Von Atatürk erobert, von Erdogan gehasst
22:15 Minuten
Europäisch, anarchisch und liberal – das ist Izmir, die drittgrößte Stadt der Türkei. Fanclub von Staatsgründer Atatürk, Trutzburg gegen Staatspräsident Erdogan und Hochburg der türkischen Opposition. Ist Izmir also eine gute Alternative zu Istanbul?
Die tief stehende Wintersonne spiegelt sich im blauen Wasser der Ägäis, es ist Montag Vormittag. Ein paar Fischer sitzen am Ufer, vereinzelt spazieren schon Leute auf der Promenade, dick eingepackt. Für Izmirer Verhältnisse ist es kalt. Atilgan Ugrel kommt mit seinem Motorrad angebraust.
"Ich erledige fast alles mit dem Motorrad"
Der 53-Jährige ist groß und schlank, mit seinem Motorradstiefeln wirkt er noch größer. Er zieht seinen warmen Motorradkombi aus. Ugrel wohnt etwas außerhalb von Izmir.
"Ich wollte immer Motorrad fahren. Das kam aber nie in Frage in Istanbul. Das war viel zu gefährlich und wo können Sie dann schon groß hinfahren. Sie müssen also immer aus der Stadt herausfahren. Und dafür lohnt es sich nicht, dann extra ein Motorrad zu kaufen. Und hier erledige ich fast alles mit dem Motorrad."
Erzählt er beim Kaffee am Pier – mit Blick auf das Meer. Atilgan Ugrel hat fast sein halbes Leben in Istanbul verbracht, konnte sich nicht vorstellen, wegzugehen. Vor gut sieben Jahren hat es ihn und seine Frau dann doch gepackt, sie sind nach Izmir gezogen. Er liebt das Meer, taucht das ganze Jahr über. Dafür hat er hier auch mehr Zeit, da weniger Arbeit.
Erdogans deutsche Stimme
Der gebürtige Kölner ist einer der wenigen deutsch-türkischen Simultandolmetscher in der Türkei, er übersetzt bei Events der UEFA, für Wirtschaftsdelegationen und ist bei internationalen Konferenzen auch mal Erdogans deutsche Stimme.
"In Izmir habe ich zum Beispiel keine Agentur, über die ich irgendwie zu Jobs vermittelt werden kann. Die sind alle in Istanbul. Das heißt, ich habe da Einbußen. Das habe ich aber in Kauf genommen, als ich mir hier niedergelassen habe. Ich hätte weitaus mehr Aufträge, wenn ich in Istanbul leben würde."
Aber das wollten er und seine Frau nicht mehr. Sie hatten irgendwann vor allem den unglaublichen Verkehr und die vielen Menschen satt.
Istanbul hatte sich verändert, war ihnen vor allem in den Randbezirken zu konservativ geworden.
"In Istanbul habe ich immer das Gefühl gehabt, dass all die Landbevölkerung, die nach Istanbul gezogen ist, versuchte, ihr Landleben auch in Istanbul zu verwirklichen. In Izmir ist es so, dass auch Menschen vom Land nach Izmir ziehen, aber die passen sich eher hier den Stadtgewohnheiten und dem Stadtleben an."
Er glaubt nicht, dass die Politik den Istanbulern einen religiöseren Lebensstil diktiert, allenfalls nütze sie die Entwicklung. Er sei kein politischer Mensch, sagt er und lächelt sanft. Ganz anders Ece und Sevket Uyanik. Das junge Paar war schon 2013 bei den Gezi-Park-Protesten auf dem Taksim-Platz in Istanbul mit dabei.
Damals hatten Tausende über Wochen auch gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan demonstriert. Ece Uyanik ist selbstbewusst, sie lacht viel. Dabei springen ihr die schwarzen Korkenzieher-Locken immer wieder ins Gesicht.
Nach den Wochen auf dem Taksim-Platz fühlte sie sich in Istanbul irgendwie beobachtet. Die 29-Jährige fürchtete fanatische Erdogan-Anhänger.
