Weltgesundheitsorganisation am Bettelstab

Das Dilemma der WHO

Bill Gates, Vorsitzender der weltweit größten privaten Stiftung, aufgenommen am 11.11.2014 in Berlin während eines Interviews.
Bill Gates, Vorsitzender der weltweit größten privaten Stiftung © picture alliance / dpa / Lukas Schulze
Von Thomas Kruchem |
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist zu inzwischen 80 Prozent ihres Budgets abhängig von zweckgebundenen Spenden mächtiger Staaten, Stiftungen und Pharmakonzerne. In der Folge ist die Fähigkeit der WHO, öffentliche Gesundheit weltweit zu sichern, dramatisch gesunken: Auf Druck der Geldgeber konzentriert sich die Organisation auf den technokratischen Kampf gegen Infektionskrankheiten.
Depression. Mehr als 320 Millionen Menschen weltweit leben mit dieser Krankheit. Viele können nicht arbeiten, sehen sich Vorurteilen ausgesetzt, werden stigmatisiert. Depressionen können, im schlimmsten Fall, zum Selbstmord führen. Trotzdem werden die meisten Betroffenen nicht behandelt, in Entwicklungsländern bis zu 90 Prozent.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO lancierte 2017 eine Aufklärungskampagne zu Depressionen, die viel von ihrem Schrecken verlieren, wenn man offen damit umgeht.
Ähnliches gilt für andere Krankheiten, deren Opfer sozialer Stigmatisierung ausgesetzt sind – so wie Bisnumaya, Bewohnerin eines Lepra-Heims im Westen Nepals.
"Ich war 23, seit fünf Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder, als ich immer mehr weiße Flecken an meinen Händen und Füßen entdeckte. Irgendwann fühlte ich meine Zehen und Finger nicht mehr. Meine Familie schickte mich ins Krankenhaus, wo die Ärzte sagten, ich hätte Lepra. Als ich zurück nach Hause kam, war mein Mann nach Indien verschwunden. Er hatte dort eine andere Frau geheiratet. Ich lebte dann mit den Kindern bei meiner Mutter. Mit der Zeit aber bekam ich immer mehr Wunden und Geschwüre an Füßen wie Händen - und die Leute begannen zu sagen: Bisnumaya hat Lepra. Bisnumaya darf kein Wasser schöpfen von der Quelle, die wir benutzen."
Bisnumaya ist inzwischen geheilt – dank einer Kombinationstherapie, die die WHO und der Schweizer Pharma-Konzern Novartis allen Leprakranken weltweit kostenlos zur Verfügung stellen. Und: Dank des von der WHO koordinierten Kampfes gegen die Krankheit gab es Ende 2015 gerade noch 176.000 Leprakranke. 1985 waren es 5,2 Millionen.

US-Präsident Trump plant Einsparungen

Die 1948 gegründete WHO ist die Gesundheitsorganisation der Vereinten Nationen. Sie wird von 194 Mitgliedstaaten getragen und hat 8000 Mitarbeiter. Die WHO definiert, international verbindlich, Krankheiten. Sie setzt Standards für deren Behandlung, den Umgang mit Umweltgiften und den Schutz vor nuklearen Gefahren. Zu den Aufgaben der Weltgesundheitsorganisation zählt es auch, Mitgliedsstaaten beim Aufbau von Gesundheitssystemen zu unterstützen und bei Epidemien selbst operativ tätig zu werden. Als ihren größten Erfolg sehen WHO-Mitarbeiter die Ausrottung der Pocken 1980.

