Mit einer Mooswand gegen den Feinstaub
Seit Jahren überschreitet Stuttgart die Feinstaub-Grenzwerte massiv. Nun will ein weltweit einmaliger Test herausfinden, ob eine Wand mit Moos die Schadstoffe reduzieren kann. Doch es gibt heftige Kritik daran, dass dafür eine halbe Million Euro ausgegeben wurde, damit die Stadt autogerecht bleiben kann.
Kleine grün-graue, rasenähnliche Stücke liegen im und um das Waschbecken herum, ein Fleckchen liegt unter dem Mikroskop, auf dem Computer-Bildschirm ist eine hundertfache Vergrößerung zu sehen. Es sind Moose, Landpflanzen.
Die Welt von Martin Nebel ist ein einziges Moos-Biotop. Jahrzehntelang hat der promovierte Biologe in einem kleinen Büro des Stuttgarter Naturkundemuseums gearbeitet, so oft es die Zeit zuließ auch geforscht. Nebel spricht von seinen Moosen:
"Moose sind sehr klein, aber sie haben eine besondere Fähigkeit. Und zwar nehmen sie im Gegensatz zu Blütenpflanzen die Nährstoffe und Wasser direkt über die ganze Oberfläche auf, sie haben keine Wurzeln, womit sie aus dem Boden das Wasser und die Nährstoffe holen könnten, sondern sie nehmen immer, wenn es regnet auf, und alles, was sich auf diesen Blättern absammelt, das wird über die Moose direkt aufgenommen."
Der Biologe ist mittlerweile im Ruhestand. Bei der Suche nach Lösungen, die die dramatisch schlechte Luftqualität in Stuttgart verbessern könnte, stieß man vor Jahren schon auf die Arbeit des Wissenschaftlers. Schon lange beschäftigt er sich mit der Frage: Können Moose Schadstoffe aufnehmen, Feinstaub aus der Luft filtern?
Die EU schreibt Grenzwerte vor, Stuttgart überschreitet seit Jahren alle Werte um das Mehrfache. Auch die mittlerweile regelmäßig ausgerufenen Feinstaubalarme zeigen nur wenig Effekt; für das kommende Jahr sind Fahrverbote in der Stadt geplant.
Anfang März startete ein bislang weltweit einmaliger Versuch. In der Stuttgarter Innenstadt wird bis Ende dieses Jahres getestet, ob Moose den Feinstaub in der Stadt reduzieren können.
Natürlich begleitet Martin Nebel dieses Experiment. An diesem Morgen ist er unterwegs zur legendären Mooswand.
"Eine Mooswand, die so stark und so gut wissenschaftlich begleitet wird, ist weltweit einmalig."
Zwei Welten werden durch eine dicke Schallschutzwand getrennt. Auf der einen Seite der untere Schlossgarten, ein gepflegter Park mit Seen, einem Bächlein, Enten laufen über saftgrüne Wiesen.
Auf der anderen Seite, trotz dicker Mauer immer noch deutlich hörbar: Stuttgarts berüchtigte Cannstatter Straße. Stündlich fahren auf sechs Fahrspuren tausende Autos und Lastwagen stadtein- oder stadtauswärts. Richtung Norden geht es in die Vororte. Die Strecke führt auch ins Mittlere Neckartal vor den Toren Stuttgarts. Die Region gilt europaweit als industrieller Hochofen. Unternehmen wie Daimler haben dort ihre Konzernzentrale und Produktionsstätten, viele Pendler und Schichtarbeiter fahren zu ihren Arbeitsplätzen einmal durch den Stuttgarter Talkessel.
Etwas versteckt findet sich eine Tür. Die Tür führt vom unteren Schlossgarten direkt an den Rand der Straße. Martin Nebel wird von der Biologin Sonja Thiele begleitet, seine Nachfolgerin im Naturkundemuseum.
Feinstaub auf der Zunge
Die beiden öffnen die Tür, für einen Augenblick ist es, als trete man vom Paradies in die Hölle.
"Wir kommen jetzt an die Straße, sehr dicht befahren, viele LKWs, und was Sie jetzt schon merken, ist der dauernde Luftzug."
