Weltkriegsdämmerung

Nur sehr selten stellen wir Bücher vor, die es noch nicht in einer deutschen Übersetzung gibt, für die heutige Ausnahme gibt es aber eine überzeugende Begründung: Den Literatur-Nobelpreis. Der geht in diesem Jahr an den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio, und rein zufällig ist nur rund einen Monat vor der Bekanntgabe der Nobelpreisvergabe ein neuer Roman von Le Clézio in Frankreich erschienen.
Knapp eine Woche vor der Verleihung des Literaturnobelpreises stand in der wöchentlichen Literaturbeilage von Le Monde die Besprechung des im September erschienenen Romans "Ritournelle de la faim" von J.M.G. Le Clézio. Ein großer Artikel auf Seite drei, der deutlich macht, dass Le Clézio einer der wichtigen Autoren Frankreichs ist, doch eben nur einer von vielen, dessen Bücher wahrgenommen werden, ohne indes Sensation zu machen.

Doch kommt der Roman zum rechten Zeitpunkt, denn er verbindet viele der Elemente, die Le Clézios Arbeit kennzeichnen, zu einem glücklichen Ganzen und wird in der Übersetzung sicher auch das deutsche Publikum für den Autor begeistern können. Das wohl Preiswürdigste an seinem Schreiben, das auch von den Stockholmer Juroren gelobte "poetische Abenteuer", kommt hier bereits im Titel Ritornell des Hungers zum Ausdruck.

Nun hat sich die Bedeutung des Wortes Ritornell im Laufe der Jahrhunderte häufig gewandelt: War es zunächst eine italienische Gedichtform, wurde es dann eine Art der musikalischen Wiederholung, speziell eine Melodie vor jeder Strophe eines Liedes, um schließlich im heutigen Französisch - auch im Sinne von Refrain - die Wiederkehr des ewig Gleichen zu bedeuten. Dies zeigt bereits, wie präzis und spielerisch zugleich Le Clézio die Sprache einsetzt. Dass der Hunger nicht allein ein physiologischer ist, offenbart bereits das Motto des Roman, die ersten Strophen des Gedichtes "Feste des Hungers" von Arthur Rimbaud.

Die eigentliche Romanhandlung ist in eine autobiographische Klammer gefasst, wenige Seiten zu Beginn und am Ende. Zuerst erinnert der 1940 Geborene an die eigene, frühe und heftige Erfahrung des Hungers und das Glück der Sättigung, Erlebnisse, die ihn nach eigener Aussage tief geprägt haben. Abschließend wandelt er dann durch Paris auf den Spuren seiner Geschichte, die auch die Geschichte der Judenverfolgung ist, um in einer Art Anhang die Familiengeschichte mit Musikalischem und Historischem zu verweben.

Wie schon in einem seiner schönsten Romane, "Wüste", geht Le Clézio hier das Wagnis ein, aus der Perspektive eines Mädchens zu erzählen, was oftmals das Risiko von Pseudo-Naivität oder gar Kitsch in sich birgt, zwei Klippen, an denen er gewiss nicht scheitert. Vielmehr gelingt es ihm, ebenso intensive wie unverfälschte Gefühle eindringlich dazustellen, ohne dass er sie ausführlich schildern müsste.

Der starke Eindruck, den der Besuch des Indischen Hauses der Kolonial-Ausstellung an der Hand des geliebten Großonkels Monsieur Soliman auf die kleine Ethel macht, vermittelt sich dem Mädchen durch die untergründige Emotion des alten Mannes, der das Haus gekauft hat, um es in seinem Garten aufzustellen. Welche Sehnsucht nach einem früheren Leben darin zum Ausdruck kommt, wird lediglich angedeutet in den wenigen Sätzen, in denen Soliman sich die Einrichtung vorstellt, die Vorfreude, endlich wieder den alten Berberteppich ausrollen und die afrikanischen Statuen an einem passenden Ort aufstellen zu können, oder sie zeigt sich in einem lakonischen: "Es regnet viel in Paris ... "

Und der Traum von diesem Haus, das nie aufgestellt werden wird, durchzieht wie ein Refrain den Roman, in dem die junge Heldin in Salongesprächen zunächst vom Aufstieg Hitlers erfährt und im Krieg dann, wie viele andere auch, schneller erwachsen wird, als ihr lieb ist.

Rezensiert von Carolin Fischer

Jean Marie Gustave Le Clézio: Ritournelle de la faim
Gallimard, Paris September 2008
209 Seiten. 18 Euro
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