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2003 verabschiedete die Mitgliederversammlung eine Konvention zur Eindämmung des Tabakkonsums. Seit 2004 gelten Gesundheitsvorschriften, die den grenzüberschreitenden Umgang mit Epidemien regeln – lebenswichtig in einer Zeit blitzartig um den Globus rasender Krankheitserreger. Kurz, die WHO sei unverzichtbar für unser aller Gesundheit, sagt Thomas Gebauer, Geschäftsführer der Gesundheitsorganisation Medico International und Mitbegründer der Initiative Global Health Watch, die einen alternativen Weltgesundheitsbericht herausgibt.
Das Problem: Die WHO befinde sich in einer tiefen Krise, die zunehmend ihre Handlungsfähigkeit im Interesse öffentlicher Gesundheit weltweit lähme.
In der Tat meldet der US-Fernsehsender CNN am 14. März 2017, Präsident Donald Trump habe einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der die US-Zuwendungen an UN-Organisationen wie die WHO um fast die Hälfte reduziert. Die WHO werde jetzt noch abhängiger von Geldgebern mit ganz eigenen Interessen – von Geldgebern wie dem reichsten Mann der Welt.
Bill Gates spricht auf einer Pressekonferenz in Berlin.
Bill Gates spricht auf einer Pressekonferenz in Berlin.© picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka

WHO finanziert sich zu 80 Prozent aus Spenden

Amit Sengupta: "Wenn Bill Gates morgen sagt: Ich habe kein Interesse mehr an Gesundheit, ich investiere mein ganzes Geld in Erziehungsfragen, zum Beispiel wäre die WHO am Ende. Er könnte es machen. Niemand könnte ihn daran hindern."
Die Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation und damit deren Arbeit habe sich über die Jahre dramatisch verändert, erklärt aus Neu Delhi der indische Arzt und Gesundheitsaktivist Amit Sengupta. Früher lebte die WHO überwiegend von Pflichtbeiträgen der Mitgliedstaaten – bemessen nach Bevölkerung und Sozialprodukt.
1993 jedoch setzten die USA durch, dass die Pflichtbeiträge eingefroren wurden. Deren Anteil am Budget der WHO sank daraufhin kontinuierlich – auf heute gerade noch 20 Prozent. Zu 80 Prozent ist die WHO abhängig geworden von Spenden wohlhabender Regierungen, Stiftungen und Pharma-Unternehmen. Fast alle diese Spenden seien zweckgebunden, erklärt Sengupta. Allein die Spender bestimmten, wofür die WHO Geld ausgeben dürfe und wofür nicht.
Ähnliches gelte für die Welternährungsorganisation FAO. Das Welternährungsprogramm und das Kinderhilfswerk UNICEF seien sogar komplett abhängig von milden Gaben. Von einer zunehmenden Privatisierung vieler UN-Organisationen spricht der indische Aktivist.
"Es handelt sich um einen Angriff auf das UN-System insgesamt. Dieses System, das von Mitgliedsstaaten betrieben wird, um staatliches Handeln weltweit zu verbessern, will man ersetzen durch ein System, in dem private Stiftungen und Konzerne eine wichtige Rolle spielen. Die bedenkliche Entwicklung der WHO in den letzten Jahren und das von den USA durchgesetzte Einfrieren der Mitgliedsbeiträge sind dafür nur ein Beispiel."

Das pure Finanzierungschaos

Der Schweizer Gaudenz Silberschmidt, Direktor im Genfer Generaldirektorat der WHO, zuckt mit den Schultern. Ständig liege er den Mitgliedstaaten in den Ohren, sie sollten die WHO endlich wieder aus ordentlichen Beiträgen finanzieren oder zumindest die freiwilligen Zuwendungen erhöhen.
"Idealerweise würden alle Länder dreimal so viel freiwillige Beiträge wie Pflichtbeiträge geben. Es gibt Länder wie Norwegen und Schweden, die geben siebenmal so viel. Die USA gibt praktisch dreimal so viel. Die Schweiz gibt zweieinhalbmal so viel. Deutschland hat begonnen, jetzt die Beiträge zu erhöhen, dass sie jetzt unterdessen ein bisschen mehr freiwillige Beiträge als Pflichtbeiträge geben. Von Österreich kriegen wir ein Hundertstel so viel freiwillige Beiträge wie Pflichtbeiträge."
Jede WHO-Abteilung für sich müsse heute nach Spendern suchen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können, erklärt ein anderer WHO-Insider. Manche Abteilungen hätten mehr Geld, als sie ausgeben können. Andere, wie die Abteilung für essenzielle Medikamente, nahezu gar nichts. Es herrsche das pure Finanzierungschaos.

