Reihe "Wer ist Wir? Von Menschen und Anderen"
"Wir", wer ist das eigentlich – wie eng oder weit fassen wir diese kollektive Selbstbezeichnung? Und gehören nur Menschen dazu oder auch andere Wesen? In Sein und Streit begeben wir uns diesen Sommer im Rahmen der Denkfabrik 2021 "auf die Suche nach dem Wir" – und finden es in Tiermetaphern, Maschinenträumen, SciFi-Welten und dem "Gaia-Prinzip":
11. Juli: Tier, Maschine oder Ebenbild Gottes? "Unsere Grenzen zu anderen Wesen sind offen" Gespräch mit Thomas Macho
11. Juli: Welches Tier sind wir? Wenn folgsame Schafe auf machthungrige Schweine treffen Von Florian Werner
18. Juli: Werden wir zur Maschine? Vom menschlichen Uhrwerk zum Cyborg Von Constantin Hühn
25. Juli: Das Wir in der Science Fiction - Sternenflotte oder Borg-Kollektiv? Von Christian Berndt
1. August: Sind wir ein Planet? Gaia-Theorie: Mit ganzheitlichem Denken gegen die Klimakrise Von Niklas Angebauer
Wenn folgsame Schafe auf machthungrige Schweine treffen
06:17 Minuten
Fleißige Bienen, folgsame Schafe oder Schweine, die den Bauern vom Hof jagen, um die Macht an sich zu reißen: In Literatur und Philosophie halten Tiere uns den Spiegel vor und geben konträre Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch?
"'Ihr armseligen Ameisen', sagte ein Hamster. 'Verlohnt es sich der Mühe, daß ihr den ganzen Sommer arbeitet, um ein so weniges einzusammeln? Wenn ihr meinen Vorrat sehen solltet!' - 'Höre', antwortete eine Ameise, 'wenn er größer ist, als du ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir nachgraben und dich deinen räubrischen Geiz mit dem Leben büßen lassen!'"
Emsige Ameisen oder hortende Hamster?
Natürlich geht es nicht um das verwerfliche Vorratshaltungsverhalten der Nagetiere in dieser Fabel von Gotthold Ephraim Lessing. Es geht auch nicht um die moralisch akzeptablere Sammelleidenschaft der Insekten. Es geht, wie in allen Fabeln, um uns Menschen: Wie wir unser Dasein gestalten, und wie dies mit den Lebensformen unserer Mitkreaturen zu vereinbaren ist. Handeln wir emsig und umsichtig wie die Ameisen? Oder neigen wir aus Furcht vor Warenengpässen zum Hamstern?
Schon seit über 4000 Jahren bevölkern Tiere die Lehrgedichte und -erzählungen der Menschen. Die ältesten überlieferten Fabeln stammen aus der sumerischen Kultur, mit dem griechischen Dichter Äsop wanderte die Gattung in den europäischen Kulturraum. Die charakterlichen Eigenschaften der beschriebenen Tierarten sind dabei über die Jahrtausende überraschend stabil: Löwen sind mutig. Füchse schlau. Schafe einfältig. Und Schweine verfressen.
Die Schweinediktatur
Die Stalinismus-Parabel "Farm der Tiere" von George Orwell stellt in diesem Zusammenhang eine Ausnahme dar: "In dieser Nacht hatten die Tiere auf dem Jones-Hof etwas Besonderes vor. Wenn der Bauer seinen Rausch ausschlief, wollten sie in der großen Scheune eine geheime Versammlung abhalten. Die Versammlung hatte der alte Major einberufen, der berühmte Zuchteber, der wegen seines Alters unter den Tieren im ganzen Land als 'der Weise' bekannt war."
Hier sind die Schweine keine schmutzigen Allesfresser, sondern bilden die geistige Elite der - bald vom Joch des versoffenen Bauern Jones befreiten - Enklave. Die Hofhunde verdingen sich als Geheimpolizei. Nur die Schafe agieren treuherzig-doof wie eh und je: Sie verkörpern die Hurra-Patrioten des neuen animalischen Regimes.
Herdentiere kommen oft schlecht weg
Insgesamt fällt auf, dass Herdentiere wie Schafe oder Rinder nur selten als positives Vorbild für menschliche Gruppierungen dienen – vermutlich, weil wir uns gern als selbstständig denkende Individuen begreifen. Wenn Angehörige einer Art sich brav um ein Leittier scharen, gelten sie als Inbegriff dumpfer Hörigkeit. Nicht von ungefähr machte im Verlauf der Coronapandemie der Ausdruck "Schlafschafe" Karriere: als Schimpfwort für vermeintlich blinde Befürworter staatlicher Eindämmungsmaßnahmen.
Raubtiere hingegen kommen metaphorisch deutlich besser weg und werden darum bevorzugt auf den Wappen der Mächtigen verewigt. Wen der Mensch "sich nicht unterjochen konnte", schreibt Elias Canetti, "den verehrt er, wie den Tiger". In ihm und anderen Spitzenprädatoren erblickt er eine Autonomie und Stärke, die er selbst gern hätte - die sich aber leider kaum als Vorbild für das menschliche Zusammenleben eignet: Die meisten Raubkatzen sind Einzelgänger.
Einen Sonderfall stellen die Honigbienen dar: Sie bilden bekanntlich funktional ausdifferenzierte Staaten und eignen sich daher bestens zur Beschreibung menschlicher Gesellschaftssysteme. Seit Aristoteles galt als ausgemacht, dass es sich dabei um eine matrilineare Monarchie handelt, mit einer Königin an der Spitze.
Basisdemokratie im Bienenstaat
Im 18. Jahrhundert hingegen beschrieb Bernard de Mandeville die Bienen als frühkapitalistische Subjekte. Nur persönliche Laster und Selbstliebe, so der Philosoph in seiner "Bienenfabel", trügen zum Gemeinwohl bei: Indem die Tiere egoistisch Nektar sammeln, bestäuben sie unfreiwillig die Blüten.
Inzwischen wissen wir: Beides ist falsch. Die vermeintliche "Königin" hat im Bienenstock überhaupt nichts zu sagen, sie ist nur die Eierproduzentin. Und: Bienen handeln auch nicht aus "Selbstliebe", sondern treffen kollektiv und gleichberechtigt ihre Entscheidungen. Ihr Staat, so der Bienenforscher Thomas Seeley, stellt eine lupenreine Basisdemokratie dar. Vielleicht ist es gerade diese "Schwarmintelligenz", die staatenbildende Insekten vor fatalen Fehlentscheidungen bewahrt. Vielleicht hatte Gotthold Ephraim Lessing also recht – und ein Haufen Ameisen ist allemal klüger als ein Goldhamster.