, Religion sei Opium für das Volk. Sie wirkt wie ein beruhigendes Nervengift, das eine schöne Welt jenseits des Alltags vorgaukelt. Sie werde überflüssig, wenn das Paradies auf Erden erschaffen sei.

Wenn dem so ist, dann könnte man die neu erwachte Religiosität als ein Zeichen deuten: Das irdische Paradies ist heute weiter weg denn je. Die Welt ist kalt und trivial, mechanisch und unmenschlich, unüberschaubar und zwecklos. Es fehlt die Wärme und der Schauder, die Nähe und auch das Geheimnis. Alles ist ohne Sinn und ob es ein Leben im Jenseits gibt, ob dort wirklich das Paradies auf uns wartet – das weiß keiner und glauben immer weniger.

Bizarre Auswüchse neu erwachter Religiosität liefern den Kitt im brüchig werdenden Weltbild. Fundamentalisten im Westen wie im Osten richten den Blick ins Jenseits, hoffend auf den göttlichen Funken, der sie aus dem Jammertal erlösen und das Feuer der wahren Religion wieder entzünden möge. Ob iranische Mullahs oder amerikanische Kreationisten – ihnen allen eignet ein religiöser Eifer, der seit dem Erlöschen der letzten Scheiterhaufen für verurteilte Ketzer verschwunden schien.

Doch der abschätzig abgeklärte Blick des aufgeklärten Bürgers auf jene, die das Schwert des wahren Glaubens gegen die Ungläubigen schwingen, trügt. Auch die säkularisierten Zivilgesellschaften entwickeln religiöse Ersatzformen, die einen ähnlichen Furor zu entzünden vermögen. Es gibt moderne säkulare Religionskriege im Westentaschenformat vor der eigenen Haustüre und ebenso wie es dem wahren Gläubigen nie in den Sinn käme, an der Gültigkeit und Wahrheit seines Glaubens zu zweifeln, so verbietet sich jede Kritik an den Glaubenssätzen der neuen Zivilreligionen.

Sie sind Bestandteil eines nichtverhandelbaren Kerns an spätmodernen Ungewissheiten, sie leiten das Handeln an und wer gegen ihre Gebote verstößt, der gilt als Ketzer, dem drohen Ächtung und Strafe. Wer aber besetzt die leer gewordene Stelle eines zwar entrückten, aber dennoch allgegenwärtigen Gottes im Jenseits, wer übernimmt die Aufgabe dessen, der alles bewegt und den Anfang aller Dinge darstellt?

Unser Gott ist die Umwelt, das Ökosystem. Greenpeace und Robin Wood gehen als missionierende Orden mit der Apokalypse hausieren und der Umweltminister sorgt für die Einhaltung der zehn Gebote der Mülltrennung. Die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Diesseits und Jenseits verläuft heute nicht mehr zwischen Gott und den Menschen, sondern zwischen Gesellschaft und Umwelt, zwischen dem Sozialen und dem Natürlichen.

Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der neu erstandenen Massenreligiosität in Amerika und der mangelnden Unterstützung für Belange des Umweltschutzes. Wenn die Flut über Florida hereinbricht, greift man zur Bibel und nicht zum Kyoto-Protokoll.

Der heute allgegenwärtige Begriff der Umwelt existierte vor vierzig Jahren noch nicht. Die Vorstellung, dass das, was wir heute so nennen, sowohl bedroht, als auch bedrohlich sein kann, ist neueren Datums. Galt die Pest im Mittelalter als Geisel Gottes, so ist die Vogelgrippe heute ein Menetekel der Zerstörung natürlicher, umweltgerechter Lebensformen durch den neuen Sündenfall rücksichtsloser Globalisierung.

Moderne Apokalypsen strahlen im Licht der menschlichen Ursünde – die Überschreitung des Grenzwerts. Kluge Strategen des Religionsmarketing sehen hier ihre Chance. Man kann den Schöpfer und seine Schöpfung geschickt grün schillern lassen. Kirchentage werden dann mit "Jute statt Plastik"-Parolen aufgepeppt und das Überleben der bedrohten Vogelarten wird als Petitum ins Nachtgebet aufgenommen.

Als Quelle von Moral und Ethik, von Regeln und Vorschriften für das richtige Leben im Glauben eignet sich das Ökologische allemal. Es droht mit Weltuntergang im Falle von Übertretung der Gebote, es ermöglicht den Ablasshandel an der grünen Tonne im Hinterhof, es erleichtert die Identifikation von Freund und Feind und es erzeugt bei den Gläubigen jene Gewissensbisse, die schon den christlichen Konfessionen zur Disziplinierung ihrer Schäfchen dienten.

Man könnte den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie wie eine Art Investiturstreit interpretieren – Profit gegen Umweltschutz wiederholen das Drama der Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser, zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Wer hat das letzte Wort, was ist der höchste Wert: Arbeitsplätze oder gesunde Luft?

Der leider misslungene Geniestreich der Grünen war die Verbindung von beiden. Statt protestantisch Verzicht zu predigen, sollte ökologisch korrekt modernisiert und umweltverträglich konsumiert werden. Frische Ware mit Ökosiegel hätte den Aufschwung bringen sollen. Aber die Predigt hatte nicht genügend Resonanz. Vielleicht lag es auch am Personal: Trittin als Savognarola des Dosenpfands, Künast als Jean d’Arc BSE-verseuchter Schlachthöfe waren dann vielleicht doch zu radikal.

Aber die Botschaft wirkt. Apokryphe Maßzahlen ökologischer Korrektheit, Feinstaubfilter und Smogalarm mobilisieren immer wieder Medien und Massen und die Vorstellung vom Paradies, in dem der Mensch im Einklang mit der Natur lebt, wird bis zum Jüngsten Tag von den Prospekten der Tourismusindustrie bebildert, die den ökologisch korrekten Cluburlaub schon mal als Musterwohnung im Shangri-La ins Programm aufgenommen haben.


Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".