Die Haare stehen nach oben, die Jacken flattern. Eigentlich ist es heute windstill, selten weht im Stuttgarter Talkessel überhaupt einmal ein kräftiger Wind. Neben anderen Gründen tragen die speziellen Wetterverhältnisse auch zu der hohen Feinstaubbelastung in Stuttgart bei. Der starke Luftzug am Straßenrand kommt in diesem Fall von den vorbeifahrenden Autos und Lastwagen. Tatsächlich glaubt man den Feinstaub regelrecht in der Nase oder auf der Zunge zu spüren. Etwa 1000 Meter von hier entfernt, liegt das sogenannte Neckartor, aufgrund von Schadstoffmessungen als Deutschlands dreckigste Kreuzung bekannt. Martin Nebel bleibt vor einem großen, kurvigen Gebilde stehen:
"Das ist jetzt die Mooswand: Drei Meter hoch, knapp einhundert Meter lang, von oben bis unten mit Moosmatten bedeckt, mehr oder weniger senkrecht die Wand. Davor sehen wir, ist ein Netz gespannt, das dient der Verschattung, damit die Moose nicht so schnell austrocknen."
Eingestreut in die Mooswand sind kleine Düsen, morgens und abends wird die Wand bewässert.
"Weil wir sehen, sie können auch gleich noch einmal drauffassen, die Moose sind schon ganz trocken. Hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir eine ungünstige Exponierung haben, hier scheint halt die ganze Zeit die Sonne drauf."
Und es hat schon länger nicht mehr in Stuttgart geregnet. Tatsächlich fühlt sich das Moos ein wenig wie vertrocknetes Gestrüpp an, noch feuchte Stellen sind dagegen weich, lassen sich leicht drücken. In diesem Zustand können die Moose wachsen, erklärt Nebel:
"Und wir wollen ja, dass die Moose nicht nur Feinstaub aufnehmen, wir hoffen ja auch, dass die, und das ist ja nachgewiesen, dass die auch NOx und Kohlendioxid aufnehmen, aber wenn sie nicht wachsen, dann brauchen sie die Stoffe nicht, für ihren Stoffwechsel und dann nehmen sie sie auch nicht auf, das ist unser Hauptproblem."
Biologe Nebel sprüht Wasser auf eine Stelle und geht sehr nah an die Wand:
"Wir sehen, das geht auch sehr schnell auf, wenn wir das ansprühen, das machen viele Moose so, dass, wenn der Regen kommt, schnell das Wasser aufnehmen müssen, weil die Zeit ist kostbar, in diesem Moment wachsen die, die Photosynthese geht los, Atmung geht los."
Jede Woche nimmt Biologin Sonja Thielen Proben:
"Von verschiedenen Stellen, verschiedenen Expositionen, aus verschiedenen Höhen, vom Boden, ungefähr 50 Zentimeter Höhe, dann noch so in einem Meter fünfzig."
Die Proben werden im Naturkundemuseum untersucht, bislang liegen noch keine Ergebnisse vor.
"Wir sammeln jetzt die entsprechenden Daten und werten die aus. Zusammen mit den Messtechnikern von der Universität Stuttgart wird dann am Schluss zusammengerechnet, und dann festgestellt: Funktioniert es oder funktioniert es nicht?"
Nebel betont, Mooswände könnten Teil eines Konzepts werden, um die Luft in Städten zu verbessern. Für sich allein seien sie nicht die Lösung für die Folgen des Straßenverkehrs in Innenstädten.
Feinstaubproblem in Stuttgart hausgemacht?
Rund 700 Demonstranten legten Ende März nicht weit von der Mooswand entfernt, den Verkehr in der Stuttgarter Innenstadt lahm.
Eine zentrale Forderung der Teilnehmer ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und weniger Autos in der Innenstadt.
Die Stuttgarter Ärztin Angelika Linckh warnte auf einer Kundgebung vor schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden durch Luftschadstoffe, besonders Feinstaub und Stickoxide schadeten den Menschen.
"Studien gehen von rund 73. 000 vorzeitigen Todesfällen im Jahr durch Luftverschmutzung in Deutschland aus."
Linckh ging die Grünen in Baden-Württemberg scharf an. Mit der Mooswand habe die Stadt eine typische grüne Idee umgesetzt:
"Eine mehr als 500. 000 Euro teure Mooswand, die bewässert werden muss und einen Sonnenschutz braucht, also richtig schön, kontinuierlich unser aller Geld in die Taschen Einzelner befördert, damit die autogerechte Stadt, autogerecht bleiben kann…"
Neue Mobilitätskonzepte müssten her, so eine Forderung der Ärztin:
"Viel für Radler wurde in den letzten Jahren in Paris und London, in New York und ganz zu schweigen von Amsterdam und Kopenhagen, und Stuttgart: viele Worte, wenig Verbindlichkeit. Wir erleben tagtäglich, wie wir ausgerechnet unter einer grünen Landesregierung und einer grünen Stadtspitze, als Radfahrerinnen und Fußgänger in Stuttgart immer schlechtere Bedingungen bekommen."