"Im Bus oder sonst wo können dich solche Leute als Gülen-Anhänger oder Ähnliches bezeichnen. Deshalb habe ich mich irgendwie unsicher gefühlt. Aber wenn man sich hier im Bus, auf der Straße oder in einem Café unterhält, denken die Menschen alle eher wie ich. Deshalb fühle ich mich sicherer."
Die Schlinge zieht sich enger
Aber nicht ganz sicher. In der letzten Zeit geht die türkische Justiz wieder stärker gegen mutmaßliche Gezi-Park-Aktivisten und Organisatoren vor. Prominente Beispiele sind der türkische Kulturmäzen Osman Kavala und der Journalist Can Dündar. Sie wurden kürzlich wegen der Proteste vor sechs Jahren angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft.
"Das hat uns sehr beunruhig, wir haben uns gefühlt, als würde sich die Schlinge enger ziehen. Denn bei den letzten Razzien waren Leute darunter, die wir sehr gut kannten. Wir hatten das Gefühl, dass wir auch jederzeit in Haft genommen werden könnten. Obwohl wir in Izmir leben, ist uns nicht ganz wohl, weil es eben die Türkei ist."
"Es kam raus, dass der Staat seit 2013 Telefongespräche aufgezeichnet und auch nachverfolgt hat. Ich habe mit fast allen telefoniert, wir hatten Versammlungen bei ihnen zuhause, wir haben gemeinsame Projekte gemacht."
Ergänzt Sevket Uyanik. Dabei schaut der 34-Jährige seine Frau sorgenvoll an – ein seltener Gesichtsausdruck des doch sehr fröhlichen und engagierten Mannes.
Er trägt Vollbart und etwas längere Haare. Musik ist seine Leidenschaft, er spielt Gitarre und Klavier. Beruflich hat er sich auf IT-Sicherheit spezialisiert, er arbeitet auch mit deutschen Stiftungen zusammen. Sie haben einen Verein gegründet, der bei IT-Themen ähnliche Ziele wie die Piraten-Partei in Deutschland verfolgt. Da kämpft er für Datenschutz und Urheberrechte und gegen Zensur im Netz.
Weg von Istanbul – auch wegen der Anschläge
Seit rund zwei Jahren lebt das junge Paar in Izmir. Die Panzer und die viele Polizei auf den Straßen und Plätzen von Istanbul vermisse sie nicht, sagt die 29-Jährige. Das Gefühl von Sicherheit habe sie dadurch nie gehabt. Im Gegenteil, die Anschläge in Istanbul waren ein Grund, warum sie wegwollte.
"Es war fast, als wüssten wir nicht, was uns wann treffen könnte. Wenn ich raus auf die Straße musste, dann habe ich immer gedacht, jetzt könnte hier gleich was passieren, oder jemand könnte was deponiert haben."
Arif Iyidogan lebt noch in Istanbul. Er sitzt in seinem winzigen Büro in einer dunklen Gasse im Handwerkerviertel. Überall stehen ältere PC-Bildschirme, Tastaturen und andere Ersatzteile. Der 58-Jährige repariert Computer und kümmert sich um Software-Lösungen für kleinere Firmen. Aber am liebsten träumt er von seinem Ruhestand auf dem Land bei Izmir. Er wirft seinen eigenen Computer an, das dauert ein paar Minuten, es ist ein älteres Modell.
Auf einem Foto ist ein Grundstück mitten im Grünen zu sehen, zwei Häuser und eine Scheune. Da sollen mal Konzerte und Ausstellungen stattfinden. Am Wochenende fliegt Arif Iyidigan mit seiner Lebensgefährtin Nergil Günel runter nach Seferihisar bei Izmir. Sie wollen wissen, wie sich der Winter dort anfühlt, wo sie bald leben wollen.
