"Humanitäre Korridore" als Ausweg
Die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio will das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer nicht mehr hinnehmen. "Humanitäre Korridore" sollen dafür sorgen, dass Flüchtlinge legal nach Europa einreisen können.
Die Bilanz zum heutigen Weltflüchtlingstag fällt bitter aus: Tausende von Migranten sind in diesem Jahr erneut im Mittelmeer ertrunken. Die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio will das nicht mehr hinnehmen und mit einem Pilotprojekt einen Ausweg aufzeigen. Dieses beruhe auf einem Abkommen verschiedener kirchlicher Einrichtungen mit der italienischen Regierung, sagte Ursula Kalb von Sant'Egidio im Deutschlandradio Kultur.
Ziel ist es, "humanitäre Korridore" nach Europa schaffen. Tausend humanitäre Visa hat die italienische Regierung bereitgestellt, die derzeit nun in den libanesischen Flüchtlingslagern an besonders schutzbedürftige Migranten verteilt werden. Das seien vor allem Alte, Kranke, Behinderte oder Eltern mit kleinen Kindern, sagte Kalb. Mit dem Visum bekämen sie ein Flugticket und könnten legal nach Italien einreisen. Die große Hoffnung der Gemeinschaft ist nun, dass sich andere europäische Länder anschließen und ebenfalls humanitäre Visa ausstellen.
Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist eine von der römisch-katholischen Kirche anerkannte, geistliche Laienbewegung. Sie ist nach ihrem Hauptsitz, dem ehemaligen Kloster Sant’Egidio in Rom, benannt.
Das Gespräch im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, Zweidrittel davon innerhalb ihres Heimatlandes. Das sagen die neuesten Zahlen des UNHCR, des UN-Flüchtlingswerks. Jeder 113. Mensch weltweit ist also auf der Flucht.
Tausende, die sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten, sollen auch in diesem Jahr wieder im Mittelmeer ertrunken sein. Eine sichere Einreise nach Europa, das will die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio mit humanitären Korridoren erreichen.
Und wie das gelingen soll, das will ich von Ursula Kalb erfahren. Sie ist Theologin und Mitglied der Gemeinschaft seit deren Gründung in Deutschland 1981 und bei Sant'Egidio verantwortlich für den Dienst für Flüchtlinge und Ausländer. Schönen guten Morgen!
Ursula Kalb: Guten Morgen!
von Billerbeck: Ein humanitärer Korridor, das ist ein Pilotprojekt, das möglicherweise Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer rettet. Seit Beginn des Jahres nehmen kirchliche Organisationen in Italien Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, Somalia, dem Südsudan und noch weiteren afrikanischen Ländern auf. Wie läuft das ab? Wie müssen wir uns das vorstellen?
Kalb: Die humanitären Korridore haben natürlich eine lange Vorgeschichte. Die Vorgeschichte ist ganz einfach die, dass wir seit vielen Jahren mit Flüchtlingen und Migranten arbeiten in vielen europäischen Ländern, in denen Sant'Egidio anwesend ist. Und wir haben alle Flüchtlingsströme verfolgt und natürlich auch das große Drama, das sich im Mittelmeer abspielt, gerade in Italien, vor den Toren Italiens passiert es ja.
So war seit Langem der große Wunsch, dass wir einfach auch eine Möglichkeit schaffen, den Menschen diese Überfahrt, diese oft todbringende Überfahrt über das Mittelmeer zu ersparen und das zu verhindern.
Italien hat tausend humanitäre Visa ausgestellt
Und es gibt eben, nach einigen Forschungen haben wir das auch festgestellt, es gibt die Möglichkeit eines humanitären Visums, das alle europäischen Länder ausstellen können. Und das Pilotprojekt beruht genau auf dieser gesetzlichen Grundlage.
Das bedeutet, es gab eben jetzt mit Italien – Italien ist das erste Land, das dieses Pilotprojekt jetzt durchführt –, dieses Projekt beruht auf einem Abkommen zwischen der Gemeinschaft Sant'Egidio, angeschlossen haben sich die Union der evangelischen Kirchen und der Waldenser Tafel, mit dem Innen- und Außenministerium Italiens. Das bedeutet, die italienische Regierung stellt tausend humanitäre Visa zur Verfügung, überwiegend für syrische Flüchtlinge – das sind jetzt auch die ersten Flüchtlinge, die kamen – aber es wird ausgeweitet werden auch dann auf Flüchtlinge vor allem aus den afrikanischen Ländern.
von Billerbeck: Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht bei Sant'Egidio? Wer kann diese Visa in Anspruch nehmen, und wie läuft dieser Prozess ab?
Kalb: Die Visa stellt die Regierung zur Verfügung. Wir haben jetzt eben tausend Visa, diese humanitären Visa, die uns zur Verfügung gestellt wurden. Und Mitglieder der Gemeinschaft Sant'Egidio sind jetzt im Moment aktiv in den Flüchtlingslagern im Moment im Libanon. Im Libanon sind sehr viele Flüchtlinge, das wissen wir, und wir sind dort vor Ort, arbeiten mit den Organisationen vor Ort zusammen und vor allem auch mit dem UNHCR.
