Weltoffener Patriotismus?

Von Paul Stänner |
Es ist die Geschichte Deutschlands, die seinen ausländischen Beobachtern, aber auch seinen Bürgern zu schaffen machte und auch noch macht. Sich als Patriot zu bekennen fiel schwer. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland vor einem Jahr hat Wahrnehmungen verändert.
Die Deutschen und ihr Vaterland – das war seit 1945 eigentlich immer die Frage: Die Deutschen und die Vergangenheit ihres Vaterlandes. Dräuend hingen schwarze Wolken über allem, was deutsch war: Afrikanische Kolonialgeschichte mit Massenmorden an Herero-Aufständischen, Imperialismus 1914 –18, Hitlerzeit, Judenmorde, die Verwüstung Europas, es gab sogar einen Zeitungskommentar, in dem von so etwas wie einem deutschen Gen fabuliert wurde, das immer dann, wenn es mit dem Ausland in Verbindung kommt, Unheil anrichtet. Notwendig und immer. Wie wenig stabil und schlüssig das Verhältnis der Deutschen, oder zumindest ihrer historisch-politischen Klasse zu ihrer Vergangenheit und ihrem Land war und ist, zeigen einige Beispiele aus den letzten Jahren.

Da schaffte es 1998 der Schriftsteller Martin Walser, in einer Rede das Wort von "Moralkeule" zu verwenden, mit der die Deutschen geprügelt würden, wann immer sie das Haupt erhöben. Er sagte:

"Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt."

Walser mochte nicht mehr zuhören. Nach starker öffentlicher Aufwallung sank Walsers Reputation ins Bodenlose.

Ein anderer in England lebender deutscher Schriftsteller, Winfried G. Sebald, prangerte 1999 in einem Essayband das Schweigen der deutschen Literatur über die Schrecken des Luftkrieges an – dieses Thema sei in der deutschen Literatur quasi nicht existent. Damit eröffnete er eine Debatte über den Bombenkrieg – nicht der Deutschen gegen Rotterdam und Coventry, sondern der Alliierten gegen Hamburg und Dresden. Drei Jahre später folgte ein Sachbuch mit dem Titel "Der Brand" von Jörg Friedrich – ein Skandalerfolg, weil auch hier der Bombenkrieg aus der Sicht der deutschen Opfer beschrieben wurde, eine Sicht, die bisher verpönt war, galt doch die Ausradierung deutscher Städte als nur allzu gerechte Strafe für den Krieg, mit dem Nazideutschland Europa verheert hatte.

Die Beispiele zeigen, dass allmählich Themen denkbar wurden, die vorher nicht denkbar waren, weil jede Erinnerung an die Nazi-Zeit einzig und allein Scham, Trauer und Schuldgefühle zur Folge haben durften. Ein Skandal mit recht unterhaltsamen Zügen waren vor kurzem die Memoiren des Schriftstellers Günter Grass, der sich stets als personifizierte Moralkeule gegen die braunen Überreste begriffen hatte. In einer spontanen Erinnerung war ihm beigefallen, dass er ja selbst in den Endtagen des Nazireiches bei der Waffen-SS gewesen war. Er hatte es vergessen – so, wie viele andere vieles vergessen hatten. Anschließend erregte er sich in ehrlicher Empörung darüber, dass man um seine Enthüllung soviel Aufregung mache – auch da verhielt er sich wie so viele andere, die er stets an ihre Vergangenheit erinnert hatte.

Nun schien endgültig das jahrzehntelange Aufrechnen der Moralisten gegen die Mitläufer ein lächerliches Ende gefunden zu haben, wäre nicht dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger noch das Eigentor gelungen, den belasteten Ex-Marinerichter und Ex-Ministerpräsidenten Georg Filbinger im Grab zum Widerstandskämpfer zu verklären – ein publizistischer Supergau, der nur durch vorsätzliche Geschichtsklitterung oder blanke Dummheit zu erklären war.

Wie auch immer – die Bewältigung der braunen Vergangenheit, die immer wie eine Pestwolke über diesem Land gelegen zu haben schien, war im Verlauf der letzten Jahre in ihr possenhaftes Endstadium getreten. Und dann kam etwas ganz anderes: die Fußball-Weltmeisterschaft und ein völlig neues Bild der Deutschen von ihrem Vaterland.