Kein Geld, um schnell gegen Ebola-Epidemie vorzugehen

Dieses Chaos zeigte sich, zum Beispiel, als 2014 eine Ebola-Epidemie in Westafrika außer Kontrolle geriet. Zum einen hatte es die WHO jahrelang versäumt, den notorischen Krisenstaaten Sierra Leone, Guinea und Liberia beim Aufbau eines effizienten und robusten Gesundheitssystems zu helfen. Zum anderen reagierte die Organisation viel zu langsam auf die Epidemie. Sie hatte kein Geld, um schneller aktiv zu werden.
"Ein paar Jahre davor wurden der WHO die Gelder für die Vorsorge von solchen Situationen massiv gekürzt von den Mitgliedstaaten, von den Gebern. Und das war der Preis, den wir zu zahlen hatten. Bei Ebola ging es vier Monate zwischen unserem ersten Appell für Gelder, bis wir Gelder gekriegt haben."
Vier Kinder im Schulkindalter laufen vor einer knallroten Mauer mit der weißen Aufschrift "Ebola".
Kinder am 31.8.2014 in der liberianischen Hauptstadt Monrovia.© DOMINIQUE FAGET / AFP
Immerhin: Der Ebola-Schock motivierte einige Geldgeber, der WHO einen Notfallfonds für Epidemien zu spendieren, der nun binnen 24 Stunden mobilisierbar ist. Zu diesen Geldgebern zählt der bereits erwähnte Bill Gates: mit 80 Milliarden US-Dollar Vermögen der reichste Mensch der Welt und Herr der "Bill- und Melinda Gates Stiftung", die über ein Kapital von 43 Milliarden Dollar verfügt.
Die Stiftung gebe jährlich vier Milliarden Dollar aus, sagt der Präsident ihres Programms für globale Entwicklung, Chris Elias. Das Geld fließt in einen "Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria", in die medizinische Forschung, in Impfpartnerschaften mit Pharmakonzernen. Der Weltgesundheitsorganisation stiftet Gates für die Jahre 2016 und 2017 629 Millionen Dollar. Das sind über 14 Prozent ihres Budgets von 4,4 Milliarden Dollar. Die Gates-Stiftung sei, nach den USA, der zweitgrößte Geber der WHO, erklärt Chris Elias.
"In unserer Zusammenarbeit mit der WHO und anderen Organisationen konzentrieren wir uns darauf, Kindersterblichkeit weltweit zu reduzieren. Wir unterstützen Kampagnen gegen Durchfall- und Lungenerkrankungen. Wir fördern die Suche nach Malaria-Impfstoffen, den Kampf gegen Mangelernährung - also insgesamt Programme, die die Gesundheit von Müttern und Kindern verbessern."
Insgesamt hat die Gates-Stiftung der WHO seit der Jahrtausendwende 2,5 Milliarden Dollar gespendet – 1,6 Milliarden davon für die Ausrottung von Polio; einer Krankheit, an der bis vor wenigen Jahrzehnten auch Kinder hierzulande litten.

