Allein, dass das als Paradox bezeichnet wird, ist eigentlich auch schon wieder eine Wertung aus der Außenperspektive. Wir müssen unsere Urteile revidieren – wir müssen uns anschauen: Was sagen denn Menschen mit schweren Beeinträchtigungen über den Lebenswert ihres Lebens? Man muss die subjektiven Äußerungen viel ernster nehmen, als das gemeinhin getan wird.
Was macht ein Leben lebenswert?
Objektive Kriterien für ein lebenswertes Leben lassen sich nicht finden, meint Barbara Schmitz – denn auch Menschen mit großen Einschränkungen sagten oft: „Ich lebe gern“. © imago / Panthermedia
"Wir müssen die Innensicht ernst nehmen"
27:10 Minuten
Ein Leben mit unerträglichen Schmerzen oder in großer Abhängigkeit – das sei nicht lebenswert, glauben viele. Viele Menschen mit Einschränkungen sehen das anders, weiß die Philosophin Barbara Schmitz und fordert, ihnen besser zuzuhören.
Was ein gutes Leben ausmacht oder ein glückliches, das sind nicht nur klassische Fragen der Philosophie, sondern auch solche, die uns regelmäßig im Alltag beschäftigen. Aber was macht ein Leben lebenswert? Darüber denken wir eher selten nach – meist erst dann, wenn wir oder uns nah stehende Menschen mit einer Behinderung, einer Demenzerkrankung oder einer Depression konfrontiert sind.
Die Philosophin Barbara Schmitz hat der Frage ihr jüngstes Buch „Was ist ein lebenswertes Leben?“ gewidmet. Darin stützt sie sich nicht nur auf persönliche Erfahrungen – die Geburt ihrer Tochter mit einer geistigen Behinderung und den Suizid ihrer Schwester – sondern hat auch ausführliche Gespräche mit anderen Betroffenen geführt.
Lebenswertes Leben hat keine objektive Grenze
Obwohl wir uns die Frage selten explizit stellen, tragen wir alle, oft unbewusst, bestimmte Vorstellungen oder Bilder vom lebenswerten Leben mit uns, sagt Schmitz. Das beobachte sie etwa bei Besucherinnen und Besuchern in Einrichtungen für Menschen mit starken Einschränkungen, die zum Beispiel nicht mehr selbstständig essen oder kaum noch sprechen könnten.
Da käme es schnell zu leisem Raunen: „Das ist doch wirklich kein lebenswertes Leben mehr.“ Im Gespräch mit den Betroffenen selbst habe sie hingegen meist gehört: „Ich lebe gern.“
Auch repräsentative Studien, die mit Betroffenen des Locked-in-Syndroms geführt wurden, kämen zu dem Ergebnis, dass 90 Prozent der Befragten, ihr Leben als lebenswert empfänden. Das Locked-in-Syndrom ist eine Krankheit, bei der die kognitiven Fähigkeiten völlig erhalten bleiben, man aber fast vollständig gelähmt ist, man also im eigenen Körper eingeschlossen ist und kaum noch mit der Außenwelt interagieren kann.
Der Vorsitzende der Locked-In-Selbsthilfegruppe habe ihr das folgendermaßen erklärt: „Wenn man Locked-In hat, wird einem alles genommen, alle Fähigkeiten, die man hatte – und dann erkennt man, welchen Wert das Leben selbst hat.“
Dieser Widerspruch zwischen Außen- und Innenperspektive werde in der Philosophie als „Behinderungsparadox“ bezeichnet – Schmitz hält diese Bezeichnung jedoch für fragwürdig.
Darin sieht Schmitz, Privatdozentin an der Uni Basel, auch ein Mittel gegen die größte Gefahr bei diesem Thema: Mit der Frage nach dem lebenswerten Leben tauche unwillkürlich auch die Frage nach dem „lebensunwerten“ Leben auf. In den Euthanasie-Programmen der Nationalsozialisten wurden Hunderttausende ermordet, weil ihr Leben als „lebensunwert“ eingestuft wurde. Das mache deutlich, dass sich Versuche, objektive oder allgemeingültige Kriterien des lebenswerten Lebens zu bestimmen, verböten.
Autonomie und Verletzbarkeit zusammendenken
Unsere gesellschaftlichen Vorstellungen vom lebenswerten Leben hängen auch mit unserer Auffassung von Autonomie zusammen, sagt Schmitz: Wir neigten dazu, Autonomie und Unabhängigkeit als höchsten Wert zu begreifen, als „Trumpfkarte“. Auch Immanuel Kant etwa mache die Autonomie zur Grundlage für die menschliche Würde – schließe damit aber zahlreiche Menschen von dieser Würde aus. Für die Frage des lebenswerten Lebens führe das in die Irre, ist Schmitz überzeugt.
Von Menschen mit Einschränkungen hingegen könnten wir lernen, Autonomie stärker mit Verletzbarkeit zusammen zu denken – und, dass Würde mit unserer Bedürftigkeit zusammenhängt: „Wären wir wirklich nur autonom, bräuchten wir keine Würde. Würde beschreibt immer auch einen Schutzanspruch.“ Auf dieser Grundlage könnten wir Menschen mit Einschränkungen besser einbinden – „und letztlich haben wir alle Einschränkungen“, meint Schmitz.
Die Aufgabe der Philosophie sieht sie darin, einseitige Denkmuster und Bilder vom lebenswerten Leben zu entlarven. Ein lebenswertes Leben zu ermöglichen sei letztlich eine gesellschaftliche Aufgabe: „Die ganzen Bilder sind gesellschaftlich geprägt, aber auch alle Bedingungen für ein lebenswertes Leben schafft die Gesellschaft.“
(ch)
Barbara Schmitz: „Was ist ein lebenswertes Leben? Philosophische und biographische Zugänge“
Reclam Verlag, Ditzingen 2022
192 Seiten, 16 Euro