Es regnet schon seit Tagen in Strömen. Während seine Lebensgefährtin mit Freunden unten Tee kocht und Selbstgebackenes unter einem Dach auspackt, läuft Arif Iyigogan im Matsch über das Gelände, die Kapuze über den Kopf gezogen.
"Es sieht so aus, als wäre das jetzt die schlechteste Zeit hier. Der viele Regen hat uns gezeigt, wie viel Schaden entstehen könnte. Aber ich denke, man kann hier auch im Winter gut leben. Wir haben einen Holzofen, wir überlegen, verschiedene umweltfreundliche Energiesysteme gemeinsam zu nutzen, wie Sonnenenergie oder Heizungspumpen."
Entschleunigung, sanfter Tourismus, regionale Produkte
Auf dem Grundstück sollen insgesamt 20 Niedrig-Energiehäuser entstehen. Dazu hat sich Arif Iyidogan mit Freunden vor Jahren zu einer Kooperative zusammengeschlossen. Es geht nur langsam voran. Zum einen wird das Geld immer wieder mal knapp. Zum anderen werden die Beschlüsse in der Kooperative einstimmig gefällt. Das ist nicht immer einfach, erzählt der studierte Physiker, der extrem gutmütig wirkt.
"Einer unserer Freunde wurde Mitglied, aber er wollte möglichst schnell hier einziehen. Er ist dann wieder ausgetreten, hat was anderes gefunden. Wie alle haben unterschiedliche Vorstellungen. Aber nur wenn wir Gemeinsamkeit finden, kommen wir einen Schritt weiter in der Kooperative."
Die ersten Häuser kommen 2020
Frühestens nächstes Jahr sollen die ersten Häuser stehen. Die Kooperative wirkt stellenweise noch etwas unorganisiert. Nach möglichen öffentlichen Zuschüssen vom Staat oder der Gemeinde haben sie sich noch nicht erkundigt. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Denn Seferihishar ist Citta Slow-Mitglied. Sie war die erste türkische Stadt der internationalen Bewegung. Die legt Wert auf Entschleunigung, Nachhaltigkeit, sanften Tourismus und regionale Produkte. Und nicht nur das, erzählt Nergis Günel.
"Die Stadtverwaltung von Seferihisar ist sehr produktiv und kreativ. Sie macht neben den Öko-Projekten auch viel für Frauen, damit die voll integriert sind. Seferihisar spielt da wirklich eine wichtige und lobenswerte Rolle. Das Beispiel müßte Schule machen. Das war ein wichtiger Grund, warum ich in die Region Izmir wollte."
In Izmir leben inzwischen über vier Millionen Menschen, es ist nach Istanbul und Ankara die drittgrößte Stadt der Türkei. Kommt man von Südosten, weiß man sofort wie die Stadt tickt. Man fährt an der Atatürk-Maske vorbei – einem über 40 Meter hohen Relief, das das Gesicht des Staatsgründers Kemal Atatürk zeigt. Izmir ist traditionell eine Hochburg der oppositionellen CHP – und eine Erdogan-Trutzburg. Beim Verfassungsreferendum vor knapp zwei Jahren hatten sie Erdogans Präsidialsystem eine klare Absage erteilt. Ein klassisches Anarchisten-Viertel, wie man es aus anderen Großstädten kennt, das findet man hier aber nicht. "Ganz Izmir ist Anarcho", sagt einer, der in der Stadt geboren ist. Dabei lacht er verschmitzt. Izmir setzt auf ein modernes Image.
Pionierin bei der Feuerwehr
Dazu paßt Ilknur Uygun. Die 33-Jährige arbeitet seit zehn Jahren bei der Feuerwehr. Sie war damals eine der ersten Frauen überhaupt in diesem Job. Anfangs sei es nicht leicht gewesen. Sie erinnert sich an eine Situation zum Schichtende mit einem nachfolgenden Kollegen.
