Karl Marx - hochaktuell und missverstanden
Was kann uns Karl Marx 25 Jahre nach dem Mauerfall noch sagen? Jede Menge, meint der Berliner Marx-Kenner Andreas Arndt. Und er verrät, warum der Philosoph so kolossal missverstanden wurde.
Dieter Kassel: Heute ist der Welttag der Philosophie. Und da dieser Tag zufällig genau 25 Jahre und elf Tage nach dem Anfang vom Ende der DDR begangen wird – wir erinnern uns ja alle noch an die großen Gedenkfeiern vom vorletzten Wochenende – da das nun zufällig so ist, nehmen wir diesen Tag zum Anlass, um nicht über irgendeinen Philosophen oder irgendeine Entwicklung zu reden, sondern über einen gewissen Karl Marx. Und wir tun das mit Professor Andreas Arndt, er ist Professor für Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Schönen guten Morgen, Professor Arndt!
Andreas Arndt: Guten Morgen!
Kassel: Gehen wir doch mit diesem Datum oder mit diesem heutigen Bezug auf dieses Datum. Verstehen Sie Marx heute anders als vor ziemlich genau 25 Jahren?
Arndt: Mit Sicherheit. Aber das liegt nicht an den politischen Ereignissen von vor 25 Jahren, sondern das liegt daran, dass nachher natürlich seither sich die ganze Forschung weiterentwickelt hat.
Es läuft ja, wie Sie wahrscheinlich wissen, die große Marx-Engels-Gesamtausgabe, dort sind wichtige neue Texte erschienen. Inzwischen ist zum Beispiel "Das Kapital" samt Vorarbeiten komplett erschienen in dieser kritischen Edition und man kann jetzt sehr genau unterscheiden zwischen den posthum von Friedrich Engels durchgeführten Redaktionsarbeiten, die natürlich hoch intelligent sind, das muss man wirklich sagen, aber der Bestand der Marxschen Manuskripte zeigt eben ein unfertiges Werk, ein Werk "in progress". Und das gibt dann schon im Einzelnen ganz andere Aspekte.
Kassel: Angesichts dieser neuen Gesamtausgabe stellt sich natürlich einfach die Frage: Wer will das heute noch wissen? Wie ist es denn bei Ihnen mit Ihren Studenten? Da sind ja vom Alter her Menschen dabei, die kennen keine Vorwendezeit, keinen real existierenden Sozialismus mehr aus eigener Erfahrung. Was interessiert die heute an Marx?
Das Interesse an Marx war eigentlich immer da
Arndt: Also, das Interesse ist eigentlich da und das war eigentlich immer da. Ich habe zum Beispiel vor 25 Jahren an der Freien Universität Berlin damals eine Vorlesung gemacht über Marx, also genau zu dem Zeitpunkt, als die DDR sozusagen sich aus der Staatenwelt verabschiedete. Und es kamen dann auch sehr viele aus dem damaligen Ostberlin, um einfach zu hören, ja, was wird im Westen so über Marx gedacht.
Und dann gab es natürlich eine Zeit, wo Marx eher nicht opportun war, also gar nicht von mir aus, aber es war auch das studentische Interesse dann nicht da. Und dann sozusagen mit den ersten Krisenerscheinungen kam das wieder. Und ich habe zum Beispiel ein Seminar mal gemacht über den dritten Band des "Kapital", in dem ja auch über die Finanzkrise sehr viel steht, wenn man es richtig liest.
Das wurde von den Studenten dann auch in der beginnenden Finanzkrise so richtig aktualisiert. Sie kamen dann immer mit Zeitungsausschnitten an aus dem "Handelsblatt" oder aus "Tagesspiegel", aus dem Wirtschaftsteil, und sagten, also, hier, passt das nicht, ist es nicht das, was Marx meint und so.
Da gibt es durchaus schon ein großes Interesse, das ist ja eigentlich auch vor zwei Jahren noch mal unterstrichen worden: Es fand an der Humboldt-Universität eben ein großer internationaler Marx-Kongress statt, organisiert von der Kollegin Rahel Jaeggi, und das war da so voll, dass die Leute auch teilweise gar nicht mehr Platz fanden in den Hörsälen. Also, es war schon sehr starker Zulauf und das war eher die junge Generation. Das war nur zum, ja, ich weiß nicht, 20 Prozent vielleicht Altlinke und der Rest waren also junge Leute, die sich dafür interessierten.
Kassel: Ihre Studenten kamen zu Ihnen mit Ausschnitten aus dem "Handelsblatt" und wollten das sozusagen mit der philosophischen Theorie erklärt haben. Konnten Sie denen ernsthaft dann auch sagen, ja, das mit den Lehman Brothers, davor hat uns Marx eigentlich schon gewarnt?