Wie ein Alleinherrscher zur Zeit des Feudalismus

In der nordnigerianischen Stadt Kano sitzen noch heute Menschen wie der 40-jährigen Najibe in schäbigen Rollstühlen, die Beine grotesk verkrümmt. Najibe versucht, mit Betteln, kleinen Diensten und Gesang zu überleben.
"Mit zwei Jahren bekam ich Polio; und weil danach meine Beine gelähmt waren, verbrachte ich meine gesamte Kindheit im Haus. Ich konnte nicht zur Schule gehen oder Fußball spielen. Ich konnte weder Soldat noch Polizist werden und hatte auch keine Freunde. Allen war ich nur eine Last."
"Bei der Ausrottung von Polio haben wir gewaltige Fortschritte erzielt. 2016 gab es nur 37 Fälle weltweit – in Pakistan, Afghanistan und Nigeria. In diesen drei Ländern kommt die Krankheit heute noch vor. Und wir haben unsere Anstrengungen dort, sie endgültig auszurotten, noch einmal verstärkt. Sehr bald werden wir hoffentlich den letzten Fall einer Polioerkrankung sehen."
Der deutsche Gesundheitsexperte Thomas Gebauer respektiert die großen Verdienste der Gates-Stiftung. Sie habe zweifellos Millionen Menschen das Leben gerettet. Ebenso zweifellos jedoch übe Bill Gates pure Macht aus; wie ein Alleinherrscher zur Zeit des Feudalismus setze er weltweit sein Konzept von Gesundheitsarbeit durch.
"Das ist das typische Konzept von Unternehmern, von Managern, die sagen: Wir können die Welt ändern oder wir können die Welt gestalten aufgrund von Management, ein bisschen Wissenschaft und Kapital."
Die Gates-Stiftung investiere ihr Geld vor allem in technische Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten, erklärt Gebauer. Sie investiere in Impfkampagnen und die Verteilung von Medikamenten oder Malarianetzen. Solche Maßnahmen zeigten schnell messbare Erfolge. Sie motivierten andere Geber, ihr Engagement mit dem der Stiftung zu verbinden.
Das aber führe dazu, das andere wichtige Aufgaben vernachlässigt werden – der Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme in armen Ländern zum Beispiel. "Ja", sagt WHO-Direktor Gaudenz Silberschmidt.
"Diese Tendenz stimmt - und wir sind uns dessen bewusst. Aber wir sind auch im Dialog, der dazu beigetragen hat, dass die Gates-Stiftung und Bill und Melinda Gates selber verstanden haben: Es geht nicht ohne eine Stärkung der Gesundheitssysteme."