"Bei der Übergabe hat er mich lauter komisches Zeug gefragt: Wo ist dies, wo ist das? Ich habe versucht, alles brav zu beantworten. Aber der wollte mich testen und Druck ausüben. Da hab‘ ich mich gewehrt und ihm klar gemacht, dass ich mir das nicht gefallen lasse und nicht antworten muß. Danach war Ruhe."
Es ist Büroarbeit angesagt. Sie sitzt mit einer roten Fleecejacke am Schreibtisch und telefoniert, die dunkelblonden Haare zu einem Zopf gebunden. Daneben ihre Kollegin Pelin Parlak. Die 26-Jährige ist später zur Feuerwehr gekommen. Jetzt ist sie in Uyguns Team – einem reinen Frauen-Feuerwehr Team, das sie erst vor kurzem aufgebaut hat. Auch Pelin Parlak hatte anfangs so ihre Schwierigkeiten.
"Man mußte zum Beispiel erstmal lernen, mit dem rauen Ton umzugehen und der schroffen Art. Aber die Männer haben sich dann an uns gewöhnt, das mußten sie einfach, weil wir ja zusammen arbeiten."
Der Chef der beiden, Ismail Derse, kann das nur bestätigen, vor allem mit Blick auf Ilknur Uygun.
"Man mußte zum Beispiel erstmal lernen, mit dem rauen Ton umzugehen und der schroffen Art. Aber die Männer haben sich dann an uns gewöhnt, das mußten sie einfach, weil wir ja zusammen arbeiten."
Der Chef der beiden, Ismail Derse, kann das nur bestätigen, vor allem mit Blick auf Ilknur Uygun.
"Sie hat eine gewisse Disziplin in unser Team mitgebracht, so eine Art Sprachdisziplin. Denn in so einer Männerdomäne ist ein bestimmter Slang ziemlich verbreitet. Den haben wir weitgehend abgelegt. Das war der erste positive Effekt."
"Da musst Du jetzt durch"
Die 33-Jährige hört das mit Genugtuung. Ihr Chef respektiert sie, und nicht nur er. Wenn sie durch die Gänge der Leitzentrale läuft, klopfen ihr die Kollegen kameradschaftlich und anerkennend auf die Schulter. Ilknur Uygun ist ehrgeizig, hat sich diesen Status hart erkämpft. Sie hat eine sportliche Figur, trainiert ihre Fitness. Und trotzdem verlangen ihr manche Einsätze körperlich alles ab.
"Manchmal hat man zum Beispiel mit der schweren Uniform zu kämpfen, wenn man einen Hügel hochrennt. Der Körper ist das nicht gewohnt. Aber man schafft es mit letzter Kraft, die ja immer da ist, wenn man weiß, es muß gehen. Du hast keine andere Wahl. Solche Einsätze gab es immer wieder, wo ich dachte, da mußt Du jetzt durch, manchmal auch mit Tränen in den Augen. Die hab‘ ich natürlich versucht, nicht zu zeigen. Manche Momente sind einfach hart."
Ein Notruf ist reingekommen, ein Brand. Ilknur Uygun rennt mit Kollegen auf den Hof. Sie brausen davon. Pelin Parlak bleibt an ihrem Schreibtisch sitzen. Die 26-Jährige ist schwanger und darf nicht mehr zu Einsätzen. Und auch wenn das Baby da ist, kann sie nicht sofort wieder voll loslegen.
"Im Moment fühle ich mich ausgebremst. Das nervt. Rein rechtlich darf ich nach der Geburt zwei Jahre nicht im Nachtdienst arbeiten wegen des seelischen Wohls des Kindes. Aber nach diesen zwei Jahren will ich wieder zurück ins Einsatzteam. Büroarbeit mit Akten und so... das ist nichts für mich."
Etwas später kommt Ilknur Uygun vom Einsatz zurück. Dass sich einer von einer Feuerwehrfrau nicht helfen lassen wollte, hat sie noch nie erlebt.