Fragt man sich: Wer sind wir?, dann fragt man beispielsweise Eric T. Hansen, einen amerikanischen Journalisten, der in Berlin dort lebt, wo einst Marlene Dietrich geboren wurde. Seit mehr als 20 Jahren lebt Hansen unter den Deutschen und er hat sie in zwei Büchern beschrieben.

"Es gibt zwei Arten von Patriotismus. Patriotismus ist ja nichts anderes als das Sich-Bekennen zum Land, also dass man sagt, ich liebe mein Land, aus welchen Gründen auch immer. Es ist nicht Nationalismus, es ist einfach eine Liebe zum Land. Es gibt zwei Möglichkeiten, das auszudrücken: Eine Möglichkeit ist diese amerikanische Art: Mein Land ist einfach besser als alle anderen, es ist das größte Land der Welt, es ist toll, es ist unschlagbar, ich liebe es einfach, auch wenn wir Fehler machen, es ist einfach ein geiles Land und ich liebe das Land. Das ist diese Begeisterung. Und die andere Möglichkeit ist zu sagen: Ja, über mein eigenes Land möchte kein Urteil abgeben, weil, wir machen Fehler und ich möchte nicht genau sagen, dass ich mein Land liebe, aber etwas was ich sagen kann ist, die anderen Länder drumherum, die sind alle schlechter ... Und das ist eine Art Inverse-Patriotismus, den die Deutschen betreiben. Der Vorteil ist, dass sie sich selber in den eigenen Augen nicht in die Nähe von Nationalismus setzen müssen."

Paul Nolte ist Historiker an der Freien Universität Berlin und sitzt in einem kleinen Büro in einem modernen Wissenschaftsbau, der so öde aussieht, als habe der Architekt einen Plan verwirklicht, der beim sozialen Wohnungsbau in den Müll geworfen wurde.

"Ja, da waren die Deutschen doch gebrannte Kinder ihrer eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert, vor allem als die Emotionen und die Vaterlandsliebe mit ihnen durchgegangen sind in einem übersteigerten Nationalismus, der dann ja auch ein Bestandteil des Nationalsozialismus, der nationalsozialistischen Ideologie gewesen ist, sich vor allen Dingen aggressiv nach außen gewendet hat, in dem auch Symbole und auch die ganze Emotionalität missbraucht worden sind. Nicht unbedingt die Symbole, die heute unsere demokratischen Symbole sind, also gerade nicht die schwarzrotgoldene Fahne, die ist nun nicht von den Nazis gebraucht und missbraucht worden, aber dieses Tabu, dieses Unsicherheitsgefühl im Umgang mit Begeisterung, mit Massen, die sich für Patriotismus, für Nation engagieren, das ist geblieben."

Über die Jahrzehnte seit Ende des Krieges pflegten die Deutschen - sagen wir: die Westdeutschen - ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Land. Sie nannten die verfassunggebende Versammlung die Mütter und Väter der Verfassung, aber dann war auch schon Schluss mit der Gefühlsduselei. Bundespräsident Gustav Heinemann antwortete auf die Frage, ob er Deutschland liebe mit dem öffentlichen Bekenntnis, er liebe seine Frau. Liebe zum Vaterland, das gab es nicht. Es gab lediglich einen sehr kühlen, intellektuellen "Verfassungspatriotismus", der das Grundgesetz vernünftig fand, der aber für das Land, in dem es galt, keine Empfindungen hatte. Stattdessen galt ein tiefes Misstrauen gegen jegliche nationale Gefühlsregung.

Hansen: "Die Emotionen sind schon da, glaub ich, in Deutschland, die waren immer da, die sind mehr jetzt da. Das Problem war, man durfte sich nicht mit den Institutionen des Landes identifizieren. Eine deutsche Eiche ist ein altes Identitätsmerkmal, es wurde bei den Nazis auch gebraucht, oder missbraucht oder einfach gebraucht und eine Eiche darf man nicht mehr umarmen.
Es ist schon bezeichnend, dass man Vaterland sagt, und Vater Rhein und so weiter ... das ist schon lustig."