Bekämpfung sozialer Krankheitsursachen vernachlässigt

Dessen ungeachtet hat die WHO keine Wahl, als die zweckgebundenen Spenden ihres wichtigsten Geldgebers auch zweckgerecht auszugeben. Die führende Gesundheitsinstanz weltweit tanze also nach der Pfeife eines Mannes, sagen Kritiker wie Thomas Gebauer. Auf der Strecke bliebe, neben Gesundheitssystemen in armen Ländern der Kampf gegen soziale Ursachen von Krankheit.
Gesundheit werde nur zu einem geringen Teil durch ärztliches Handeln beeinflusst, erklärt Gebauer. Viel wichtiger seien die Lebensverhältnisse des Einzelnen. Menschen, die ihre Kindheit in Elendsvierteln verbringen, hätten eine weit geringere Lebenserwartung als Menschen, die in wohlhabenden Vierteln aufwachsen. Das gelte auch für Europa: Im schottischen Glasgow liege der Unterschied bei 27 Jahren, in Deutschland bei zehn Jahren.
"Gesundheit ist etwas, was geschützt wird über hygienische Wohnverhältnisse, über gute Ernährung, über Zufriedenheit am Arbeitsplatz, zum Beispiel, über Einkommen – alles Dinge, die nichts mit medizinischem Handeln zu tun haben, aber umso mehr mit sozialen Faktoren. Und wenn man Gesundheit tatsächlich positiv beeinflussen will, dann muss man an dieser Stelle arbeiten. Und da hat die WHO in den 80er-Jahren eine Kommission gehabt, die sich mit genau diesen sozialen Fragen befasst hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der wesentliche Killer nicht irgendein Virus ist, nicht irgendeine Krankheit; sondern die meisten Todesfälle aufgrund von sozialer Ungleichheit existieren."
Ein Junge reicht einem anderen Kind eine Trinkflasche.
Die Kinder in der Mangueira leben unter kritischen Hygienebedingungen. © Deutschlandradio - Carsten Upadek
Weniger Menschen als früher verhungern heute, sagen die Statistiken. Zugleich jedoch wächst die Ungleichheit. Und immer mehr Menschen vegetieren in bedrückender Armut dahin – zum Beispiel in Tansanias Hauptstadt Daressalam.
Dort lebt die Familie Maneno am Ende eines dunklen Gangs unter der Einflugschneise des Flughafens. In einer fensterlosen Kammer von zwölf Quadratmetern teilen sich Mutter Rama, Tochter Ashazi und zwei Enkel ein Bett und ein Sofa. Die 30-jährige Ashazi ist zum Skelett abgemagert. Sie kann kaum mehr trinken.
"Tuberkulose Endstadium" sagt der Arzt Blasdus Njako. Ashazi werde sehr bald sterben. Den Erreger ihrer Krankheit, das Mycobakterium tuberculosis, trägt fast jeder dritte Mensch in sich. Zum Ausbruch kommt die Krankheit aber nur bei nachhaltig geschwächtem Immunsystem – infolge von HIV/Aids oder von chronischer Armut.
"In Daressalam haben wir große Gebiete ohne sanitäre Infrastruktur, wo die Ärmsten der Armen elende Hütten bauen – mit kleinsten Fenstern, fast ohne Belüftung. Und in einem Raum schlafen bis zu 15 Personen. Dieses Leben Hunderttausender Menschen auf engstem Raum fördert natürlich die Ausbreitung der Tuberkulose. Und weil immer noch mehr Zuwanderer aus ländlichen Regionen nach Daressalam strömen, nimmt die Tuberkulose hier weiter zu. Derzeit tritt ein Viertel aller Tuberkulosefälle Tansanias in dieser Stadt auf."
Jahr für Jahr erkranken zehn Millionen Menschen an Tuberkulose. In schon 500.000 Fällen sind die Erreger resistent gegen fast alle Medikamente. Die Behandlung ist extrem teuer. Fast zwei Millionen Tuberkulose-Patienten sterben jedes Jahr. Und sinken werden diese Zahlen nur, wenn der Krankheit der soziale Nährboden entzogen wird.

Pharmakonzerne und Lebensmittelkonzerne gewinnen Einfluss

Zurück zu Bill Gates, dem zweitwichtigsten Geldgeber der WHO. Nicht nur Gates übe Macht auf die WHO aus, sagt Thomas Gebauer. Das täten auch die Konzerne, mit denen die Gates-Stiftung ihr Geld erwirtschaftet.
"Woher kommen eigentlich die Mittel, die Bill Gates einsetzen kann? Diese Frage wird kaum gestellt. Er hat das Geld ja aus Anlagevermögen. Er legt sein Kapital in bestimmten Industriezweigen an, die, wenn man genau hinschaut, allesamt etwas zu tun haben mit krankmachenden Bedingungen."
Laut ihrer Steuererklärung für 2015 hält die Gates-Stiftung direkt Coca-Cola-Aktien im Wert von 500 Millionen und Aktien des weltgrößten Supermarktkonzerns Walmart im Wert von einer Milliarde Dollar. Hinzu kommen Beteiligungen an den Nahrungsmittelkonzernen PepsiCo, Unilever, Kraft-Heinz, Mondelez und Tyson Foods; an den Alkoholkonzernen Anheuser-Busch und Pernod; an den Pharma-Konzernen GlaxoSmithKline, Novartis, Roche, Sanofi, Gilead und Pfizer.
Die Gates-Stiftung hält außerdem Anteile im Wert von fast zwölf Milliarden Dollar am Berkshire Hathaway Trust des Investors Warren Buffett. Der Trust wiederum besitzt Coca-Cola-Aktien im Wert von 17 Milliarden Dollar und Kraft-Heinz-Aktien im Wert von 29 Milliarden Dollar.
Cola-Flaschen stehen in einem Kasten
Dilemma: Je mehr Coca Cola verkauft wird, desto mehr Geld gibt die Gates-Stiftung an die WHO. Die will aber gegen solche gesundheitsschädlichen Produkte vorgehen.© AFP / Lionel Bonaventure