Auch Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, trat als Gastredner auf. Stuttgart, sagte er, überschreite im zwölften Jahr die Feinstaubgrenzwerte, im siebten Jahr die für Stickstoffdioxid. Bereits im März seien die zulässigen 35 Tage mit überhöhten Werten für Feinstaub überschritten.
Das Feinstaubproblem in Stuttgart sei hausgemacht, betonte Resch. Und fragte, wie es sein könne, dass ausgerechnet im reichen Stuttgart, mit Daimler, Porsche und Bosch, Sitz dreier Weltkonzerne, die Stadt eine derartig schlechte Luft habe.
"Wie kann es sein, angesichts der höchsten Dichte neuester Euro-5-, vor allem Euro-6-Diesel-Fahrzeuge aus überwiegend heimischer Produktion? Die Antwort lautet: Vielleicht gerade deswegen."
Seit Herbst 2014 erhalten Neuwagen europaweit nur noch eine Typgenehmigung, wenn sie lediglich 80 Milligramm Stickoxide pro Kilometer ausstoßen, das ist halb so viel wie nach der bisherigen Euro-5-Regelung. Allerdings stellte die Deutsche Umwelthilfe in einem aktuellen Winter-Abgastests fest: zahlreiche Euro-6-Diesel Modelle überschreiten die Stickoxid-Grenzwerte um das über 17-fache.
Geht es nach Resch, sollte ab 2018 ein generelles Fahrverbot für Fahrzeuge gelten, die Grenzwerte nicht einhalten. Das seien derzeit 98 bis 99 Prozent der zugelassenen Euro-6-Fahrzeuge.
Inspiration durch die schwäbische Kehrwoche
Vor allem die Grünen in Baden-Württemberg stehen wieder einmal vor einem fast unlösbaren Dilemma. Weniger Autos seien natürlich besser als mehr. Das sagte der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann 2011, noch neu im Amt, den Autobauern. Die Absatzzahlen sowohl von Porsche als auch von Daimler sind seitdem weiter kontinuierlich gestiegen. Kretschmann vollzog derweil eine regelrechte Wandlung. In seiner zweiten Amtszeit, mittlerweile mit der CDU in der Regierungsverantwortung, klingt er mittlerweile wie ein Ungläubiger, der wieder den Glauben gefunden hat:
"Ich konnte mich heute einfach überzeugen: Es gibt den sauberen Diesel. Den gibt es tatsächlich und er wird kommen."
So Kretschmann nach einer Probefahrt mit einem Mercedes, der schon heute mit neuester Dieseltechnik läuft. Am Rande des Daimler-Testgeländes betonte der grüne Regierungschef, man brauche den Diesel noch als Übergang zur Elektromobilität, auch hingen Tausende Arbeitsplätze im Land an dieser Technik.
Bis Mai soll feststehen, ob ältere Dieselfahrzeuge schadstoffärmer gemacht werden könnten. Möglicherweise werden dann noch einmal die Beschlüsse für das Diesel-Fahrverbot ab 2018 angepasst. Kurz zuvor hatte die Industrie- und Handelskammer Ausnahmen vom Diesel-Fahrverbot für Betriebe gefordert. Rund 8000 IHK Betriebe seien bald von dem Verbot betroffen.
In der wirtschaftsstarken Region Stuttgart werden sich natürlich die Unternehmen durchsetzen. Der jüngste Luftreinhalteplan für Stuttgart sieht ausdrücklich Ausnahmen für Liefer- und Handwerksbetriebe vor.
Derweil überlegt man sich in Stuttgart, was sonst noch helfen könnte. Dabei muss die schwäbische Kehrwoche inspirierend gewirkt haben. Zurzeit werden in einem Versuch nachts die Straßen von Feinstaub gereinigt. Die Stadt ist an dem Projekt beteiligt, ebenso Reinigungsfirmen und der Dienstleister Dekra bei der Vorstellung der Reinigungsfahrzeuge, sagte der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn:
"Das, was wir hier kehren und saugen, das betrifft das Thema Feinstaub. Ich freue mich wirklich um jedes Mikrogramm Feinstaub, das wir reduzieren können und um jeden Tag, der nicht überschritten wird."
Der ursprünglich bis Ende März geplante Putz- und Saugversuch wurde bis Ostern verlängert. Tatsächlich wurden die Grenzwerte während der vergangenen Alarmtage nicht überschritten. Sind es die nächtlichen Reinigungsaktionen? Sind mehr Pendler vielleicht auf die Bahn umgestiegen? Von der Mooswand bis zur Putzoffensive, Stuttgart wird in den kommenden Monaten sicher erste Ergebnisse liefern, die auch anderen Städten dabei helfen können, die Luftqualität schon bald zu verbessern.