Politisches Gefühl

Warum weibliche Wut wichtig ist

Eine Frau trägt eine Afro-Frisur und einem grauen T-Shirt ballt die Fäuste und schreit wütend mit in Richtung der Kamera
Wut ist eine geschlechtsneutrale Emotion, Frauen zeigen sie aber seltener als Männer. © picture alliance / Zoonar / Tatiana Chekryzhova
Noch immer sind Frauen in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Wut über die ungerechten Verhältnisse kann ein Instrument für politische Veränderung sein. Doch dem Ärger freien Lauf zu lassen, fällt vielen Frauen nach wie vor schwer.
Wenn Frauen öffentlich richtig sauer werden, kann das für viel Wirbel sorgen. Vor kurzem hat das die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek mit ihrer „Wutrede“ im Bundestag demonstriert, nachdem Union und FDP gemeinsam mit der AfD abgestimmt hatten. Das Video von Reichinneks Wutausbruch wurde in den sozialen Medien millionenfach geklickt und geteilt, Reichinnek wurde zu einer Art Galionsfigur der darauffolgenden Proteste.
Wut, gerade wenn sie von Frauen geäußert wird, fällt auf und bleibt in Erinnerung. Gut so, sagen einige Aktivistinnen und fordern: Frauen sollten ihrem Zorn ruhig öfter freien Lauf lassen. Aber was genau bewirkt die Wut der Frauen? Warum sind Gefühle politisch, und warum fällt es vielen Frauen schwer, ihrem Ärger Luft zu machen?

Welche Arten der Wut gibt es?

Die Autorin Ciani-Sophia Hoeder kritisiert, dass Wut pauschalisiert werde. Wut habe insgesamt ein schlechtes Image. „Wir denken immer an Hulk – ein grünes Männchen, das alles zerstört“, sagt Hoeder. Menschen könnten aber entscheiden, was sie mit dieser Emotion machen.
Hoeder unterscheidet verschiedene Arten von Wut: nihilistische Wut, die auf Zerstörung abzielt, vereinfachende Wut, die auf ein Feindbild wie eine bestimmte Gruppe von Menschen abzielt, oder eine moralische Wut über Ungerechtigkeiten. Diese könne man daran erkennen, dass sie auf eine gleichberechtigte Gesellschaft abziele, sagt Hoeder.
Auch zwischen privater und politischer Wut kann man der Autorin zufolge unterscheiden. „Aber viele Dinge, die ich privat erlebe, basieren auf politischen Entscheidungen.“ Wenn etwa eine alleinerziehende Mutter wütend darüber sei, dass sie keinen Kitaplatz für ihr Kind bekommt, sei das kein rein privates Thema.

Welche Gründe haben Frauen, um wütend zu sein?

Rechtlich sind Frauen und Männer zwar inzwischen in den meisten westlichen Ländern gleichgestellt. Trotzdem sind sie weiterhin in vielen Bereichen der Gesellschaft benachteiligt. Frauen leisten in der Gesellschaft den Großteil an unbezahlter Arbeit, verdienen im Schnitt weniger, sind stärker von Armut bedroht, deutlich häufiger alleinerziehend und erhalten eine schlechtere Gesundheitsversorgung als Männer.
Dazu kommt, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts Gewalt ausgesetzt sind. Laut der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale ist es eine der häufigsten Menschenrechtsverletzungen. Statistisch gesehen wurde im Jahr 2023 fast jeden Tag eine Frau in Deutschland getötet. Jede dritte Frau in Deutschland ist demnach mindestens einmal in ihrem Leben von sexualisierter oder körperlicher Gewalt betroffen, so Zahlen des Bundesinnenministeriums.

Warum unterdrücken Frauen Wut?

Gründe für weibliche Wut gibt es also genug. Trotzdem zeigen gerade Frauen ihren Zorn eher selten. Auch in der Gesellschaft ist von einer breiten weiblichen Wut jenseits von Einzelbeispielen wenig zu spüren. Das hat auch damit zu tun, dass Wut geschlechtsspezifisch unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt wird, wie die Wissenschaft zeigt.
Zornig zu sein passt nicht so richtig ins weibliche Rollenbild. Auch heute noch sollen Frauen eher lieb und freundlich sein statt aufbrausend oder aggressiv. Wütende Mädchen gelten als hässlich und zickig, das lernen sie häufig von klein auf.
Und auch im Erwachsenenalter wird Wut anders bewertet, wenn sie von Frauen geäußert wird: Bei Frauen wird der Zorn mit ihrer Persönlichkeit in Verbindung gebracht, bei Männern mit den äußeren Umständen. Mehrere Studien aus den USA belegen, dass Frauen, die ihren Ärger zeigen, mit negativen Konsequenzen rechnen müssen. Sie werden als lächerlich oder hysterisch abgewertet.
Die Folge: Die Wut wird unterdrückt. Das kann so weit gehen, dass der Ärger gar nicht mehr als solcher erkannt wird. Statt wütend zu sein, kommen manchen Frauen dann zum Beispiel die Tränen. „Frauen haben oft das Thema, dass sie entweder gar keine Wut spüren oder aber schon Wut spüren und dann nicht wissen, wohin damit – und es gegen sich selbst richten“, sagt die Psychotherapeutin Anita Timpe.