Die meisten Völker haben eine Mutter als allegorische Gestalt für ihr Land, ihre Nation, ihre Heimat - die Deutschen haben einen Vater. Das Vaterland fordert wie ein Familienoberhaupt Unterordnung, Gehorsam und Respekt, im Gegenzug liefert es Schutz, Sicherheit, Ruhe. Keine Liebe. Und so scheint auch die deutsche Politik das widerspenstige Verhalten heranwachsender Jugendlicher gegen ihren autoritären Vater widerzuspiegeln.

Hansen: "Ich finde eine Menge an deutscher Politik, vor allem deutsche Politik von der Basis aus, ist manchmal pubertär, es ist manchmal sehr auf Reaktion gepolt – sehr auf 'das wollen wir nicht'. Ich hab das Gefühl, die Deutschen gehen jeder Lösung, jeden Vorschlag und jeden Vorstoß anschauen und sofort versuchen (sie), den Fehler darin zu finden, weil sie es ablehnen wollen. Es kommt von oben und die müssen es ablehnen, auf irgendeine Weise. Die müssen zeigen, dass sie überlegen sind über das, was der Papi oben einem vorschreibt. Was sie aber nicht tun ist ein Gegenvorschlag. ... Das ist schon eine pubertärer Art sich aufzulehnen, neinneinnein, alles was Papi sagt ist falsch, es ist einfach schlecht."

Diese Lust am Nein-Sagen, am Nörgeln, am Aufspüren von Negativen, die in einer fast fundamentalen, humorlosen Unsicherheit mündet, ist Eric Hansen stark aufgefallen. Im englischen Sprachgebrauch ist dieses Verhalten schon als German Angst bekannt – das ist die typisch deutsche Angst vor allem und jedem, besonders, wenn es in der Zukunft liegt. Aber ungeachtet unserer Neigung zum Negativen erscheinen wir irgendwie überraschend liebenswert:

Hansen: "Ich habe vor ein paar Wochen gesprochen mit ein paar Freunden aus England und die sitzen hier, die leben hier in Deutschland, die wollten nie nach Deutschland kommen. Sie wissen ja: England glaubt, dass Deutschland alles nur voll Nazis sind. Die sind hier des Berufs wegen kommen und die sitzen hier mit zwei Kindern und die sagen jetzt: Ich würde nie woanders leben, wenn ich könnte, würde ich nur in Deutschland leben. Deutschland ist organisiert, kinderfreundlich, menschenfreundlich, alles ist möglich hier, es ist ein tolles, super Land. Und dann sagten die etwas: Und wissen Sie was, meine Freunde, die damals mich besuchen kamen zur WM, weil die WM hier stattfand und die mussten endlich nach Deutschland kommen, die sagen alle jetzt, dass Deutschland ein tolles Land ist, weil die wurden gut aufgenommen, die sahen, wie toll alles ist und die hatten eine Menge Spaß. Vor der WM wären die nie hierhin gekommen, die hätten auch keinen Grund gehabt, hierhin zu kommen und die würden nie erfahren, was für tolle Leute die Deutschen sind."

Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft dämmerte den Deutschen, dass hier ein geschichtsträchtiges Großereignis auf sie zukam. Und sie reagierten, wie man es zuverlässig von ihnen erwarten durfte – mit Zukunftsangst und Unsicherheit. Denn dann kam Jürgen Klinsmann – der neue Trainer aus dem fernen Amerika hatte Kenntnisse, die hier niemand hatte. Da machte man sich Sorgen. Seine Methoden waren neu, also abzulehnen, und so außergewöhnlich, dass die Altvorderen von blankem Entsetzen heimgesucht wurden. Die "Bild"-Zeitung war dagegen und der Bundestag bot in Sorge um das Wohl des Landes Hilfe beim Training der Nationalmannschaft an.

Und dann war sie da – die Weltmeisterschaft. Es schien, als hätten zum ersten Mal die Deutschen quer durch alle Gruppierungen, durch alle politischen Lager, durch alle Bibliotheken voll skeptischer Literatur hindurch Spaß daran, deutsch zu sein.