Klassischer Interessenkonflikt

Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert.
Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt, der sie in ihren Handlungsmöglichkeiten schwächt und der angesichts ihrer finanziellen Abhängigkeit von der Gates-Stiftung unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum aufzulösen ist.
Big Pharma, die Pharmakonzerne, und Big Food, die Nahrungsmittelkonzerne, nutzten skrupellos genau diesen Interessenkonflikt der WHO, sagt der indische Gesundheitsexperte Amit Sengupta. Die Konzerne bauten systematisch ihren Einfluss auf die WHO aus und gingen dabei ganz unverblümt vor. Bei der Sitzung des WHO-Exekutivrats im Januar 2017, zum Beispiel, sei die Regierung Italiens durch Mitarbeiter des Süßwaren-Konzerns Ferrero vertreten worden – berichtet ein WHO-Insider. Und einen wichtigen Etappensieg bei ihrem Kampf um mehr Einfluss auf die WHO erzielten die Konzerne im Mai 2016.
Damals beschloss die Mitgliederversammlung der WHO neue Rahmenbedingungen für das Engagement nicht-staatlicher Akteure. Danach dürfen sich nun, ganz offiziell, auch kommerzielle Unternehmen in WHO-Arbeitsgruppen engagieren. Das war früher gemeinnützigen Organisationen vorbehalten.
"Bei solchem Engagement geht es den Unternehmen vor allem darum, in Arbeits- und Einsatzgruppen zu sitzen. Denn die treffen de facto die meisten Entscheidungen der WHO. Sitzen nun Vertreter kommerzieller Unternehmen in solchen Gremien, haben sie zwangsläufig großen Einfluss auf die Arbeit der WHO."

Millionenenverdienst an Schweinegrippe-Panik

Das funktionierte auch schon früher – nur etwas verdeckter. So saß vor einigen Jahren in einem geheim tagenden Gremium zur Einschätzung von Epidemien die Französin Marie Paul Kieny. Sie war Leiterin der WHO-Impfstoffabteilung und hatte zuvor für einen Impfstoffhersteller gearbeitet. Als dann 2009 die mit der Schweinegrippe verbundenen Gefahren beurteilt werden mussten, kam es dazu,…
"…dass ein kleines Gremium innerhalb der WHO diesen globalen Notstand ausgerufen hat und im Hintergrund schon die Industrien sozusagen ihre Impfstoffe produziert haben, die sie dann verkaufen konnten. Gleichzeitig ist über diese Bedrohungslage, die erzeugt worden ist durch die WHO, ein Gefühl der Angst entstanden weltweit. Und Regierungen waren sozusagen gezwungen, um dieser Angst zu entsprechen, diese Lager von Präparaten anzulegen."
Allein die deutsche Regierung kaufte Impfstoffe und Grippemittel für 450 Millionen Euro. Als die von der WHO ausgerufene Pandemie dann ausblieb, mussten die Medikamente vernichtet werden. Big Pharma aber hatte Milliarden verdient – wenngleich eine Untersuchungskommission zu dem Schluss kam, die Pharmaindustrie habe WHO-Entscheidungen zur Schweinegrippe nicht beeinflusst.
Noch schwerer als in solchen Fällen wiegt Einfluss der Konzerne auf die WHO, wenn damit die Gesundheit ahnungsloser Menschen geschädigt wird. In der Satzung der WHO steht, dass sie die Gesundheit von Menschen weltweit schützen soll – auch und gerade mit verbindlichen Regelwerken, die krankmachende Industriebetriebe in die Schranken weisen. Tatsächlich hat die WHO in fast 70 Jahren gerade ein solches Regelwerk zustande bekommen: die Rahmenkonvention zur Eindämmung des Tabakgebrauchs von 2003, die sich als überaus wirksam erwiesen hat.