Zu den Grundlagen der internationalen Finanzkrise hat Marx jede Menge zu sagen
Arndt: Na ja, ob er in dieser Form davor gewarnt hat ... Ich meine, die Finanzkrise, das hängt ja nun auch so mit ganz bestimmten finanzpolitischen Entscheidungen zusammen, also das Bretton-Woods-Abkommen, was außer Kraft gesetzt wurde ... Aber die Grundlagen dieser Prozesse, natürlich, dazu hätte Marx etwas zu sagen, und wenn es nur die simple Einsicht ist, die man ja offensichtlich doch wiederholen muss und einigen Leuten einbläuen muss, dass also Geld tatsächlich nicht Geld heckt, wie Marx gesagt hätte.
Also, Geld vermehrt sich nicht von alleine, das sind andere Prozesse. Und Marx hat ja versucht, diese Prozesse aufzudecken. Und diese dann verselbständigte Finanzwirtschaft geht ja davon aus, dass sie sich weitgehend abkoppeln kann von der sogenannten Realwirtschaft und dass dort also irgendwelche Gewinne eingefahren werden können, die nichts zu tun haben mit dem Produktionsbereich im klassischen Sinne.
Und ich glaube, über diesen Irrtum hätte Marx schon belehren können, und er hat ja auch teilweise eben diese Verselbständigungstendenzen sehr klar gesehen und analysiert. Im dritten Band des "Kapital" findet sich dazu einiges. Und insofern, viele der Beispiele, die Studenten brachten, die passten tatsächlich.
Kassel: Ganz praktisch zum Schluss, historisch gesehen und auch heute: Wer in Ihren Augen missversteht Marx häufiger und heftiger? Die Linken oder die Konservativen?
Arndt: Ich glaube, sie missverstehen ihn beide. Denn die Konservativen, wenn ich das mal so dreist sagen darf, wiederholen ja oft nur die Missverständnisse der Linken, nur dass sie dann eine andere Bewertung draufsetzen.
Im Mittelpunkt steht bei Marx die individuelle Freiheit - das hat bis jetzt kaum jemand verstanden
Ich würde sagen, das größte Missverständnis, was Marx erlitten hat, ist, dass nicht gesehen wurde, dass die Intention seiner ganzen Unternehmung darauf hinauslief, unter den Bedingungen der Moderne die Möglichkeit einer alternativen Gesellschaft zu denken. Unter den Bedingungen der Moderne, das heißt also im Wesentlichen auch, fokussiert auf individuelle Freiheit. Und das steht schon eigentlich im "Kommunistischen Manifest".
Ich hatte neulich ein Gespräch mit einem ehemaligen DDR-Bürger, der mir sagte, na, wir haben das eigentlich immer falsch gelesen, dass die Freiheit des Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist. Und sie haben also immer das umgekehrt verstanden, das Kollektiv und dann auch der Einzelne. Nein, es ist umgekehrt bei Marx, es steht bei ihm eben auch die individuelle Freiheit im Mittelpunkt.
Und man kann das auch an anderen Punkten aufzeigen, also, zum Beispiel eine Kategorie, eine ökonomische Kategorie, in der sich Marx sozusagen etwas zurechtgelegt hat auch für eine alternative Gesellschaftsordnung, sagen wir, eine postkapitalistische, heißt: individuelles Eigentum. Also, er sagte, in einer postkapitalistischen Gesellschaft hat der Arbeiter ein individuelles Eigentum an dem Produkt seiner Arbeit. Das wurde immer dramatisch missverstanden, das wurde sozusagen immer als Konsumgüter bezogen. Also, jeder Arbeiter hat seine Zahnbürste oder vielleicht auch seinen Kühlschrank, sein Auto oder irgendwelche Konsumartikel, das ist aber gar nicht gemeint.
Es ist offensichtlich gemeint, dass generell ein solches individuelles Recht besteht, und das kann eigentlich nur bedeuten, dass man dann eben auch in der Wirtschaft und der Organisation der Wirtschaft eben demokratische Prozesse installieren muss, wo der Einzelne dann genau dieses Eigentumsrecht ausüben kann, das heißt, mitbestimmen kann, was wird produziert, wie wird produziert, wie wird das verteilt und so weiter. Eine Kategorie, die niemand ernst genommen hat.
Es gibt eine einzige Ausnahme, André Brie, damals PDS, hat in einer Publikation ziemlich kurz nach der Wende mal gesagt, ja, eigentlich daran hätten wir alles ausrichten müssen, an solchen Äußerungen. Das ist eine späte Erkenntnis oder zu späte Erkenntnis gewesen, aber es hat auch seither wenig Aufmerksamkeit gefunden in der Diskussion. Also, da gibt es schon Punkte.
Kassel: Da gibt es vor allen Dingen eine ganze Menge Dinge, das würde ich jetzt sagen nach unserem Gespräch, über die man noch mal neu, anders und intensiv nachdenken kann, nicht ohne die Notwendigkeit, auch etwas vielleicht mal nachzulesen bei Karl Marx.
Wir haben diese Gedankenanregungen jetzt Ihnen gegeben und Sie können die gerne weiterführen, heute ist der richtige Tag dafür, denn heute ist ja der Welttag der Philosophie. Und deshalb haben wir mit Andreas Arndt, Professor für Philosophie an der Berliner Humboldt-Uni, heute über Karl Marx gesprochen. Herr Arndt, vielen Dank!
Arndt: Ich danke für das Gespräch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.