Martenstein: "Das war wahrscheinlich der erste historische Augenblick, in dem man deutsche Volksmassen auf der Straße erlebte, ..."

Harald Martenstein, Buchautor und Kolumnist von "Zeit" und "Tagesspiegel", in einem kargen Büro an der Potsdamer Straße, 15 Minuten vom Reichstag.

"... die schwenkten Fahnen und die wollten wirklich nichts anders tun als sich betrinken und feiern - für Sex waren es ein bisschen wenige Frauen, obwohl es ja mehr waren als üblich - und sowohl (wir müssen ja gar nicht über das Dritte Reich sprechen) bei der Novemberrevolution als auch bei 1848 und dann natürlich - die Nazis hatten ja andere Farben, da war es nicht schwarzrotgold bekanntlich - aber immer, wenn in Deutschland nationale Farben geschwenkt wurden, dann wollte man die Obrigkeit weghaben und jetzt wollte man Red Bull trinken stattdessen."

Auf den Fanmeilen hüpften begeisterte Fußballanhänger und in den Seitenstraßen sah man Polizisten in schwerer Kampfmontur, die mit Kopfhörern über den Ohren vor ihren Mannschaftswagen tanzten. Die Deutschen machten nach innen und nach außen einen richtig netten Eindruck – nur unserer Politiker wirkten verunsichert, weil sich für sie die Liebe zum Vaterland mit rauchenden Fackeln und dem Großen Zapfenstreich verband, aber nicht mit Straßenfesten. Alle Beteiligten mussten viel lernen.

Thierse: "Ich war auf freundliche Weise überrascht, …"

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse blickt aus seinem Büro auf die grazilen Statuen auf dem Dach des Bundestages:

"dass das sechs Wochen wunderbaren Wetters und guter Laune waren und hatte die Beobachtung, dass fast alle Deutsche überrascht waren gewissermaßen, wir waren über uns selber überrascht, dass wir auch guter Laune sein können, nachdem wir doch von uns so überzeugt waren, dass wir doch das Volk in der Welt seien, dass die schlechteste Laune hat, egal was los ist."

Deutschland blieb sich treu – die inoffizielle WM-Hymne war eher ein Klagelied, wie es zu einer Büßerprozession gepasst hätte ...

... doch trotz der inbrünstig beschworenen Mühsal eines steinigen Weges herrschte eine Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, wie man sie den Deutschen nicht zugetraut hätte. Die Regierung nutzte die allgemeine Hochstimmung und erhöhte die Mehrwertsteuer – niemand protestierte.

Martenstein: "Das sind nicht neue Deutsche gewesen. Das sind die Deutschen gewesen, die in den letzten zwanzig, dreißig Jahren halt herangewachsen und die plötzlich das Thema Deutschland für sich entdeckten bei dieser Gelegenheit, würde ich sagen. Deutschland ist für die ja eigentlich so was wie eine geile Marke gewesen, so wie man bestimmte Schuhe gut findet, vielleicht auch nur für eine oder zwei Jahre gut findet, dann kommt eine andere Marke und löst die ab, so hat man in diesem Sommer halt Deutschland gut gefunden."

Am 8. Juli war es vorbei – Deutschland hatte mit gutem Fußball den dritten Platz in der Weltmeisterschaft gemacht und fühlte sich, als sei es der erste. Was ihre Qualitäten als internationale Gastgeber offenbar noch steigerte – deutsche Höflichkeit bekam herausragende Noten in der Weltpresse und England musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass die Deutschen Humor haben.

Hansen: "Die Deutschen sind, auch wenn die sich selber für unfreundlich halten, und auch wenn sie nicht lächeln, sind die eigentlich freundlich, hilfreich, die wollen auch Gutes tun, die wollen nett sein zu den Leuten, die versuchen auch englisch zu sprechen mit den Besuchern, das war auch vorher da, das war nicht so spaßig, aber die Deutschen waren immer, oder seit sehr langer Zeit, eigentlich nette Leute."