Experten in WHO-Kommission haben Verbindungen zu Nahrungsmittelkonzernen

Längst jedoch steht fest, dass Big Food noch gefährlicher ist als Big Tobacco. Vor allem aggressives Marketing von zucker-, fett- und salzreichem Junkfood hat dazu geführt, dass heute zwei Milliarden Menschen übergewichtig sind; 2016 starben allein in China 1,3 Millionen Menschen an Diabetes. Die Nahrungsmittelindustrie müsste also mindestens so stark reguliert werden wie die Tabakindustrie, sagen Experten.
Am 10. Oktober 2013, bei einer globalen Konferenz zur Förderung von Gesundheit in Helsinki, sah es so aus, als ob WHO-Generaldirektorin Margaret Chan tatsächlich Produzenten krankmachenden Junkfoods aufs Korn nehme.
"Das öffentliche Gesundheitswesen muss gegen Big Food und Big Alcohol kämpfen. Diese Industrien fürchten Regulierung und schützen sich mit den gleichen Taktiken. Dazu zählen Frontorganisationen, Lobbying und Versprechen, sich selbst zu regulieren. Dazu gehören auch Gerichtsprozesse, sowie von der Industrie finanzierte Forschung, die wissenschaftliches Beweismaterial verdreht und in der Öffentlichkeit Zweifel sät. Die Taktiken der Industrie beinhalten überdies Geschenke, Stipendien und Beiträge zu ehrenwerten Anliegen – was die Unternehmen als respektable Unternehmensbürger erscheinen lässt. Außerdem versucht die Industrie, die Verantwortung für gesundheitliche Schäden dem Einzelnen aufbürden und staatliche Regulierung als Einschränkung persönlicher Freiheit zu porträtieren. Hier haben wir es mit fürwahr furchterregenden Gegnern zu tun, die Marktmacht problemlos in politische Macht verwandeln."
Chan habe geredet wie eine militante Aktivistin, erinnert sich Thomas Gebauer.
"Das ist uns allen aufgefallen, den Gesundheitsaktivisten in aller Welt, dass die Rhetorik von Margaret Chan immer sehr radikal gewesen ist, aber in der Praxis der WHO das dann keine Rolle spielte."
Die Zentrale des weltweit größten Lebensmittelkonzerns Nestlé im Schweizerischen Vevey
Die Zentrale des weltweit größten Lebensmittelkonzerns Nestlé im Schweizerischen Vevey© AFP / FABRICE COFFRINI
Ein Grund dafür könnte der Einfluss von Big Food in mit Ernährung befassten WHO-Gremien sein: In einer WHO Kommission, die Richtlinien für den Zucker-, Salz- und Fettgehalt menschlicher Nahrung erarbeitet, fand die Nachrichtenagentur Reuters 2012 drei Experten mit finanziellen Beziehungen zu Big Food – in zwei Fällen zu Nestlé, in einem zu Unilever.
"Von Coca-Cola nehmen wir kein Geld an", sagt WHO-Direktor Gaudenz Silberschmidt. Tatsächlich hat ein mit ernährungsbedingten Krankheiten befasstes WHO-Forum 50.000 US-Dollar von Coca-Cola genommen und dazu je 150.000 von Nestlé und Unilever. Das fanden Reuters-Rechercheure ebenfalls 2012 heraus. Vom Einfluss der Nahrungsmittelindustrie auf die WHO und der weltweiten Pandemie an Fettleibigkeit und Diabetes profitiert derweil auch Big Pharma: Der weltweite Umsatz mit Diabetes-Medikamenten wird 2017 55 Milliarden US-Dollar erreichen.
"Dahinter steckt, wie ich finde, eine schon fast perverse Arbeitsteilung: Dass auf der einen Seite die Getränkeindustrie, die große Nahrungsmittelindustrie, wesentlich dazu beiträgt, dass diese Krankheiten sich in den Ländern des Südens, in aller Welt ausbreiten können. Und auf der anderen Seite dann die Pharmaindustrie und die medizintechnische Industrie sozusagen die Antworten liefert. Und da kann doppelt verdient werden: Einmal an der Verursachung des Problems und dann an der Behandlung des Problems."
Die Pharmaindustrie ist heute die profitabelste Branche überhaupt – dank astronomisch hoher Preise für, zum Beispiel, gut wirkende neue Krebsmedikamente. Die zehn größten Konzerne machten 2016 400 Milliarden Dollar Umsatz. Der größte, Pfizer, erwirtschaftete eine Umsatzrendite von satten 17 Prozent. WHO-Direktor Gaudenz Silberschmidt will nun wenigstens für Transparenz sorgen. Auf der Basis des neuen Rahmens für das Engagement nicht-staatlicher Akteure will er durchsetzen, dass jeder, der mit der WHO zu tun hat, seine Karten auf den Tisch legt.