"In den Uniformen erkennt man das ja nicht. Es ist dann schon spannend zu sehen, wie die Menschen dann reagieren, wenn sie es merken. Kinder, die uns zuvor an der Hose zupfen und ´Abi` rufen, also ´hey, großer Bruder`, die staunen, wenn wir den Helm abgelegt haben und sagen dann ´oh Abl` also ´große Schwester`."
Ihr eigenes Frauenteam kommt zum Beispiel bei Erdbeben zum Einsatz. Da lassen sich manche Frauen lieber von Frauen helfen. Auch Ilknur Uygun ist stolz, auf das, was sie bisher als Frau bei der Feuerwehr in Izmir erreicht hat. Gut fünfzig Kolleginnen hat sie inzwischen. Dem stehen allerdings weit über eintausend Männer gegenüber. Trotzdem ist das besser als in anderen türkischen Städten.
Auf dem Baugrundstück in Sefirhisar trinken sie inzwischen unter einem Dach Tee und essen Baklava. Es regnet immer noch. Trotzdem wirkt es irgendwie gemütlich. Ein Straßenhund geht von Hand zu Hand und holt sich Streicheeinheiten ab. Er hat noch keinen Namen, gehört aber irgendwie schon dazu. Wer welchen Bauplatz bekommt, soll ausgelost werden.
Nergis Günel schaut zu ihrem Lieblingsplatz hoch und träumt. Dann legt sich ein kleiner Schatten auf das gezeichnete Gesicht der 46-Jährigen. So ganz leicht wird es ihr nicht fallen, die Metropole Istanbul hinter sich zu lassen.
"Ich liebe Istanbul. Obwohl wir uns jeden Tag über den Verkehr und diese Menschenmassen in der Stadt beschweren, liebe ich Istanbul. Istanbul wird irgendwo immer bleiben."
Der Traum von einem entspannteren Leben
Sie schaut ihren Lebensgefährten an. Er wird dann in Rente sein. Das Job-Problem fällt damit weg. Anderen macht das hier sehr zu schaffen. So richtig kann sich Nergis Günel noch nicht vorstellen, wie sich Alltag hier auf dem Land anfühlen wird. Vor allem für ihre beiden Kinder verspricht sie sich ein entspannteres Leben, aber auch für sich selbst.
"Ich liebe auch diesen Ort hier sehr, vor allem die Menschen, denn hier kann man so sein wie man ist. Keiner schreibt dir vor, was du zu tun hast. Und das ist das Wichtigste für mich, zu sein wie ich bin."
Atilgan Ugrel genießt es, Zeit zu haben für seinen Kaffee hier in seiner neuen Heimatstadt. Früher war er viel unterwegs. Denn bevor er Simultandolmetscher wurde, war er 25 Jahre lang Reiseleiter. Da hat er das Land sehr gut kennengelernt.
"Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo in Zentralanatolien oder Ostanatolien oder an der Schwarzmeerküste zu leben. Nicht, dass es mir dort landschaftlich nicht gefallen würde – es gibt wirklich sehr, sehr schöne Flecken, vor allem am Schwarzen Meer –, aber das soziale Umfeld muss natürlich auch zu einem passen. Und das sind Gebiete, in denen man wirklich noch sehr konservativ lebt, teilweise sehr orientalisch. Wenn das nicht Ihr Lebensstil ist, dann ist das schwer, zu vereinbaren. Wer die Türkei kennt, der weiß, da gibt es sehr große Unterschiede."
Izmir wollte nie Kulturstadt werden
Der 53-Jährige wählt seine Worte sehr bedacht, er ist ein ausgesprochen höflicher zurückhaltender Mensch. Nur ganz am Anfang haben er und seine Frau gezweifelt, ob der Umzug die richtige Entscheidung war. Die Sommer sind fast unerträglich heiß, erzählt er, und das kulturelle Leben nicht grade üppig.