Was ihnen wohl früher selbst nicht aufgefallen war. Bei der Straßenumfrage einer Fernsehanstalt sagte ein Passant, ein Deutscher, ihn wundere diese Fröhlichkeit nicht. Sonst, sagte er, sieht man im Fernsehen immer nur die Idioten – er meinte damit die Springerstiefel aus der rechten Szene – und jetzt sehe man endlich auch mal die ganz normalen Guten. Kolumnist und Berufsbeobachter Harald Martenstein:

"Die Neonazis sind ja ganz offensichtlich ratlos gewesen bei diesem Anblick. Die haben keinen Spalt gesehen, wo sie ihren Fuß hätten reinstecken können, das war eine nationale Begeisterung, mit der die Nationalisten nichts anfangen konnten, das ist schon bizarr und deswegen hat man das Gefühl noch heute, dass NPD und DVU, diese Nazipartien, dass das auf einer ganz anderen Schiene spielt. Da verbindet sich das Nationale ja mit der Angst vor sozialem Abstieg, das heißt, das ist so ein defensiver und eher an den sozial gefährdeten Schichten orientierten Nationalismus. Die nationale Begeisterung während der Fußball-Weltmeisterschaft hatte ja nichts Defensives oder Angstbesetztes, das war das genaue Gegenteil."

So gesehen gab es die Guten immer schon, aber im Verborgenen. Beruhte das schlechte Verhältnis der Deutschen zu Deutschland, diese Grießgrämigkeit, diese "Es-wird-alles-noch-viel-schlimmer" Mentalität, diese "Wir-sind-das-Letzte" Klage" womöglich nicht auf Fakten, sondern nur auf einer übellaunigen Selbst-Wahrnehmung? Eric T. Hansen unterstützt den Verdacht mit einem Beispiel:

"Es ist auf jeden Fall Wahrnehmung. Es gibt zwei Studien – die erste war von einem Kanadier, der hat versucht, das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" zu finden und er eine Studie darüber gemacht, inwiefern es leicht ist, in einem Land sich selber aus der eigenen Situation hochzuarbeiten, also durch eigene Initiative irgendwo anzukommen. Und er hat gefunden, dass eines der niedrigsten Länder in sieben Ländern, die er erforscht hat, war die USA – das hat mir ein bisschen weh getan. Traditionell ist das ja das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist schwieriger dort als zum Beispiel in Schweden. In Schweden war es am leichtesten, sich aus der eigenen Situation hochzuarbeiten, und in dem oberen Drittel, über Frankreich und England, war Deutschland. Deutschland ist eher das Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Amerika. Gleichzeitig gab es eine Studie von der Pew Research Group, der Menschen in zwanzig Ländern gefragt hat, ob sie glauben, dass ihr Schicksal von ihrem eigenen Tun abhängt oder von den Einflüssen anderer, von äußeren Umständen. In Indien haben 52 Prozent der Menschen gesagt: Unser Schicksal hängt von äußeren Umständen ab, wir können nichts dagegen tun. In Deutschland sagten 68 Prozent der Menschen, also über zwei Drittel der Menschen: Wir glauben, unser Schicksal hängt von äußeren Umständen ab. Was sie geglaubt haben, war in genauem Gegenteil zu der faktischen Realität. Man glaubt in Deutschland, dass das hier nicht möglich ist."

Dass ausrechnet Deutschland das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei, hätte man so ...

"... es gibt eine sehr starke Neigung in Deutschland zu kritisieren. Man hält die Kritik für etwas sehr Wichtiges und - wenn einer kritisieren kann, dann gilt er als intellektuell überlegen, auch als moralisch überlegen, als einer, der die Wahrheit sucht und kennt und einer, auf den man hören muss und so weiter. ... Ganze Generationen sind darauf gepolt, zu kritisieren und wie ich es sage, zu nörgeln. Also etwas Negatives zu finden, und so ist es klar, dass keiner hier auf der Straße stehen kann und sagen kann: Deutschland ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Er würde sich wie ein Idiot vorkommen."