"Wir möchten eine starke, unabhängige WHO"

"Wir sind jetzt am Prozess in den kommenden eineinhalb Jahren anzuschauen: Welche Organisation ist wie aufgebaut? Und wir werden in Zukunft nicht nur die Firmen selber als Privatsektor behandeln, sondern auch Organisationen, die unter starkem Einfluss vom Privatsektor stehen. Kennen Sie eine andere Organisation, die von allen Akteuren, mit denen sie zusammenarbeitet, den gesamten Vorstand, die gesamte Finanzierungsstruktur, die Aktivität auf dem Internet publiziert? Die WHO wird die erste sein, die das macht."
Im Genfer Gebäude des Weltkirchenrats hat Thomas Schwarz ein kleines Büro. Er ist Initiator des Geneva Global Health Hub, eines Informationsdienstes zu Fragen internationaler Gesundheitspolitik. Schwarz erzählt mit bisweilen resigniertem Unterton aus der Geschichte der WHO, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr in Abhängigkeiten verhedderte und immer weniger handlungsfähig wurde. Aber man dürfe nie aufgeben.
"Wir haben ja unseren Traum: Wir möchten eine starke, unabhängige WHO, die öffentliche Gesundheit vertritt, die das Menschenrecht auf Gesundheit gegenüber kommerziellen Interessen einfach verteidigt, die an den Grundlagen der Gesundheit und an den krankmachenden Verhältnissen arbeitet und da eine starke Stimme ist, und die selbstbewusst eine Führungsrolle inne hat in diesen globalen politischen Prozessen."
Erneut sagt Thomas Schwarz "aber" und schüttelt nachdenklich den Kopf.
"Ich denke, die Zeit ist nicht da für eine Stärkung solcher Institutionen. Es ist die Zeit der nationalen Interessen. Es ist die Zeit des Populismus und das heißt auch der einfachen, griffigen, schnellen, billigen Lösungen. Es ist immer noch die Zeit der Schwächung der Staaten, auch der finanziellen Schwächung der Staaten zu Gunsten einer stärkeren Wirtschaft. Es bräuchte wohl eine kleine Revolution, auch eine gesellschaftliche. Es braucht eine wirklich ungeduldige und fordernde Zivilgesellschaft, die sich gegenüber diesen wirtschaftlichen Partikularinteressen endlich mal deutlicher zu Wort meldet. Und ich spür das zu wenig."

Anmerkung vom 07.05.2020: Wir haben die Überschrift präzisiert.
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