"Unsere Freunde aus Izmir haben uns gesagt: das war schon immer so. Da gibt es so eine Oberflächlichkeit in Izmir. Man begnügt sich einfach mit dem Ausgehen, mit dem guten Essen, mit dem guten Gespräch und mehr möchte man auch nicht. Es gab also auch nie den Anspruch, hier in Izmir eine Kulturstadt zu werden."
Anfangs hatten sie allerdings noch keine Freunde. Außer den Schwiegereltern kannten sie niemanden. Sie fanden dann aber doch schnell Anschluß.
Anfangs hatten sie allerdings noch keine Freunde. Außer den Schwiegereltern kannten sie niemanden. Sie fanden dann aber doch schnell Anschluß.
"Beim Einkaufen in der Stadt oder auf dem Marktplatz, oder man kommt ins Gespräch irgendwo in einem Caféhaus – so lernt man Menschen kennen. Und da ist es ein großes Plus in Izmir, dass die Leute wirklich sehr zugänglich, sehr weltoffen sind. Und das hat uns an Izmir immer sehr imponiert. Wir haben hier zum Beispiel einen Typ Menschen kennengelernt, den wir so noch aus unserer Kindheit in Erinnerung hatten: hilfsbereit, mit großer Gastfreundschaft. Das gab es früher in Istanbul. Heute nicht mehr."
Auch bei Ece, der jungen Frau mit den schwarzen Korkenzieherlocken, schneiden die Istanbuler im Vergleich schlechter ab.
"Wenn ich hier zum Beispiel im Bus belästigt werden würde, weiß ich, dass mir die Menschen drumrum helfen würden. Sie würden nicht sagen, hätte sie sich nicht so angezogen, oder was hatte sie denn um die Zeit noch draußen verloren. Denn die Frauen und Männer sind hier aufmerksamer, so dass sich die Frauen sicher fühlen."
"Ich habe mich in Berlin verliebt"
Und trotzdem träumen sie und ihr Mann Sevket von einem anderen Leben – in Deutschland. Die ersten Deutsch-Stunden haben sie schon hinter sich.
"Wir haben den Sprachkurs bewusst gewählt. Ich wollte eigentlich Französisch lernen. Aber dann haben wir uns gedacht, wenn wir schon den Plan haben und Geld ausgeben, dann für Deutsch-Unterricht. Ich muß sagen, ich habe mich echt in Berlin verliebt."
Sevket schüttelt sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. Dann schenkt er den anderen und sich Raki-Schnaps und Wasser nach.
"Wir sind nicht aus der Uni geflogen, haben keine Ermittlungen oder ein Verfahren gegen uns laufen. Wir wollen ein positives Bild der Türkei abgeben. Und wenn wir nach Deutschland gehen, haben wir auch die Möglichkeit, anders auf die Weltpolitik zu schauen und unsere Träume zu verwirklichen."
Izmir nicht nur als Zwischenstation
Für Atilgan Ugrel dagegen ist Izmir keine Zwischenstation. Nach den unterschiedlichen Stationen in seinem Leben scheint der gebürtige Kölner angekommen – hier an der Ägäis. Istanbul vermißt er immer weniger, wenn überhaupt, dann seine Eltern und eine Schwester, die noch dort leben, und ein paar Freunde. Aber die werden weniger.
"Mittlerweile ist es so, dass wir jetzt auch viele Freunde haben. Aus unserem ehemaligen Freundeskreis aus Istanbul, die auch in diese Region gezogen sind. Die in einer ähnlichen Situation waren wie wir und die uns irgendwann einmal besucht hatten. Denen hat es so gut gefallen, dass sie sich hier niedergelassen haben."
Mittlerweile ist es Mittag. Auf der Promenade sind jetzt mehr Spaziergänger unterwegs. Ältere Männer sitzen beim Tee auf der Ufer-Mauer. Der eine oder andere Fahrradfahrer saust über den blau gestrichenen Radweg am Meer entlang. Aber auf den Straßen ist immer noch kein Stau. Atilgan Ugral schlüpft wieder in seinen dicken Motorradanzug... dann tuckert er gemütlich davon.