Aber ist dieser scheinbar neue Patriotismus nicht eher der spektakuläre Höhepunkt einer emotionalen und intellektuellen Entwicklung, die begonnen hat als die Mauer fiel, als der Hauptstadtbeschluss verabschiedet wurde, als in Berlin eine neue weltläufige Architektur die Selbstdarstellung der Republik veränderte? Hat es die Berliner Republik in ihrer kurzen Geschichte geschafft, dass die Bürger ein herzliches, ja begeistertes Verhältnis zu ihr entwickelt haben, ein Gefühl, das der Bonner Republik versagt geblieben war?

Martenstein: "Ich hab den Eindruck, dass man das nicht überschätzen sollte, dass das nicht so wahnsinnig tief geht, das Ganze. Dieses Gefühl Deutschland gegenüber, das sich da ausdrückte, zweifellos ein positives Gefühl, ist ganz sicher nichts, bei dem man die Leute so packen könnte, dass man sagt: Ihr gebt jetzt euer Leben für Deutschland. Ich rede jetzt gar nicht von so einem Angriffskrieg oder so was Faschistischem oder so, sondern einfach so, dass man sagt: Mein Vaterland, ich geb’ dir alles, ich geb’ alles hin für dich, wo ist das Langemarck, das ich da erstürmen darf, zeigt’s mir! So tief geht das wahrscheinlich nicht."

Harald Martenstein – und der Vizepräsident des Bundestages merkt an:

Thierse: "Ich glaube, man sollte das Ereignis der Fußball-Weltmeisterschaft und die Begeisterung und die emotionalen Aufschwünge der Deutschen auch nicht überbewerten. Es war wirklich eine Ausnahmesituation. Wenn ich mir vorstelle, es hätte vier Wochen lang geregnet, ich glaub die Begeisterung wäre nicht so groß gewesen."

Martenstein: "Die Leute, die gefeiert haben, waren ja nicht nur einerseits die sogenannten Deutschen, das ist ja gar kein so fester Begriff mehr und die Migranten und die Migrantenkinder - da standen ja so ganz verschiedene Leute, die verschiedene Optionen haben, die sind vielleicht nächste Woche schon Spanier, wenn sie ein spanisches Elternteil haben oder die wandern in zehn Jahren vielleicht, wie so viele unserer Landsleute, nach Kanada aus und lassen sich einen kanadischen Pass geben und sitzen dann in Kanada am Kamin und sagen: Na ja Deutschland ist vielleicht auch so ganz schön gewesen damals, vielleicht gehen wir wieder zurück. Das sind alles nicht mehr so unwandelbare Sachen: Ich bin deutsch und ich bin verwurzelt wie eine Eiche und hier steh ich und im Herbst werfe ich mein Laub ab."

Thierse: "Aber es bleibt doch die Erinnerung daran, dass wir Deutschen guter Laune sein können, dass wir gute Gastgeber sein können, dass wir feiern können ohne Aggressivität und das, glaube ich, im Gedächtnis zu behalten ist wichtig. Das macht uns freier, souveräner und insofern als Volk auch europäisch normaler."

Dann wäre der Fußballsommer, das "Sommermärchen" aus 2006, ein erstes Signal dafür, dass wir Deutschen nach den Jahren der Unausgegorenheit endlich ein unaufgeregtes, nicht autodestruktives Verhältnis zu uns gefunden haben. Oder war alles nur eine Partylaune, ein Party-o-tismus, der nichts mit Politik zu tun hat? Historiker Paul Nolte:

"Ich glaube auch, das ist eine Übergangszone. Man sollte auch nicht den Versuch machen, das zu scharf zu trennen, auf der einen Seite ist sozusagen das Jubeln und der Spaß und der Sport und auf der anderen Seite ist der politische Patriotismus ... Eine Übergangszone, die besonders interessant ist aber auch hilfreich ist, wir kommen davon weg, dass der Patriotismus immer etwas ganz Schweres sein müsste und dass wir immer gleich den Anzug und die Krawatte anlegen müssen, wenn wir Patrioten werden wollen."