Warum ist das ein Problem?

Auch wenn Frauen weniger Wut zeigen, heißt das nicht, dass sie sich auch weniger ärgern. Das hat die Emotionsforscherin Ursula Hess gezeigt. Die Wut der Frauen ist also trotzdem da. Das Gefühl ständig zu unterdrücken, kann aber negative Folgen haben.
Wenn Wut über einen langen Zeitraum hinweg aufgestaut wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich von einem gesunden Ärger immer mehr zu einer destruktiven Kraft entwickelt, sagt die Psychotherapeutin Anna-Marie Raith. Dann kann sie sich im schlimmsten Fall in einem völlig unkontrollierten Wutausbruch entladen und großen Schaden anrichten. „Das sind zum Beispiel diese Fälle, wo dann jemand einen anderen zusammenschlägt, weil der ihm gerade einen Parkplatz weggenommen hat“, erklärt Psychologie-Professorin Verena Kast.
Andererseits kann unterdrückte Wut Depressionen hervorrufen, wenn eigene Bedürfnisse und Grenzen dauerhaft missachtet werden. Es ist sogar medizinisch belegt, dass unterdrückte Wut die Anfälligkeit für Herzkreislauferkrankungen erhöht, erklärt der Neuroforscher René Hurlemann. „Weil sie sich eigentlich durch permanent erhöhte Stresslevels auszeichnet und das ist für den Organismus überhaupt nicht günstig.“ Expertinnen und Experten sind sich deshalb einig, dass starke Wut ausagiert werden muss.

Warum ist Wut ein wichtiges Instrument?

Wird die Wut nicht unterdrückt, animiert sie uns zum Handeln. Denn sie zeigt uns und anderen unsere Bedürfnisse auf, ebenso wie Grenzen, die überschritten wurden. Damit eröffnet der Zorn die Möglichkeit, die Verhältnisse zu verändern. „Wut hat auch mit Selbstwirksamkeit zu tun“, sagt Ciani-Sophia Hoeder. Das kann sowohl für das private Leben als auch für politisches Engagement gelten.
Gerade für politische Kräfte sei Wut wichtig, um gesellschaftlichen Wandel hervorzurufen, argumentiert Hoeder. Als Beispiele nennt sie die Arbeit von Gewerkschaften und die Frauenbewegung. Die Autorin plädiert für „Wutempathie“: Den Ärger anderer nachzuvollziehen und sich mit ihnen zu verbünden. Gemeinsame Wut habe etwa in der Vergangenheit dazu geführt, dass Frauen heute wählen könnten und ein eigenes Bankkonto besitzen dürften.

Wie können Frauen Wut konstruktiv nutzen?

„Die größte Herausforderung ist erst mal zu verstehen: Warum bin ich wütend?“, sagt die Autorin Ciani-Sophia Hoeder. Anschließend kann man dann überlegen, was sich dagegen unternehmen ließe. Hat die Wut eher mit dem Privatleben zu tun, könne man üben, die eigene Wut zu äußern, sagt Anna-Marie Raith. „Es ist nie zu spät, an der Wut zu arbeiten“, sagt die Psychotherapeutin. Schritt für Schritt lasse sich lernen, über Ärgernisse bestimmt und trotzdem verträglich zu kommunizieren.
Wer feststellt, dass die Wut mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt, kann sich dafür engagieren, dass sich etwas ändert, sagt Hoeder. Gerade Frauen müssen nicht allein wütend werden. „Wenn Frauen in der Öffentlichkeit alleine ausrasten, gelten sie als charakterschwach“, sagt Hoeder. Äußern Frauen ihren Zorn dagegen in Gruppen, können sie nicht mehr als verrückte Einzelfälle abgetan werden.
Wichtig sei, sich mit anderen zusammenzuschließen, die eine ähnliche Wut empfinden und diese ebenfalls konstruktiv nutzen wollen. „Politischer Wandel entsteht nicht mit einer Person“, sagt die Autorin. Viele Probleme ließen sich nur gemeinsam lösen, allein brenne man schnell aus. Gemeinsam könne man auch den Frust überwinden, der entstehe, weil man sich alleine machtlos fühlt, sagt Hoeder.

kau
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