Und der Herr schiedsrichtert
Fans sind von einer Gottheit in Raserei versetzte Enthusiasten. Stellt sich die Frage, wer bei der WM diese Gottheit ist. Ein Beitrag über die Suche nach dem Fußballgott und die Parallelen von Fußballspiel und Gottesdienst.
"Wenn wir in die Tiefe gehen, könnte das Phänomen einer fußballbegeisterten Welt uns mehr geben als bloße Unterhaltung."
Mit diesem "Wort zum Sonntag" machte im Juni 1978 Joseph Kardinal Ratzinger auf sich aufmerksam. Der Erzbischof von München zur Weltmeisterschaftsendrunde in Argentinien, das ließ Fußballbegeisterung vermuten. Aber das Interesse des späteren Papst Benedikt war rein theologischer Natur. Ganz anders beim Argentinier Jorge Bergoglio, der soll recht aktiv auf den Bolzplätzen von Buenos Aires unterwegs gewesen sein. Benedikts Nachfolger Franziskus als katholischer Priester, wie man ihn in Europa allenfalls aus Hollywoodfilmen kennt: kein Feingeist, sondern ein hemdsärmeliger Missionar, der eine Jugend ohne Gott, der die verwahrlosten Kids mit Fußball von der Straße holt. Da erübrigt sich die Frage "Wer glaubt mehr an den WM-Titel?"Aber vor dem großen Finale mochte sich die Zeitungsbeilage "11 Freunde täglich" diesen Leistungsvergleich nicht verkneifen, illustriert mit einem Foto von Benedikt, dem Deutschen, im Gebet neben Franziskus, dem Argentinier.
Kritik an quasireligiöser Euphorie
Stürmerstars, die am Spielfeldrand beten oder nach Luft schnappend vor dem Mikrofon des Feldreporters Gott lobpreisen und danken. Ein Torhüter, der zwei Elfmeter pariert – in den Augen seiner Landsleute gesegnet mit den "Händen Gottes". Das alles kündet von einem Glauben, der WM-Träume wahr werden lässt – für Argentinien! Auch Brasiliens Nationalspieler, Halbgötter in gelb-grün, gaben inbrünstig die Vorbeter, schworen – mit Tränen in den Augen – ihre Nation auf den Erfolg ein. Leonardo Boff, bekennender Fußballnarr und im wirklichen Leben Befreiungstheologe, kritisiert diese quasireligiöse Euphorie, die für kurze Zeit soziale Gräben überwindet, doch am Ende keinen Trost bereithält für die Verlierer. Aber die gehören seit jeher zu jenem Spiel, über das der Münchner Kardinal Ratzinger 1978 so salbungsvoll fabulierte:
"Es ist eine Art von versuchter Heimkehr ins Paradies."
Die Wahrheit auf dem Platz bleibt schlicht und einfach: Im Stadion ist Gottesdienst. Rundherum die Fan-Gemeinde. "Fanaticus", lateinisch: der von einer Gottheit in Raserei versetzte Enthusiast. Für die katholische Amtskirche bedeutet es: heidnische Kultdiener. Für die Protestanten: Sektierer, die an die Stelle der institutionell vermittelten Quelle der Einsicht die Unmittelbarkeit der Intuition zum Prinzip erheben. Genau diese Intuition, das zauberhafte Gespür für Torchancen, die instinktiv angesetzten Flugeinlagen und Hackentricks hat Hans Ulrich Gumbrecht als Epiphanie identifiziert, als "Geschenke und Göttergaben" im Gegensatz zur bloß antrainierten, geplanten und kalkuliert abgerufenen "Leistung". Was der Kulturwissenschaftler theoretisch formulierte, macht jetzt eine Liveübertragung nach der anderen anschaulich: In Großaufnahme knien Spieler aus Kolumbien, Costa Rica oder eben aus Argentinien nieder und bekreuzigen sich – nach dem erfolgreichen Torschuss, nach der Erlösung.
Deutsche Spieler setzen nicht auf göttlichen Beistand
Die Deutschen gehen es profaner an. Müller, Lahm und Co. setzen weniger auf Erscheinungen und göttlichen Beistand als auf jenen nüchternen Umgang mit Räumen und Linien, den ein Fußballhistoriker zuerst bei den Holländern beobachtete. Nicht als Religion und Glaubenssache, sondern ganz materialistisch hervorgegangen aus dem "geometrischen Nationalcharakter" von Menschen, die im Lande Mondrians, zwischen schnurgeraden Fahrradwegen und rechteckigen Tulpenfeldern aufgewachsen sind. Mag sein. Aber auf deutscher Seite spielt womöglich das Trauma der jüngsten Geschichte mit, jene unselige Parole "Gott mit uns", die zuletzt noch auf den Koppelschlössern der Wehrmachtssoldaten in ferne Länder getragen wurde. Dann gab es 1954 ein „Wunder von Bern", der Reporter Herbert Zimmermann schrie im ersten Überschwang:
"Turek, du bist ein Fußballgott!"
Doch seither schweigt man lieber.
Als "Fußballgott" kommt letztlich weder der hochbezahlte Superstar in Frage noch das runde Leder selbst, sondern nur eine höhere Instanz: Der Schiedsrichter, früher in teuflischem Pechschwarz, neuerdings gewandet in dezent abgestuften, regelrecht liturgischen Farben. Gottgleich fällt er seine unabänderlichen Entscheidungen, alle müssen sich ihm unterwerfen. Das erhöht die Spannung und gibt nach dem Spiel reichlich Stoff, im Kollektiv, als "Gemeinde" mit dem Schicksal, dem Gottesurteil zu hadern. So blüht Fußball-Religion. Nicht in jenem "Paradies", in das der Kardinal Ratzinger den Fußball schicken wollte – und das Ödön von Horvath mit seinem "Pfarrer von Kirchfeld" geschildert hat:
"Er erzählt ihnen aus der Bibel und sie hören alle andächtig zu. Und dann spielen die Buben auf einer Wiese gegeneinander Fußball und der hochwürdige Herr schiedsrichtert dabei. Und er ist ein gerechter Unparteiischer."
Wie langweilig. Das Spiel nicht mehr als Ereignis, sondern eine Rechenaufgabe. Es wäre die Hölle.