Woher aber in diesem historischen Moment die Leichtigkeit in diesem Land mit dieser drückenden Vergangenheit? Man könnte die These wagen, dass das beharrliche Nachfragen insbesondere der mittlerweile vielgescholtenen 68er Generation wie ein nationales Fegefeuer gewirkt hat, an dessen Ende die jüngere Generation, also die Enkel der 68er, ein freies, unbelastetes und fröhliches emotionales Verhältnis zu diesem Staat entwickeln konnten – auch wenn gerade die grau gewordenen 68er es waren, die oft den patriotischen Aufwallungen auf der Fanmeile instinktiv skeptisch gegenüber standen. Harald Martenstein, geboren 1953, über die 68er.

Martenstein: "Ich glaube schon, wenn man jetzt unter 68 versteht, Generationenkonflikt mit denen, die im Dritten Reich dabei waren, dann war das halt notwendig. Es war – muss man im Nachhinein sagen – wirklich vorhersehbar, dass diese Generation von Vätern und Müttern mit ihren Kindern größere Schwierigkeiten bekommen würde als die, die es üblicherweise immer gibt. Und genau so ist es gekommen, also ein besonders scharfer Generationskonflikt, der aber ausgeschwitzt ist, weil die Generation, um die es da geht, weitgehend verschwunden ist. Die Väter und Großvätergeneration, das sind jetzt heute die 68er, die eben so teilweise mit so einer gewissen Verbitterung abseits standen und das misstrauisch betrachtet haben, aber mit der Verbitterung von Leuten, die nicht verstehen, dass sie doch im Grunde gewonnen haben. Denn ich glaube, dass die 68er Generation doch schon sehr erfolgreich gewesen ist. Sie hat dieses Land geprägt, nicht nur wäre die Grüne Partei ohne sie undenkbar, auch so der ganze Alltag mit seinen locker gewordenen Umgangsformen, auch diese ganze veränderte Haltung zur Sexualität und Emanzipation, tausend Sachen kann man nennen, die mit den 68ern zu tun haben und wo sie erfolgreich waren. Und nun ist dieses Land tatsächlich anders geworden, und nun stehen ihre Kinder halt völlig anders zu diesem Land, das sie verändert haben. Da gibt es aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund für die 68er irgendwie verbittert zu sein, das ist ja ihr Erfolg."

Wohin jetzt mit dieser vielleicht auch nur oberflächlichen, vielleicht auch nur kurzlebigen, aber immer doch erinnernswerten Festlaune nationaler Begeisterung? Eine Verfestigung der Nationalstaaten ist historisch überholt, Deutschland-Deutschland-über-alles-funktioniert nicht mehr 50 Jahre nach den Römischen Verträgen, die die Vereinigung Europas eingeleitet haben. Also – ziehen wir fröhlich schwarzrotgold in Richtung Brüssel?

Thierse: "Unsere Nachbarn, egal ob Polen oder Franzosen, Tschechen oder Italiener oder Engländer, haben uns immer daran erinnert, dass es die Nation als wirkmächtige Kraft immer noch gibt und auch weiterhin geben wird. Also reden wir nicht von einem postnationalen Patriotismus, sondern einem nicht-nationalistischen Patriotismus ... Das ist vernünftig, aber wir dürfen uns nicht europäisch definieren als Negation der eigenen Nation – das wäre falsch. Sondern, dass das in einander aufgeht, miteinander zu tun hat, wir sind Deutsche und Europäer zugleich und im Übrigen sind wir natürlich vielfältige Individuen."

Aber kaum etwas wird uns daran hindern, zu bleiben, was wir nun einmal sind – in fröhlicher Vaterlandsliebe zutiefst misstrauisch gegen uns selbst. Eric T. Hansen:

"In Wirklichkeit ist Deutschland – verfassungsmäßig, demokratisch ist es ein Wunder, wirtschaftsmäßig ist es auch ein Wunder, eine der großen Errungenschaften der westlichen Welt in den letzten Jahren, und auch moralisch ist Deutschland ein Vorbildland. Also, wie die Deutschen geschafft haben, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, vielleicht nicht zu hundert Prozent, aber schon zu 99 Prozent, also viel besser als alle anderen Länder ... Deutschland ist ein erstaunlich vorbildhaftes und tolles Land – aber das darf man natürlich hier nicht sagen, weil - man würde als ein Idiot gelten."