Besondere Schutzbedürftigkeit
Die Bedingungen des humanitären Visums sind auf der Grundlage auch eben des UNHCR, das bedeutet, dass vor allem Menschen mit besonderer Schutzbedürftigkeit diese Visa bekommen. Das sind alte Menschen, kranke Menschen, Familien mit kleinen Kindern. Es sind viele Behinderte auch dabei, also Menschen, die dringend auch eine medizinische Versorgung brauchen, die sie natürlich in den Flüchtlingslagern nicht bekommen.
Das sind so die Kriterien für die humanitären Visa. Die Menschen werden einfach dann auch ausgewählt eben in Kontakt mit den Organisationen, die in den Flüchtlingslagern selbst tätig sind. Und sie bekommen dann eine sichere Überfahrt. Das bedeutet, es wird ein Flugticket für sie gekauft, und sie können ganz legal nach Italien einreisen.
Bevor die Einreise geschieht, und das ist noch ein weiterer Aspekt, der auch für diese humanitären Korridore sehr wichtig ist, ist, dass es eine Sicherheit gibt sowohl für die Flüchtlinge als auch für das Land, in das sie einreisen. Denn im Vorfeld wird geprüft, ob es Menschen sind, die eben auch einreisen dürfen, ganz legal vom Gesetz. Das Innenministerium prüft jeden Einzelnen, sodass es für das aufnehmende Land eine Sicherheit gibt, aber natürlich auch die große Sicherheit für die Flüchtlinge selbst, dass sie nicht im Meer ertrinken müssen.
von Billerbeck: Nun ist ja die Frage immer, wenn man da tausend humanitäre Visa ausstellt – Sie haben schon ein paar Kriterien genannt – trotzdem fragt man sich, wer entscheidet darüber, wer besonders schutzbedürftig ist. Es sind ja ganz viele Menschen vermutlich besonders schutzbedürftig. Wie stellt man da eine Reihenfolge auf?
Das Modellprojekt soll Schule machen
Kalb: Ich denke, es ist in den Flüchtlingslager selbst wird schon sehr bald auch sehr klar, wo vor allem die Menschen sind, die wirklich ein ganz großes Bedürfnis haben, also die in den Flüchtlingslagern einfach medizinisch nicht versorgt werden können. Kinder, die auch durch den Krieg schwer gezeichnet sind. Junge Mütter, die allein mit den Kindern reisen. Alte Menschen, Menschen, die von der Folter oder der Gewalt besonders gezeichnet sind.
Das Programm hat im Moment diese tausend Visa, das klingt erst mal nicht viel. Aber es ist auch ein Pilotprojekt. Wir wollten natürlich erst mal auch mit einer geringeren Zahl einsteigen, damit es überhaupt möglich ist und auch die Regierung dem Ganzen zugestimmt hat.
Unsere große Hoffnung ist erstens, dass viele europäische Länder sich anschließen und dass wir natürlich diese Zahl dann auch erweitern können. Modellprojekt bedeutet auch, dass unsere Idee eben auch ist, dass es eine Möglichkeit einer Einreise in Zukunft gibt, die auch die Regierungen aufgreifen, um eine größere Anzahl dann eben auch in die verschiedenen Länder zu holen.
von Billerbeck: Wie schätzen Sie das ein, Frau Kalb? Wie gut sind die Aussichten für diese Möglichkeit?
Kalb: Das ist natürlich eine nicht so leicht zu beantwortende Frage. Ich glaube, dass natürlich das Bedürfnis oder auch die Notwendigkeit, dass hier etwas geschieht, schon inzwischen auch insgesamt sehr, sehr deutlich geworden ist, weil wir … viele sprechen natürlich davon, dass es eine tatsächlich humanitäre Katastrophe ist, was vor unseren Augen passiert. Wir sehen es, wir schauen zu, und ich denke, dass schon die Rufe nach Lösungen auch sehr deutlich sind.
Große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung
Das Zweite ist, dass wir doch in unseren Gesellschaften auch eine große Aufnahmebereitschaft haben. Ich selbst komme aus München. Ich habe den letzten Sommer hier in München erlebt, wo am Tag Tausende von Menschen angekommen sind, und ich habe die große Bereitschaft auch der Bevölkerung gesehen, wirklich zu helfen und zu sagen, wir können nicht einfach tatenlos zusehen.
Ich denke, es waren viele Menschen dabei, die vorher nie mit Flüchtlingen zu tun hatten, aber die einfach auch gesehen haben, dass man helfen muss und dass man helfen kann. Das ist das Erste. Das Zweite ist, denke ich, dass die Regierungen natürlich auch nach Lösungen suchen, nach verschiedenen Lösungen.
von Billerbeck: Und eine davon könnte eben dieser humanitäre Korridor sein, den Sant'Egidio da in einem Pilotprojekt ausprobiert. Ursula Kalb war das von der katholischen Gemeinschaft. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kalb: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.